131114 Sur la route du Tour 2015

Tourluft atmen

 

Am 14 Juli ist es wieder so weit: den Nationalfeiertag begeht die Tour de France im nächsten Jahr mit einer Pyrenäenetappe. Wie der SudOuest auf mehreren Seiten erläutert, ist es die erste von drei Etappen, die sich mehr oder weniger um die Stadt Pau bewegen, Herz des alten Frankreichs. Am 14 Juli ist die Skistation La Pierre St. Martin Tagesziel, man erwartet einen französischen Sieger- Graal für einen Nachmittag. Doch ich werde ihnen zuvorkommen.

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Es ist ein sonniger Oktober. Jede Nacht bewundere ich in Shorts von der Terrasse aus die Milchstraße und jeden morgen, wie die Sonne den Tau auf der Wiese verfolgt. Es sind hier an der Grenze zum Bearn und dem Baskenland mehr Sonnentage als im August, als würde das Jahr uns noch etwas schulden.

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Familien nutzen die stabile Hochdrucklage, um ganze Tage am Strand zu verbringen. So weiß ich auch meine engsten Anhänger an sicherem Ort, während ich mich dem Berg stelle. Den Aubisque im Sommer habe ich (hier) glatt verschwiegen, aber ich komme später darauf zurück, wenn der Film der Etappe Revue passiert.

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Oloron, Mauleon, Navarrenx: ich bin auf heiligem Boden der Tour de France Über hundert Jahre schon stehen die Namen dieser Orte regelmäßig in den „Feuilles de route“. Am 14.7.15 beginnt die Etappe eigentlich in Tarbes, für meinen Start einige Hektometer zu weit östlich. Ich fahre mit dem Zirkel über die 100000er Karte und setze einen Punkt auf Navarrenx. Hier nehme ich die route du tour auf und folge ihr bis ans Ende des Tages.

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Es hat nur Sekunden gedauert, mich wieder ans Snel zu gewöhnen: Position, Schaltung, der geflickte Lenker mit den etwas zu weit geschnittenen Bremsgummis – alles wie geliebt. Der Rahmen passt exakt in die Aussparung des alten Daimlers als ich den Kofferraum öffne und die letzten fettigen Krümel meines Croissant fortwische. Am Hinterrad kann ich bis 26 hochgehen – und das ist auch gut so.

 

Die Sonne wärmt die Mauern der mittelalterlichen Feste anständig auf, jetzt, um 11h sind es schon beinahe 20 Grad. Im Pulverturm ist eine Tür geöffnet: die Räder eines Fahrradverleihs schimmern aus dem dunkeln. Von der alten Kanone aus bewundere ich die schöne Brücke, die über den Gave führt, der kühles grünes Wasser aus den Tälern bringt, die ich gleich erkunden werde. Mein Blick geht über das sanft gewellte Vorland Richtung Süden. Ja, die Umrisse sind deutlich zu sehen, graublau auf gleißendem blau.

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Über diese Brücke werden Sie kommen, die Kamera von TF1 wird genau neben dieser Kanone stehen und dem geschlossenen Hauptfeld über die Brücke folgen Die Fahrer haben um die 50km flach in den Beinen, gerade mal eingerollt. Ich habe mehr als hundert Tage Vorsprung, als ich auf meinem Snel die Kühle des Flusses spüre. Eine Flasche, eine Banane, ein Apfel und ein letzter Blick auf die Stadt.

 

Erst kommen kleine Wellen, die das Relief der Berge in neuen Ansichten auftauchen lassen . Die Straße ist wenig befahren, kaum einen Hund sehe ich am Zaun stehen. Ich trage eine ¾ Hose und das leicht gefütterte Langarmtrikot, dort oben sind es sicher knapp 10Grad, mit oder ohne Sonne.In Mauleon endet die Sonntagsmesse, Menschen reden auf den Stufen der kleinen grauen Kirche.

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Schnell geselle ich mich zu der handvoll Ungläubigen im Café de l’Europe (Europa ist hier sehr weit, Paris nur wenige Lichtjahre entfernt). Beim kleinen Espresso, auf den ich ein Croissant mehr setze, sehe ich auf dem Flachbildschirm die Resultate der Pferderennen und die Prognosen der Experten im sudouest. Die Experten der Tour hoffen auf einen Ausreißer. Der ist schon hier.

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Weiter. Die Berge kreisen mich langsam ein, es sind nur noch wenige Kilometer bis zum Musketierdorf Aramits und Arette. Dort beginnen die ernsten Dinge.

