Kaum steht die Sonne über dem Horizont, grüßt mich ein rätselhaftes Rad, eine metallische Skulptur, die an eine Sonne erinnert, deren Strahlen nach innen weisen . Es ist nur die riesige Gußform eines speziellen Getriebes. Ein technisches Denkmal, das wie das Emblem eines heliozentrischen Sonnenkultes auf der Verkehrsinsel steht..
Mein schlichtes Zahnradgetriebe treibt mich mit seiner Kette voran. Es ist ein recht kühler Ostersamstag, die Wolken und das milde Klima hat ein recht scharfer Nordost fortgeblasen. Er treibt mich nach Süden über die Hügel in die große Rheinebene. Ein leichter Start. Von meinem Idyll aus nähere ich mich heute großen technischen Stätten und sozialen Utopien der Moderne. Ein Besuch am Wendepunkt, am Schnittpunkt von Neckar und Rhein.
Mein blauer Eisvogel überquert die Lahn. Heute werde wir lange Geraden abspulen, im Unterlenker gegen den Wind arbeiten. Der große Stern wird meinen Schatten zeichnen. Letzte Woche waren es Hügel, Steigungen und Abfahrten (und Graupelschauer) mit dem Eisvogel, jetzt werden die Ebenen zeigen, wie gut wir harmonieren. Es gibt kein ideales Rad, es gibt eine kleine Bandbreite, in die sich der Körper einpaßt und stundenlang rollen kann.
Wir durchstreifen bukolische Schafsweiden. Nach dem goldenen Grund bei Camberg warten die letzten Wellen des Vordertaunus, hinter Heftrich die Senke von Neuhofen, dann der letzte Anstieg
vor den Obstgärten von Igstadt. Die Ebene liegt weit vor mir, erste Silhouetten von landenden Flugzeugen sind auszumachen. Fast ein Jahr hatten sie Pause – wieviel davon könnte man recyclen? Es gab ein Zeitalter der Ozeanriesen, vielleicht auch eines der Urlaubsflugzeuge? Ich höre einen gewaltigen Männerbaß, der über die Felder schmettert, während sein Hund vorausläuft und Fährten sucht.

In Mainz wartet das große blaue Band – schon sind drei Stunden herum, der Wind ist gnädig, wie man an der Rauchfahne erkennt.
Die Blütentupfer werden immer häufiger, die Sonne wärmt etwas mehr – bald werde ich den Weißdorn riechen. Ein sehr sanfter, honigartiger Geruch der Insekten völlig betrunken machen muß. Rheinhessen ist ein großes Sonnenbecken.
Der Eisvogel hat leichtes Spiel, ich gebe ihm die Sporen
Noch ein paar Laubengärten und Weinberge, alles wendet sich dem Himmel zu.
Hinter Guntersblum.
Dann naht die Rekordstrecke – das weiße Band nach Worms. Auf meinem Hinterrad habe ich eine 7fach Kassette montiert, mein Kettengetriebe hat 3×7 Übersetzungen, die von 14 bis 28 reichen. Damit endet die Kassette einen zahn über dem potenten 13er, aber wie sagte schon Jan Janssen: es wurden viele Sprints auf dem 14er gewonnen. Hier hilft es, die Stufungen der mittleren Ritzel enger zu halten, eine harmonischere Entfaltung ist möglich…
Auf der langen Chaussee nach Worms gehe ich in den Unterlenker, der Fahrgang mit 18 reicht bald nicht mehr aus, sobald ich lang genug in der hohen Frequenz bin gehe ich auf 16. Die Beine gewöhnen sich an die Mehrlast, passen sich an, langsam und gleichmäßig werden sie sogar schneller.
Noch ein dutzend Kilometer bis Worms und ich lege die 14 auf. Was soll ich sagen: es klappt, ich kann den Gang flüssig ziehen, Wind dreiviertel hinten, Gelände eben, tiefe und lange Position. Nur die Ampel kann mich noch stoppen. Solange es geht, muß man es machen.
