Die Erdkugel dreht sich nicht zurück, der Pfeil der Zeit kennt nur eine Richtung. Jeder weiß es, jeder spürt es. Wie kam es dann dazu, daß Begriffe wie retro oder vintage in fast allen Bereichen der Konsumgüterwelt einen positiven Klang haben, wenn auch nur ein retrolook gemeint ist? Alles so schön retro oder was?
Der populäre Buch- und Medienphilosoph Precht macht sich seine Gedanken. Einen davon, den ich sehr richtig fand war die Beobachtung, daß uns keine positive Utopie vermittelt wird. Was er politisch meint und gesellschaftlich, spiegelt sich auch in der Welt der Güter und Innovationen.
Retro in Form des braunen Ledersattels ist zwar ein Verkaufsargument – jedoch in Form einer negativen Utopie. Das hartgegerbte braune Leder als Versprechen einer Wiederkehr des besseres Gestern ist Unfug. (Die Vinylscheibe als Versprechen einer authentischeren Musik auch)
Natürlich hat es etwas verunsicherndes für late adaptors jenseits der 40, wenn sie fürchten müssen, schon im nächsten Monat sei ihr Smartphone obsolet, das Betriebssystem ihres Computers (fast ein altmodischer Begriff) nicht mehr virensicher usw. Auch meine (sehr junge) Tochter fühlt sich leicht verulkt, wenn g++gle sie zu einem update drängen will, für das ihr robustes, intaktes aber leider schon 16Monate altes Gerät nicht ausgelegt ist.
photo simon robinson
Je älter wir werden, umso weniger wollen wir unsere Alltagsentscheidungen revidieren. Unangenehm ist das Gefühl, entbehrungsreich erworbene Objekte seien eigentlich potentieller Sondermüll. Einerseits. Andererseits ein Unbehagen, das aus akkumulierter Erfahrung resultiert. Wir best ager treffen Entscheidungen und wissen, was wir nicht brauchen. Wir schätzen an Dingen das Beständige .
Für meinen kleinen, übersichtlichen Bereich weiß ich, daß ich an einem Hinterrad mit 6 Ritzeln auskomme, 7 als goldene Mitte empfinde und 8 als Luxus bezeichne. Das sind 12 bis 16 Übersetzungen. Schaltungen dürfen indexiert sein, müssen es aber nicht, es geht wunderbar, wenn man nicht Rennen um sein Brot fährt.
Damit befinde ich mich im inzwischen fest etablierten , graumelierten Segment der Retro- und Vintagefreunde, eine Marktlücke für Kindheitsträume, Jugendschwärme (meist) von Herrn in den besten Jahren.
Diese Vintage-Retro Nostalgie, das Geschäftsmodell des Touristico – con- Folklore unternehmens Eroica (20jahre!) hat mit meiner Selbstbeschränkung auf 7 Ritzel nichts zu tun. Genauso wie die Reduktion auf einen CD Player oder einer Zahnbürste ohne Elektroantrieb. Den Erkenntnissen, daß es zwar ungeheure Fortschrite auf vielen Gebieten der Technik gibt (keine alte Glühbirne mehr in den Fassungen) – aber auf anderen in Entwicklung und Produktion ein Peak längst hinter uns liegt.
Der alte Sharp Rechner beispielsweise, den ich heute in der Hand hielt, ist genau so ein nicht-vintage aber doch vintage-Ding. Es ist ein 40 jahre alter Taschenrechner, der sämtliche Rechenoperationen die ein alphabetisierter Mensch braucht mittels der extrem verbreiteten Batterieart (AA) auf LCD Display erledigt. Niemand käme bei AA Mignonzellen aber darauf, sie als retro zu bezeichnen. Bei Solarzellen noch weniger.
(Walker Evans beauty of the common tool)
Viele Gebrauchsgegenstände des 20. Jahrhunderts sind ausentwickelt wie ein Maulschlüssel. Es käme nur noch darauf an sie (in gleichbleibender Qualität) weiter zu produzieren. Nur ist das mit der Weiterproduktion eine unrentable Sache, gerade in unseren Breiten und erst recht zu den von uns geschätzten Standards. Nun, es gibt sie noch, die guten Dinge.