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Da, mitten an der Landstraße ein kleines aber sehr neues Schild: La Pierre St. Martin : 28. ich folge der kleinen Landstraße, die kaum breiter als ein Feldweg ist, Die Straße wurde komplett neu mit einer kleinen grauen Steinschicht überzogen, wie es in Frankreich seit immer üblich ist. Gravillons! warnt alle paar Kilometer ein Schild. Diese Steine werden dann einmal auf die Bindeschicht gewalzt und den Rest besorgen die Autos, Traktoren – oder eben 24mm breite Conti Reifen.

 

Mehrmals muß ich mit dem Handschuh über den Reifen streichen, weil Steinchen sich festsetzen. Der Belag ist rauh, es ist mühsam, ich bekomme ein Gespür für die die Tour vor 1960 und begreife die langen Radstände: kaum zu glauben, was eine altmodische Straße an Kraft frisst, vor allem, wenn es leicht bergauf geht.

Links und rechts Schafe, links und rechts Bauernhöfe, die für Ihren Schafskäse werben. Das Gîte der Musketiere (des mousquetaires) wartet auf mutige Wanderer; die Wege sind nach den Höfen benannt, wahrscheinlich schon seit 730, als die Sarrazenen das Land überrannten. Sehr einsam hier -warum will das Städtchen Arrette nicht erscheinen, das doch so deutlich auf der Karte zu sehen war. Wohin fahre ich eigentlich?

 

Der Weg gabelt sich, ein verwittertes Schild weist links nach Issarbe: station de ski. Col d’Issarbe ,11km. Auf der Brücke neben dem Schild stelle ich mein Rad ab und studiere die Landkarte. Der Vert de Balanes gurgelt unter mir hindurch, ein alter Mann steht neben seinem Toyota Pickup, ein Schäfer? Die Ladefläche ist mit Stauden von Piment und Tomaten gefüllt.

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Ja, zur Pierre St. Martin komme ich hier auch, es dauert nur etwas länger. Ich bin ein Tal zu früh abgebogen . Ich höre das Rauschen, ich höre die Grillen. Der Mann macht mir Mut: die reguläre Auffahrt sei zwar kürzer, aber etwas steiler. Er begreift natürlich nicht, daß ich im Begriff bin, die Etappe des 14 Juli zu verlieren.

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Der Himmel ist unbarmherzig in seiner Folienhaften, eintönigen bläue. Es rinnt den Helm hinab, die erste Rampe ist genommen. Ein Auto kommt mir entgegen, noch hunderte Meter rieche ich die kokelnden Bremsbeläge. Der Weg führt gerade an einer schattigen Bergflanke entlang. Mal flacht er ab, dann wieder geht es böse aufwärts. Ich weiß nicht welchen gang ich nehmen soll und erst geht es zwischen 3 2 1 hin und her. Es ist ein wenig wie im berühmten Wäldchen am Ventoux, nur viel ungleichmäßiger. Dann 38×26 im Wiegetritt, die Luft ist frisch und klar, doch es fehlt ihr mittlerweile eindeutig an Sauerstoff. Es rauscht wieder und es sind nicht (nur) die Ohren: der Vert de Balanes kommt näher, eine kleine Brücke liegt einer sonnigen Kurve, das erste Flachstück, der Übergang zum nächsten Hang.

 

Ich steige nicht ab, nein, aber ich mache etwas, was ich nicht zugeben dürfte: ich fahre auf der Brücke eine Schleife und sehe mir nochmals die folgende Steigung an, die ich jetzt packen muß. Berg, ich sehe Dich ich habe einen Fehler gemacht, ich habe meinen Rhythmus verändert. Es kommen 6 oder 7 Kehren.

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Und ich packe ihn: Stück für Stück, Kehre um Kehre geht es hinauf durch den Wald, der jetzt aus mächtigen Nadelbäumen besteht. Flacht es ab, hole ich im Wiegetritt Schwung. Ich bin angezählt, aber nicht KO. Immer wieder zurück auf 1, dann lichte Momente in 2, an denen sich das ganze Panorama ins Tal vor mir ausbreitet. Atme tiefer!

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Der riesenhafte Kegel aus rostrotem Farn , der mich im Tal noch überragte, kommt langsam auf Augenhöhe; die Ebene verliert sich milchig. Blauer Oktober, Goldener Oktober, roter Oktober – ich weiß, daß sie sich dopen, ich weiß es ganz sicher, denn am 14 juli wird es heiß sein hier oben, und der schöne Schatten dieser schönen Bäume wird ihnen nichts nutzen, man wird sie platzen sehen wie Tomaten die von der Ladefläche des Pickups kullern. . . .

