Das dichte Gewimmel von farbigen Punkten und Namen zeigt eine untergegangene Welt.
Es ist die Welt, in der europäische Hauptstädte auch Produktionsstätten waren. Auf dieser Karte vom Nordweseten Paris 1927 ist diese Welt der seit langem „delokalisierten“ Betriebe noch so, wie sie die industreille Revolution erschuf.
Levallois-Perret. Bedingt durch die Enge Schleife, die die Seine dort macht konnten sich Lager und Industrie gut ansiedeln. Auf wenigen Quadratkilometern – Hotchkiss: Luxusautomobile, Hispano Suiza: Flugzeugmotoren und Luxusautomobile, Mors: Automobile. Voisin: Flugzeuge. Jaeger: Instrumentenbau……
Dreyfuss Frères, Roger et Gallet, Weil et Debieve – Namen wie aus einem Roman von Modiano, und wie ein Protagonist des Schriftstellers, versuche ich, mir das dichte Gewebe der Werkstätten und Schornsteine in Erinnerung zu rufen, um die alte Identität einer eines Viertels zu erfassen . Paris 1927 : Eine Stadt umgeben von rauchenden Schloten, erfüllt vom Geräusch der Maschinen und Ateliers, während in ihrem Zentrum die Näherinnen das nächste Ballkleid anpassen und die Parfumeure von Weill Flacons aufreihen.
Nicht nur die alte Facharbeiterkaste, deren eher triste Lebensumgebung auf den Bildern Doisneaus auf uns heute so heimelig wirkt, ist verschwunden, auch die Ballung von Know How und Spitzentechnologie ist mit den Werkstätten über den Globus verstreut.
Ich mache mich auf die Suche, ich werde weiter vordringen-
In einem kleinen grauen Peugeot und umkurve ich die Relikte der Außenbezirke Richtung Levallois Perret. Der Peripherique ist inzwischen auf 7o streng kontrollierte km/h abgeregelt worden, so daß seine Parallelen , die Boulevards de Ceinture, wieder attraktiv werden.
In Levallois Perret sind die Straßen gerade, sauber und aufgeräumt. Die Werke von Hotchkiss und Citroen sind lange schon geschlossen, der Carrossier Chapron hat vor Jahrzehnten das letzte DS Cabrio gefertigt, der geniale Voisin Aero ist im Himmel.
Die Häuserfronten, die einst grau bis schwarz waren (genau wie Notre Dame), sind nun von diesem gebrochenen weiß des Sandsteins aus dem Seinebecken. An einem Neubau sehe ich die 2cm dicke Schicht des Blendmauerwerks über der Wärmedämmung, das noch auf Vollendung wartet.
In einer Front von Gewerbeimmobilien verbirgt sich ein kleines, unscheinbares Haus, ein einstöckiges Wohn – und Geschäftshaus. Hier hatte sich 1936 der emigrierte Ungar Alex Singer niedergelassen und sein Geschäft für Bau, Reparatur und Verkauf von Fahrrädern eröffnet. Der Schriftzug ist seitdem unverändert. Ich tauche ab in die Zeitmaschine.
Es ist Samstag und Herr Csuka hat noch geöffnet. Hier ist das Paradies des Retrogrouch: die Werkstatt hängt voller Räder, im Verkaufsraum blitzen die Maschinen, Pokale und Zubehörteile. Zunächst nehme ich mir eine Kappe, diesmal mit rotem Streifen. „Ein halbes mußten wir suchen, um sie aus reiner Baumwolle machen zu können,“ verrät er .
Am Haken hängt sein letztes Werk in blau, auf Wunsch des japanischen Kunden, dessen Name bereits auf dem Oberrohr steht, mit einer 11fachen Campa „Potenza“ (sic!) und ausgestattet und sehr leichten Laufrädern. Die Begegnung von altem Handwerk und dem Gesetz des neuen Marktes. Die Meinung von Herrn Csuka gebe ich nicht wieder, dafür gibt es den Blog von retrogrouch.
Als wir in den Verkaufsraum zurückkehren, fällt mein Blick auf Teile , die zum Exorzismus des Middle Aged man in Lycra benutzt werd – eine Reihe Wolltrikots – in rot, grau und taubenblau. Der Stoff kommt mir beim anfassen bekannt vor. Ich kenne ihn von den bretonischen Seemannspullovern, eine sehr dichte verzwirnte Wolle, die meine Mutter uns immer abends am Atlantik überzog und dann noch half, den letzten Knopf auf der Schulter zu schließen.
Und hier steht es: . . .
Eindeutig bretonisch, teurer als eine Kappe von Castelli und billiger als ein Lycra von Rapha. Der Trick des Exorzisten hat funktioniert, ein rotes Trikot meiner Größe ist in die schlichte Papiertüte gewandert. Im nächsten Frühjahr, wenn es dann morgens in Celsius noch nicht zweistelltig ist, werde ich es einweihen. Und vielleicht mitnehmen auf die eroica primavera, der Frühmesse aller Mamiws . . .
Der Peugeot parkte hinter der Bahnunterführung auf der Seite nach Clichy, dort, wo früher die Distille von Picon und der Distillerie du Centre lagen. Die alte Landkarte gilt nicht mehr, die Gegenwart verbaut mir Richtung Clichy die Weiterfahrt mit einem neuen Bürokomplex in grauweiß. Abstecher auf den Peripherique, an der Porte de la Villette staut es sich, ich muß also weiter im Osten versuchen, ins Zentrum vorzustoßen, ungefähr auf der Höhe von St Ouen.
