90415 La Marie Blanque
Im Norden frieren sie alle noch und werden von oben gesegnet. Hier spüre ich auf dem Weg zum Bäcker den warmen Wind, von der Höhe sehe ich gelbe Tupfen an den Hängen, an den Gehöften sind die Camelien immer noch in voller Blüte.
Ich rolle zum Bäcker. Auf dem Parkplatz:die Männer haben ihren Fuhrpark verändert. Sie fahren keinen 2Cv mehr oder klapprige Fahrräder – heute haben sie weiße Fourgons wie den Renault Express, den c15 von citroen oder den Partner von Peugeot. Sie tragen noch ihren Beret, aber das Bild vom ehemaligen Resistancekämpfer, der sein Rad im Schleichgang bewegt ist ein Märchen, wie der das vom Dorfbäcker, dessen Backstube in sonniges Licht getaucht wird. Bäckereien sind keine Denkmäler.
Der Bäcker von Sault (de Navailles) hat seinen kleinen flachen Zweckbau direkt am ersten Rond-Point der Umgehungsstraße errichtet, die Mont de Marsan mit Bayonne verbindet. Schon am nächsten Rond-Point steht der Supermarkt mit angeschlossener 24h Tankstelle. Auf dem Parkplatz herrscht Bewegung, Menschen mit gefüllten Tüten verlassen das Haus, vor dessen Eingang ein 24h BaguetteAutomat wartet. Ich reihe mich ein und entdecke auf dem Zeitungsständer eine englischsprachige Zeitschrift – für Engländer in Frankreich. Aus der Backstube werden lagenweise neue Brote eingerollt. Das Display der Kasse zeigt den Wartenden abwechselnd lustige Tiercomics. 6km sind es bis zum Frühstückstisch und aus meinem Rucksack duftet es. Ein kleines Croissant gönne ich mir schon mal und folge wieder dem Weg, den mein Urgroßvater damals ging, wenn er seinen Bruder auf dem Hof Lalanne besuchte.
Meine Erinnerung geht zurück an meinen Großvater und an die sehr heißen Sommerferien 1976 auf einem kleinen, primitiven Landhaus, etwas mehr als hundert Kilometer nördlich von hier, zwischen Agen und Toulouse. Jeden Abend sehe ich uns zu Fuß beim Bauern die Milch holen, 2km entfernt. Signetti war dessen Name, Sohn eines Italieners aus der Po-Ebene: denn viele Italiener waren noch in den 1920ern aus der italienischen Armut ausgewandert dem Hunger und dem Faschismus entkommen und hatten sich im dünn besiedelten Gers niedergelassen. Sein französisch amüsierte meinen Großvater.
Dort im Gers kaufte sich später auch Luis Ocana sein Gut, um Armagnac herzustellen. Auch seine Eltern waren Auswanderer – genauer: sie waren vor den Frankisten geflohen und so wuchs Luis der große Champion Ocana 30km nördlich von der Bäckerei vom Rond Point in Mont-de-Marsan auf, ohne jemals Franzose zu werden. Es kann gut sein, daß er auf dem Trainingsweg in die Pyrenäen genau an dieser Kreuzung bei Sault die Straße nach Pau einschlug.
Ein paar Tage später passiere ich mit dem Rad im Kofferraum wieder diese Stelle auf dem Weg nach Pau. Der Weg in die Pyrenäen führt durch eine eher eintönige Ebene, von der die Radarfallen grüßen und aus der bei gutem Wetter plötzlich, wie von einem Vorhang aufgerissen, die Pyrenäen in ihrer ganzen Breite auftauchen – , Pau: nach der Ausfahrt Richtung Jurancon stelle ich den Wagen auf einen Pendlerparkplatz ab und baue das SNEL zusammen.
Dann nehme ich die pappelgesäumte Straße nach Gap und bin in der Legende der Tour, denn mehrere dutzendmale dürfte in den letzten hundert Jahren das Peloton in die eine oder andere Richtung diese Straße benutzt haben: am Ende oder am Anfang einer Königsetappe – die Trainingsroute hunderter Radsportvereine. Meine Königsetappe wird recht kurz. Ich werde einen knapp 100km langen Kreis ziehen und nicht allzu sehr in die Höhe gehen, denn die Pässe sind über 1400m gesperrt.
Hinter Gap biege ich nach Westen auf eine malerische Departementale Richtung Oloron. Es ist hügelig, die Bauern pflügen und hinter den Feldern leuchten in der Sonne, die nun ab und zu durchscheint, verheißungsvoll die Pyrenäen. Mir wird warm.
Bis Oloron sind es zwei kleine Pässe, malerische Täler, schöne Gehöfte und spärlicher Verkehr. Oloron Sainte Marie ist ein weiterer klingender Name der Tour, denn an dieser doch größeren kleinen Stadt münden die Auslüfer mehrerer Täler . Der Blick auf die Stadt, den schon Bottechia, Coppi und Merckx genossen ist trügerisch, die Reste eines stolzen Bürgersinns wirken staubig. Die Läden der Innenstadt sind überkommene Relikte, denen einige Rentner die Treue halten. Der Wochenmarkt vor dem Rathaus ist nicht üppig; mit vielsagenden Gesichtern verstauen Verkäufer ihre Ware wieder in beulige Transporter.