Vintage ist ein second life der fantastischen Dinge, die aus über fünfzig Jahren Massenproduktion unzählig vorhanden sind ( Mobiltelefone: zweistellige Millionen)!- und deren Gebrauchswert in den nächsten 50 Jahren nur unerheblich sinken wird. Räder sind nur ein Randbeispiel, aber vielleicht ein gutes weil Erprobtes .
Der zukünftige Leben der Erzeugnisse die uns eine Generation lang überflutet haben, ihr vintage future, könnte von einer just entstehenden Produktionstechnik gesichert werden: dem 3D – Drucker. Es sind schon viele spektakuläre Probestücke gezeigt worden. Vielleicht liegt der größte Nutzen solcher Drucker am Ende in unspektakulären Kleinstserien für schlichte Ersatzteile. Könnte passieren, würde sich rechnen – auch in der Gefühls-Bilanz.
Thema Weiterproduktion: erforsche mal das I-net mit dem Bergriff „Manufactum“. Leg aber vorher alle Zahlungsmittel sicher bei Seite. Da wird man echt schwach. Manufactu bietet übrigens auch Fahrräder an. Natürlich in Stahl und klassisch gemufft.
Zufällig liegt hier noch ein alter manufactum katalog von 1993 herum, den ich gerne aufschlage. Das kleine Kaufhaus in Berlin hat mich auch oft gesehen, auch wenn es nur Kleinigkeiten waren oder ein ausgezeichnetes Brot. Ich erinnere mich dort an eine Olympia Schreibmaschine, gefertigt in Mexico für 600 DM. Auf Flohmärkten bekam man die schönsten deutschen Reiseschreibmaschinen zum gelichen zeitpunkt nachgeworfen . . . . .
und da setze ich ja eher an. Die guten Dinge gibt es eben noch und zwar in Überzahl, sie wollen nur gefunden werden!
Bester Crispinius, mit großem Genuss habe ich endlich Dein Blog gefunden.
Denn es stehen große Fragen an, die mit den Vintage-Dingen zusammenhängen. Und zwar: wirst Du am 6.5. in Montalcino an den Start gehen? Wollen wir zusammen die große Runde in Angriff nehmen?
hochgeschätzter Arno,
dies ist der erste Kommentar, den ich für einen Österreicher freischalte (auch wenn es keiner sein sollte) – willkommen und herzlichen Dank!
Nun, Montalcino wird mich heuer (so sagt man doch) nicht sehen. Am 30 April ist flêche-allemagne: die Sternfahrt ist für mich eine Premiere und da lasse ich die Toscana diesmal sausen. Wenn auch mit Bedauern, gern wäre ich mit Dir die 150km gefahren. Aber berichte von Rad und Leuten und bitte auch von der Verpflegung !
Naja, Deutschland war nicht mehr frei… also hatte ich damals einfach Österreich als digitale Wahlheimat genommen.
Flêche Allemagne klingt natürlich auch grandios. Der Kumpels wegen werde ich aber in jede Fall in die Toskana.
Diesmal mit eigenem Rad. Der Don hat mir ein Koga Pro Racer S in Blau/Rot mit Chromgabel verkauft! Und damit geht es nun an den Start. Ohne Gnade. I shall miss you!
Hat der Fachverkäufer es also geschafft. Eine sehr ordentliche Maschine die sicher einen Freundschaftspreis wert war . . . . Gib ihr die Sporen auf der langstrecke und vergiß die Bilder nicht. Eine Runde um montalcino bedeutet, daß die Ankunft bergauf erfolgt.
Hier bricht gerade der frühling durch: dementsprechend optimistisch bin ich beim Vorbereitungstraining für die Flèche, die ja ein Team-Event ist. Aber nichtsdestoweniger: werde die primavera und die Geselligkeit dort natürlich vermissen. Ich hoffe auf massenweise Bilder.
All the best!