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Es gibt in den Diskussionen um die Artenvielfalt und internationalen Reservaten zu ihrem Schutz einen Begriff: paper parks. So nennen Staaten, die kein Interesse am Naturschutz haben Gebiete aus, die sie per Federstrich auf der Landkarte zu Naturschutzgebieten erklären. Die internationalen Auflagen sind erfüllt. Die Natur der Pyrenäen schützt sich beinahe selbst: hunderte kleiner Täler, eine undurchdringliche Vegetation und ein entsprechendes Klima machen ihre zivile Nutzung schwierig.

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Hier stehe ich knapp über der Baumgrenze und schaue in die umliegenden Täler. Col d’Issarbe, ein kleines Skigebiet für Langlauf. Einige Wanderer sind als bunte Punkte unterwegs, haben ihre Autos auf dem Paß geparkt. Die Sonne ist da, mild, aber sie dringt nicht mehr in die wilden Klüfte, in deren undurchdringlichem Gestrüpp ein geheimes Leben sich auf den Winter vorbereitet. Auf der Gegenseite erkenne ich, noch weit entfernt, die Häuser des Skigebiets Pierre St. Martin. Der Boden ist von einem dichten grünen Rasen bedeckt, der wie geschoren wirkt. Winzige gelbe Blümchen hier und da, kleine Verwandte unseres Löwenzahns. Sonst nur Stille und das Profil des Pic de Bigorre.

 

Wieder runter in die Wälder bis auf 1215m, col de souscousse , ein kleiner hübscher Paß, den man auch über einen kleinen Ort namens St. Engrace erreichen kann, aber die Abfahrt war heikel: die Straße ist schmal, holprig und voll unübersichtlicher Kurven, so, wie sie die Straßen der tour es lange waren (souvenir d’Ocana). Und gleich wieder hinauf, der nächste col wartet . Die Bäume sind lichter, vielfarbig und wunderschön mild beleuchtet, wie in einer Computeranimation ; es gibt kleine Hütten für Wanderer und sonst nur Wildnis – ob ich an der Pierre St. Martin einen warmen Kaffee bekomme? IMG_1683

Kurz vorm col de soudet (1540) überholt mich der rote Toyota Pickup, dann ist die offizielle Straße erreicht: die route du tour ist eine wahre Autobahn. Frisch geteert und noch ohne die gepinselten Namenszüge, die die Fans ihren Idolen schreiben. Vas y CriCri: Noch einen kleinen Knick und ich höre den Jubel der Hunderttausend, das Flattern der Rotoren und das wilde Hupen. Die Flamme Rouge, …

 

Meine Ankunft wurde gut vorbereitet, mindestens 1000 Autos und zwei Hubschrauber haben im Zielbereich Platz, der Teambus ist auch schon da. Die hospiality Zelte sind so groß, das Gaddafi sie akzeptiert hätte. Öde plötzlich und Stille.

etape17 Die Kulisse der grauen, mehrstöckigen Häuser, der metallisch blinkenden Sessellifte und Wartehäuschen schweigt mich an. Hier gibt es keine Bäume mehr, nackter Fels bricht durch dürre Gras, niemand hat den Pionier der Tour 2015, den Vorreiter der großen Caravanserai hier erwartet. Ein kühler Hauch weht aus dem geschlossenen Einkaufszentrum herüber.

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Zwei Autos stehen auf dem Parkplatz, Kaffee wird aus der Thermoskanne gereicht. „Sie müssen sich verirrt haben, Monsieur, hier gibt es nichts.“ Keine Andenken, Keine Bewirtung, Kein frisches Trikot. Mir wird kalt, ich muß mich um den nächsten Paß kümmern, den Col de St. Martin

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Doch es ist zu spät, ich werde ihn nicht erreichen, noch ein zwei Kurven und ich mache kehrt.

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Abwärts – eine Autobahn, weite Kurven, gleichmäßiger Belag. Rollen lassen, stoßweise Bremsen, immer wärmer wird die Luft, das große Halstuch habe ich mir bis zur Brust gezogen. Rechts ein kleiner Weg ins Nachbartal: Ossau. Ich tauche in immer wärmere Schichten dickerer Luft. Arette ist erreicht. An einer ehemaligen Tankstelle hat sich ein auffällig großes Fahrradgeschäft eingerichtet, das freut mich – für meinen nächsten Besuch. Eine Runde um den Rathausplatz.

