In einer Woche zum Tourmalet
Die sibirische Zugluft liegt viele Breitengrade über mir, irgendwo weit im Norden.
Um 18h35 habe ich gestern die Garonne überquert, beim Aussteigen verdrängte milde, weiche Abendluft den kühlen Hauch der Klimaanlage. Rosen blühen noch, Hortensien auch und hin und wieder duften unbekannte späte Blüten zur Straße hinüber.
Hier zwischen Dax und Pau wird der echte Mais geerntet, nicht der grüne Futtermais, der nördlich der Loire geschreddert und dann als Biomasse weitergärt, sondern das Korn. Die fahlen Blätter bildeten das Deckblatt der Maiszigarette . Ein schönes Wortbild hörte ich bei der Übertragung des Rugbyspiels: „les Australiens ont éxplosés comme du popcorn“ . . „
Ich sitze wieder auf meinem SNEL, – jedesmal erstaunt, wie das rostige alte Ding auf Anhieb paßt, leicht lenkt, angenehm rollt. Oder ist es die Wärme, die alle Bewegungen leichter macht?
Heute, Montag, fahre ich nur kurz in der Gegend herum, schnüre die alte Landstraße Richtung Bayonne auf und ab und wusele durch verwinkelte Täler, vor deren Gehöften und Residenzen Agaven und Palmen stehen.
Der Himmel ist bedeckt, aber nur leicht. Spuren alter Schauer bedecken fleckweise die Straße und da entdecke ich exotische Früchte am Wegrand. Auch einen üppigen kleinen Quittenbaum, von dem ich eine Frucht nach Hause bringe. Die Kinder dürfen raten -Tomate, Orange, Apfel – sie wissen das es nicht stimmt und kommen drauf, als ich auf ein Marmeladenglas zeige.
Wenn die Temperaturen in den nächsten Tagen noch steigen, will ich einen Versuch am Tourmalet starten, dem höchsten Paß der Pyrenäen. Damit schließe ich ein Jahr, in dem ich mehr Kilometer auf dem Rad gesessen bin, als je zuvor. Mal sehen, wie morgen die Sonne steht.
Dienstag
Die Sonne ist da, aber auch der Wind
Eine Flachetappe – :Orthez- St. Jean de Luz über Bayonne. Auf die große Landstraße, mit Pause in Peyrhorade. In fast allen Cafés läuft im Hintergrund der große Flachbildschirm, in diesem hier geht es um Pferderennen.
Sehe plötzlich die Blousons der Jockeys, die schlagartig an alte Radsporttrikots erinnern, . Wenige, leuchtende Farben, einfach gestreift. Teilweise einfarbig, manchmal mit Armbinde oder einem großen Stern als Emblem. Rituale vor dem Start, ganz detaillierte, fast geraunte Analysen der Kommentatoren – es geht um Wetteinsätze. Auch im französischen ist vom Turf die Rede, der grasbewachsenen Rennstrecke – Hinweis auf den englichen Ursprung.
Olivier Dazat (ein Sammler von Radsportmagazinen-und Literatur) meinte, der professionelle Radsport und der Turf / „les courses“seien einst von denselben Organisatoren betrieben worden: ein mafiöses Gewerbe von Beginn an.
Wind schräg von vorn, böser, kalter Nordwest. Doppelte Wolle, lange Hose, im Unterlenker an der Adour entlang. Kaum Richtungswechsel. Die Felder leuchten. Auf dem breiten Strom kräuselt sich das Wasser. Drei Mädchen halten Picknick auf dem Radweg
Attribute: Smartphone, Fertigpizza, Nagellack, New Balance Sneaker (Turnschuh mit N drauf) , Fellkapuzen-Anoraks und kleine Motorroller.
Andere halten sich mit dem traditionellen Sport fit: Aviron Bayonnais heißt der Klub, dem (als Leichtathlet) auch mein Urgroßvater angehörte, ebenso meine Großmutter. Noch heute trägt die Rugbymannschaft diesen Namen.
Bayonne ist gut besucht, die Altstadt ist eine große Fußgängerzone, Geschäfte reihen sich aneinander, einige stark umlagert. Marken, von denen im August noch nichts zu sehen war.
Ein heißer Kakao, eine heißer Doppel-Espresso mit Sahne, ein Mandelcroissant und das kurze Studium der Wetterkarte. Diese Bäckerei ist eins der wenigen Geschäfte, das die angebotene Ware noch vor Ort produziert.
Ocanas Entdecker ist gestorben, das erste Trikot von Mercier/67, eine Mannschaft, die ihn dann nicht nahm* – den Spanier aus Mont de Marsan. Das Buch von (Blondin?) suchen. Den Col de Menté suchen, aber erst im nächsten Jahr – diesmal erst den Tourmalet bezwingen.
Gedanken an den „Kult zweiter Ordnung“ . Warum sich aus den letzten 20 jahren so wenige Radsportgestalten über die Zeit retten. Weil die Autonomie schwindet ?– der betreute Fahrer, der kontrollierte, in Echtzeit vermessene Athlet ist schwer mit dem selbst entscheidenden, (vielleicht auch nur vermeintlich) autonomen Helden von einst in Deckung zu bringen. Wo ehemals ein Einzelner aus der Klasse der rechts- vor allem aber „perspektivlosen“ Proletarier zum ruhmvollen Einzelunternehmer in der Gesellschft aufsteigen konnte, handelt es sich seit ungefähr 1992 (ich setze das Datum mit Fignons Rückzug) um einen domestizierten Angestellten, der die Rechte seines Sponsors ebensogut kennt wie die eigene sportliche Halbwertszeit.
Poulidor nahm an 17 Weltmeisterschaften teil.
Aus der Festungsstadt hinaus: die lange Gerade nach Süden, dicht an dicht mit dem einsetzenden Berufsverkehr. Kurzer Abzweig nach Bidart.
Eine kleine Kappelle am Ende des Dorfes überragt die Bucht. Zwei Damen sitzen an der Sonnenseite, im Windschatten, und unterhalten sich über die Schulerfolge ihrer Enkel.
Ich parke das SNEL kurz über der Bucht. Kalifornien kann einpacken. Der Oleander duftet und Hecken einer bestimmten Flieder-verwandten die gerade blüht.
Ein Nautilus dient als Brunnen. Ich fülle die Flasche.
Noch zwei milde Hügel bis St Jean deL, viele, viele Autos reihen sich an Ampeln. Postkarten vom Boulevard Vauban – Magnolien als Alleebäume. Zwei Chimay bleu , wie immer: Socoa, Hafen des Friedens.