Das Radio sendet Neuigkeiten aus der Cité des Cosmonautes . Hinter dem futuristischen Namen verbergen sich die tristen Wohnkomplexe der Banlieue, die nach dem Krieg auf aufgelassenen Werksflächen errichtet wurden. Diese Cités verkörpern ziemlich genau das, was man mit „sozialer Brennpunkt“ umschreibt.
Von den Immigrés, den Migranten, die sich seit den 50ern dort ansiedelten werden schillernde Formen des Einzelunternehmertums betrieben. In letzter Zeit konzentrieren sich die Überfälle (die es immer schon gab) auf eine neue Personengruppe: Chinesen.
Jugendgruppen greifen auffallend oft Chinesen (die ebenfalls in cités leben) auf offener Straße an, schlagen sie nieder , nehmen auch den Tod in Kauf, um sie auszurauben. Zwei Dinge machen die Asiaten zum Ziel Nordafrikanischer oder Arabischer Delinquenten: sie gelten als erfolgrecih und erheben selten Anklage. Außerdem tragen sie oft Bargeld bei sich, da sie Kreditkarten und anderem Plastikegeld mißtrauen. Daß Sie einer anderen Rasse angehören, fügt sich ins Opferschema.
Während die Reporter weiter über die Bemühungen der Politiker – Besuche im Viertel – um diese neue Wählerschaft berichten (ein chinesischer Tourist gibt in paris ca 3500 Euro pro besuch aus), rolle ich Schritt durch St. Ouen. Überall stehen weiße Lieferwagen in zweiter Reihe, auf den Gehsteigen sind feste und improvisierte Marktstände aufgebaut. Die Erben der Schwarzmarkthändler, die sich aus den entrepôts um den Boulevards de ceinture bedienten. Der alte Stadtplan und der Neue begegnen sich.
Kleider, Sportswear, Schuhe, Fußballtrikots und Schuhe, Schuhe, Schuhe. Nicht weit vom ehemaligen Flohmarkt, auf dem deutsche Antiquare noch immer gern für ihre neobürgerliche Kundschaft Stilmöbel jagen, hat sich ein endloser grauer Markt etabliert.
Ein in Korsika gemeldeter Peugeot wird von zwei Männern stapelweise mit Schuhkartons beladen – alles Nike tm. Während der Bericht über die rasssich motivierten Überfälle auf vermeintlich (oder tatsächlich) reiche Chinesen weiterläuft, lasse ich langsam den AMrkt hinter mir.
Fäschungen? Überproduktion? Beides? Egal, -ich habe gerade etwas verstanden, : der bauch eines 400m langen Containerschiffes ist sehr groß. Niemandem zeigen, was ich hier gesehen habe, das Geschäftsmodell der Outlet Center und Premium Brand Stores darf nichts davon erfahren. Der Middle Aged Man/lady in Lycra muß weiter an die Knappheit der Waren glauben, sie verlöre sonst jeden Wert –
Die Sklaven der Postmoderne sitzen nicht mehr in den Banlieues und gehen jeden Tag 12 Stunden auf Schicht. Die unsichtbaren Millionen sind weit weg, manchmal stürzen Fabriken über ihnen zusammen, doch der Strom ihrer Waren scheint uferlos. Wie sang Jacques Dutronc (1968):
„700 Millions de Chinois – et moi et moi …“
Die Graumarktdealer aus der Cité des Cosmonautes, die Jahrgangsbesten des Betäubungsmittelhandels , die es zu den ehrbaren Kaufleuten der Container-Outlets gebracht haben müssen unter sich bleiben. Paris gewährt ihnen diesen Freiraum in St.Ouen und bittet höflich, keine Chinesen auf offener Straße umzubringen. Gewidmet allen, die nie den cités entkommen werden.
Eine Hürde muß ich an diesem Samstag noch nehmen, um ins Zentrum der Stadt zu kommen; die indische Straße: Inschriften in Sanskrit. Restaurants, Food-Import, Taschen, Stoffe, Schmuck , Autokennzeichen aus England und anderen (noch) EU Staaten. Im kleinen Peugeot auf Augenhöhe mit der Welt unterwegs.
Eine ganze Stunde später sehe ich den goldenen Engel der Freiheit über der Place de la Bastille schweben, auf dem Platz ein Kordon von gepanzerter Polizeifahrzeugen. Menschen mit Fahnen, Megaphone, ein roter Stern auf gelbem Grund. Die kurdische Arbeiterpartei demonstriert für die Freilassung ihres seit über einem Jahrzehnt inhaftierten Führers. . .
“ J’y pense et puis j’oublie . . “
Paris, 30. Oktober 2016. ich fasse mein rotes Wolltrikot an. Ein Stoff für jedes Wetter und viele viele Jahre.
Sehr lehrreiche Exkursion, chapeau! Die ganzen Namen der Umland-Städte und Gemeinden klingen seltsam vertraut in meinem Ohr, obwohl ich mich immer nur innerhalb des Autobahnrings aufgehalten habe. Nach einigen Ortschaften sind ja Straßen und Stadttore benannt, aber das erklärt nicht alles.
Das zahlende Publikum soll brav intra muros bleiben. Alles jenseits ist den Kommissaren der Sureté vorbehalten. Das waren noch Zeiten.
Ja, in so einer Stadt – London ähnlich – findet eben alles simultan und in viel konzentrierterer Form statt. Es wird vor Ort verständlich, warum die Antworten von Pegida und LePen darauf „unterkomplex“ sind und vor allem von Unkenntnis zeugen. Sie führen zu keinerlei lösungen. V.a. dann nicht, wenn dan der Wühltisch-rush des Protestbürgers am Wochenende beginnt oder alle vom günstigen Kakao (Weihnachtskonfekt) profitieren wollen.