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Auf einer Hauswand wird deutlich, wie stolz dieser Ort auf die Geschichte der Tour und vor allem auf ihre Helden aus dem Südwesten ist. Die Wand wurde in ein Billboard verwandelt. Riesige Tafeln mit den Bildern der wichtigsten Radsportler des sud-ouest, darüber ein großes rotes Herz: die Gemeinde grüßt die Tour 2015. Ocana aus Mont de Marsan, der spanische Flüchtling, der nie zurückkehrte ist nicht dabei*.

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Im Schatten steht ein alter blauer CX-Pallas, Frankreichs ausgemustertes Flaggschiff. Ganz tief liegt er auf den Boden gekauert, nicht einmal an diesem Sonntag wurde er bewegt. Die Fabrik, die 1974 zu seiner Herstellung eingeweiht wurde, befindet sich direkt an der Autobahn, kurz vor Roissy, ungefähr da, wo Busreisende das letzte Bild der brennenden Concorde machen konnten. Dieses Jahr wird Aulnay sous Bois geschlossen.

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Mais ou sont les neiges d’antan? (anke Sempè)

In der Nebenstraße ein kleines Café, nicht das erste am Platz: abewr hier wird mein Snel am besten bedient. Jugendliche begrüßen sich mit Kuß, rauchen Zigaretten af der winzigen Terrasse

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Ein Mädchen, das noch keine 20 ist, füllt drinnen ein Bewerbungsschreiben aus und spricht mit dem Inhaber. Ein Kakao mit echter Milch? Nein, nur aus Pulver – dann ein Café, bitte. Eine kleine Inox-Kanne mit brühend warmer Milch steht neben meiner Tasse: die Wärme von innen kehrt zurück. Darauf ein Snickers.

 

Die Schatten der Sonne sind länger geworden, im Gegenlicht erkenne ich die Umrisse des alten Schlosses von Arette und auf der Karte sehe ich, daß es bis Navarrenx noch mehr als 30 km sind: eine sehr gute Stunde muß das werden. Die alte Landstraße entlang Sonne im Rücken, einmal türkischen Honig an einer kleinen Tankstelle in Oloron. Die Monotonie der Vorstadt, der Lagerhallen, der geschlossenen Märkte. Die Maisfelder bilden eine gelbe Wand – irgendwann lese ich den Namen Bourdieu und denke an den Tag zurück, an dem ich sein Geburtshaus entdeckte, unmittelbar an der Landstraße nach Pau, gegenüber einer Tankstelle

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Das war nach dem Aubisque, den ich hier im Nebel erreiche , aber der Aubisque war eine deutlich kleinere Nummer als dieser Tag hier: die ersten vier Kilometer bis Eau-Bonnes ideal zum Einrollen und der Rest hinauf übersichtlich und gleichmäßig, ohne diese Tücke, diese bösen kleinen Rampen, die so schwer einzuschätzen sind und mich in den roten Bereich befördern, bevor ich es spüre. . . . aber noch im Schmerz entschädigen diese wundervollen Wege an deren Kurven jedes Mal ein kleines Paradies wartet, dieses weite Gefühl, von allem wegzuschweben, auch wenn ich nur ein kriechender Wurm bin.

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Jetzt kann ich ganz Rouleur sein, die Kilometersteine zählen, die Abendsonne genießen und den Respekt, den mir die Autofahrer auf der Landstraße entgegenbringen: die Körpersprache der Autos ist eindeutig. Kinder spielen in den Gärten.

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In Navarrenx ist es ebenso ruhig wie am morgen – in den Gassen entdecke ich eine geöffnete Bar. Ich bin der einzige Kunde, im Fernseher läuft eine live-dating Sendung in der es um die Auswahl des geeigneten WG Bewohners geht. Wohnraum ist knapp und teuer in den großen Städten. Das Bier kommt. Sie erklärt ihrer Freundin, warum er nicht der Richtige für die Zweckgemeinschaft war. Schweigend schauen wir zu. Das französische Bier schmeckt genauso blaß wie das Licht aus der Neonröhre –

C’est fait.

*ich habe mich zunächst gefragt, ob hier nur die Radler aus dem (alten) Departement 64 zulässig waren, aber das würde den Herrn unten links, André Darrigade, ausschließen, der, genau wie Ocana, aus den Landes (40)! stammt. Ein Versehen?

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