Ein zwei mal wiederhole ich das Spiel, dann kommen die Bauten der Industrie, flattern die Fahnen der Gewerbeparks . Worms in lockerem Trab in der überhellen Sonne, die alles bleicht.
Mein Begleiter wartet schon auf dem sonnenüberfluteten Parkplatz vor dem Drogeriemarkt, der seinen Eingang mit einer Art überdüngter Frühlingsmotivik aufgewertet hat. Die Maiden tragen wieder geflochtenes Haar.
Schnell entschwinden wir über das Nibelungenportal auf die sichere Seite des Rheins. Es geht in leichtem Trab und munterem Geplauder durch die Felder auf Mannheim zu.
Wir treiben unsere primitiven Maschinen über die Felder
Wir nähern uns durch die schlichten, frühantiken Schattenmuster der Holzzäune den Vororten
Kurzer Halt an einer kleinen Kapelle, deren schöne Holztür und die goldunterlegte Marienfigur im Giebel einen gewissen Kontrast zur Umgebung bilden. Es ist kein Zufall, wenn Elektroräder durchs Bild fahren – wenn einfachste Verrichtungen hochkomplexe Apparate verlangen, sind wir in unserer Zeit angekommen.
Dabei hatte es mit der Moderne ganz anders begonnen. Die Befreiung vom Schweiß des Angesichtes, von der Fron hinter dem Pflug, der Last der Mehlsäcke und Backsteine, die Glut der Öfen . . . . das war es doch! Das große Versprechen.
Innerhalb weniger Jahrzehnte entstanden Siedlungen, für ein sauberes, helles und freies Miteinander. Die aus der stickigen Enge kleiner Kemenaten und dunklen Stiegen ans Licht führten.
Direkt an einem See stehen diese Hochhäuser mit Blick auf den Odenwald. Etwas weiter geht diese verkehrsberuhigte Welt in eine flächigere, Struktur von Riegeln und Reihenhäusern über,. Soliden Häusern in massiver Statik.
Und relativ zentral liegt die Schule meines Gastgebers, vor 50 Jahren ein hochmodernes Gebäude, innen gefliest, mit Laborräumen und Werkstätten. Alles auf einer Ebene, alles gedacht, um Bildung und Fortschritt zu vermitteln. Ein säkulares Paradies vor den Toren Mannheims.
Heute verfällt das Gebäude, die Stahlmatten schauen durch den Beton, der hunderte Jahre halten könnte. Nicht so hier: man wird abreißen. Das Dach sei zu schwach gewesen, Solarkollektoren zu tragen. Die solide Moderne wird von einer Postmoderne abgelöst, deren Verfallsdatum niemand benennen möchte.
Die Sonne strahlt geduldig auf alles hinunter, auch auf uns (unfreiwillige) Archäologen der Moderne mit ihren gar nicht so baufälligen, 40 jahre alten blauen Rädern.
Durch die Vororte rollen motorisierte eskapistische Fantasien – seien es schwarze Pickups mit bärenstarken Motoren,
seien es rote Boliden für die Welt jenseits von 300 Kilometer in der Stunde. Fort, fort nur fort von hier.
Als wir die Stadt am Neckar wieder verlassen, werden wir bald Zeuge, wie sich das große Abwenden vollzieht. Wir folgen dem Neckar.
Bald endet die städtische Bebauung, die große Schule, in der ein Wasserturm integriert ist bildet ein letztes Bollwerk.
Den Wasserturm der ehemaligen Glasfabrik aber umkreisen die Krähen, die Farbe bleicht und blättert. Hier stellten sie schon für Ludwig den XIV Spiegelglas her. Schon länger nicht rentabel. Zierpflaume und Forsythie sind über die volle Blüte hinaus.
Der Parkplatz vor dem Motorenwerk der Daimler Benz AG ist leer und ungepflegt. Die Daimler AG zerlegt sich gerade selbst und muß den Großaktionären aus Qatar und China Dividenden ausschütten. Wie ein Fronbauer dem Herrn den Zehnten entrichtet…
Das Verwaltungsgebäude der Roche Pharma ist ebenso dem Abriß preisgegeben, wie das Schulgebäude der Siedlung. Nur aus der großen Papierfabrik kommt noch Dampf, auch wirken die Urgebäude aus Backstein dort noch belebt.