Den Weg zur Caisse d’Epargne, der Sparkasse, erklärt mir eine alte Dame an einer Bushaltestelle – es ist ein Palast, ein pompöses Relikt des 19Jhdts, als Bauern und Bürger erstmals Geld übrig hatten. Mit einem Aufzug erreiche ich die Geldautomaten vor der verwaisten Schalterhalle. Als ich wieder auf mein Rad will, fällt mein Blick auf den Friseursalon gegenüber, in dem eine Frau gerade saugt. In ihren Auslagen entdecke ich Jahrzehnte alte Parfums – der Sammler in mir ist elektrisiert. Ich klopfe an die Scheibe – aber es ist nichts zu machen: wir haben geschlossen sagt die Dame meines Alters durch die Scheibe und außerdem muß ich jetzt essen gehen. Wirklich nichts zu machen? Nein.
„Ach wissen sie, das ist eine alte Jungfer, die nur für einen harten Kern an Stammkunden öffnet“ sagt mir die Dame von der Bushaltestelle, die dort immer noch wartet , „da wundert mich nichts, die ist leider ein bisschen eigen . . . „ . Mich wundert jetzt noch weniger, wie es in Oloron Sainte Marie ausschaut und bin verstimmt, die hübschen Häuser langsam in Ostzonengrau verschwinden zu sehen.
Auf nach Süden, Richtung Col du Somport, dem Königsweg nach Spanien, seitdem es dort einen sagenhaften, 15km langen Tunnel gibt. Bald verlasse ich jedoch die Hauptstraße und orientiere mich parallel an den kleinen Dörfern des Jakobsweg. Die Straße ist schmal, wellig und wunderschön. Ich bin von Schafweiden umgeben, rechts und links türmen sich inzwischen die Bergmassive. Wilde Kirschen blühen – es ist überwältigend, ich muß schon wieder knipsen.
Auf einer sanften Abfahrt, Escot ist schon in Sicht, sehe ich einen kleinen Trupp großer brauner Gänse auf die Straße marschieren und will schon pfeifen , damit die Viecher mir nicht in die Quere kommen, aber irgendetwas hält mich ab. Die Tiere, die da leicht verstört abdrehen sind gar keine Gänse.
Ich steige ab und gehe langsam zurück, als ich die Genossen über mir kreisen sehe. Kein Zweifel: an diesem Wiesenhang lebt eine ganze Kolonie des Lämmergeiers und was da gerade vor meinen Augen abläuft, sind die Flugübungen der neuen Brut. Beeindruckt zähle ich mindestens ein dutzend Tiere, die ich durch mein Pfeifen aufscheuche.
Der Blick des Geiers ist schwer zu vergessen, er wirkt mit der Halskrause entfernt wie ein indignierter römischer Senator, der gleich die Wachen rufen wird. …… Ich schieße ins Tal hinab, da wartet noch ein Paß auf mich.
Escot ist ein winziger Ort und an einer winzigen Kreuzung sehe ich den Hinweis auf meinen heutigen persönlichen Col: die Marie Blanque. Der Weg dorthin ist verwunschen und einsam, aber auf jedem Kilometer errinnert ein Schild den Radfahrer an sein nahendes Schicksal.
Täuschend leicht beginnt der Anstieg, rechts gurgelt ein Bächlein, hier und da steht noch ein Hof. Zwei Männer bedienen eine ferngesteuerte Fräse, die den Steilhang bearbeitet. Sonst alles sehr einsam. Erst sind es 4% , dann 5, wirklich sehr erträglich, aber wer hier zu forsch rangeht, wird bald gerichtet. Die Straße bleibt nämlich gerade und offen, so daß die plötzliche Verschärfung der Steigung nicht sichtbar wird wie an einer Serpentine. Auf letzten 4 km diesseits der Marie Blanque geht nichts mehr unter 10%. Quäldir jetzt, sagt der Berliner in mir
Es werden sogar einmal 13 ( Schnitt auf einen km) – und das sollte man einmal gekostet haben. 1000m gehen noch, 1500 vielleicht auch , aber nach 2000m jenseits der magischen Zehn sind auch die 38×28 meines Hinterrades kein Ruhepolster mehr. Es saugt mir die Knochen aus und erst ganz spät finde ich einen Rhythmus, der das ganze weniger verzweifelt aussehen läßt . . .
Auf der Paßhöhe bin ich einsam, satt und bedient, genieße die Aussicht, die Ruhe und den wenigen Sauerstoff und rolle ab: die Gegenseite ist ein Witz. Da begegnen mir dann andere Radler.
Es gibt kaum einen größeren Kontrast zur einsamen Kletterei, als bei einem kleinen Café von der Esplanade des Schlosses aus die gesamte Entfaltung der Pyrenäen zu bewundern.
Die Stadt endet an einer Klippe, deren palmenbepflanzter Boulevard „balcon des pyrénées“ heißt und sich zum Schloss hin fortsetzt Kommt man aus der alten Stadt überwältigt einen der Anblick: als zarter Schmelz entfaltet sich das ferne Zauberreich der Pyrenäen. Heinrich der 4te hat auch als König von Frankreich diese Stadt nie länger verlassen, ich verstehe warum.
Ich nehme einen letzten Schluck, kaufe noch eine Feigenmarmelade die „die Eier des Papstes“ genannt wird und bestaune ein letztes Mal die die Formen des aerodynamischen „vitus“ in meinem Café
Viermal wird die Tour de France in diesem Jahr hier zu Gast sein: ich hoffe, sie haben gutes Wetter und beschränken sich auf Huhn, Marmelade und Coffein.
Der Marie Blanque gilt (wegen der Kürze) als kleiner Paß, eine Vorspeise zum Col d’Aubisque. Die Tour de France ist ihn nur wenige male gefahren und deswegen finde ich ihn auch nicht in dem kleinen Taschenbuch „les cols du tour“, das ich daraufhin liegenlasse.