Zum guten Ende noch -wie unberührt – ein intaktes Modell der großen, starken Moderne, die gerade hinter uns liegt dieser lange Verwaltungsriegel und davor die allmächtige, definitive Werksuhr. Die Zeiten ändern sich gerade sehr schnell, hier könnt ihr es sehen.
Was in der Theorie als schöpferische Zerstörung besungen wird, braucht in der Wirklichkeit ja auch den Widerpart, etwas, das Anstelle tritt. Das Neue, in dem sich eine Fortsetzung des Wissens und der Kenntnisse findet. Eine Kontinuität. Hier aber sehenunsere Augen vor allem Brüche, das Ende einer Geschichte ohne den Anfang einer Neuen. Den Industrielandschaften folgen Brachen, eigentlich immense Grabfelder eines Gesellschaftsentwurfs .
Nach unserem Abschied geht es für mich weiter gegen den Wind. Dem Rhein diesmal auf der Gegenseite folgen, um nicht die bekannte Wormser Strecke abzufahren. Dafür muß ich mich schön lang machen, auch wenn manchmal die Auen Schutz geben: Birkenpollen färben die Reifen grün. Es ist ein ganz eigenes Fahren, das Fahren gegen den Wind. In einer Position bleiben, die Kraft mehr von hinten holen, weil man ja etwas länger sitzt, nur die Knie können noch etwas variieren, der Tritt mal schiebender, mal mehr von ganz oben. Ganz anders als am Berg arbeiten die Muskeln . Kurz wieder nach hinten rustschen. Weiter.
Und dann sehe ich mich der definitiven Fata Morgana der Moderne gegenüber: einem realen, vollständigen, wenngleich stillgelegten Atomkraftwerk. Der Radweg paßt gerade noch zwischen Rhein und Kühlturm hindurch. Die große weiße Utopie der gezähmten Sonne. Hier steht es, das Großdenkmal eines Sonnenkults, der zu große Opfer verlangte.
Mit einem mulmigen Gefühl am Zaun vorbei . Strahlung oder Aberglaube?
Ich mäandere mit dem Rhein weiter nordwärts, wobei der Wind mich aus Nordost her spürbar einbremst. Gleich kommt Gernsheim, ein eintöniger Ort in der Ebene, dann sind es immer noch 25 km bis Groß Gerau, weit über eine Stunde bis zum Main. Das wird mir zu spät- nach Einbruch der Dunkelheit will ich nicht im Großraum Frankfurt unterwegs sein.
Also wähle ich einen Lift mit der Regionalbahn: um 18h 40 sollte ich in Niederrad aussteigen können. Tausende Fahrzeuge stehen auf einem Parkplatz bei Groß Gerau. Frankfurt: Der weitere Weg ist bekannt, die Sonne geht erst gegen 20h Sommerzeit unter.

Die Bewohner der westlichen Vorstädte flanieren wie ich längs der Autobahn und in Hofheim werde ich an der „total bonjour“ Tankstelle letzte Energie einholen. „Radtour gemacht?“ ,fragt mich der junge schlanke Mann an der Theke? „ich habe jetzt auch ein E Bike..“ Die Blüte der Jugend ist kurz.
Mit leztem Sonnenlicht stehe ich gegen halb neun auf der Heftricher Höhe, vor mir zeichnet sich in der Ferne die heimische Horizontlinie ab. Die Kalorien sind zur Stelle, gleichmäßig schnell beende ich die letzen 50 kilometer, habe die Position auf dem Eisvogel gefunden, wir sind uns einig.
Nach 14 Stunden passiere ich das große rostige Rad – es ist nichts anderes, als das riesenhafte Abbild eines Zykloidgetriebes, keine Sonne, sondern ein Spezialteil, mit dem sich die Bewegungen von Robotern besonders gut steuern lassen. Denn ihnen gehört die Zukunft.