Als wir Söhne das Haus meiner Eltern auflösten, fiel mir diese aufwendig gerahmte, alte Tranchotkarte zu. Sie stammt ursprünglich vom napoleonischen Landvermesser, der die gerade eroberten Rheinlande systematisch erfaßte. Der Ausschnitt, den mein Vater rahmen ließ, zeigt die Gegend östlich von Aachen und reicht weit in die Eifel hinein. Tranchot leistete dieser Gegend damit einen wertvollen Dienst, denn diese herben und vor allem armen Gegenden waren noch noch nie trigonometrisch erfaßt worden.
Mein Vater kam aus der Eifel und heute erst begriff ich: die Karte war für ihn auch Kindheitserinnerung. Für uns (seine Söhne) schon ein fernes, rätselhaftes Stück der Welt . . . . das auf einen Besuch wartete. Vor allem auf den Punkt in der Mitte hatten wir es abgesehen.
Eine Woche nach dem Kauf war es so weit. Das Wander- und- Arbeitsrad meines Bruders war fahrfertig. Bei einer Schrittlänge von 93cm wird es knapp mit serienmäßigen Sattelstützen, auch bei 64cm Rahmenhöhe.
In den 80er Jahren befand sich das Raleigh Imperium im Umbruch. Einst größte Fahrradfabrik der Welt- das Empire brauchte Räder- war sie mit veralteten Produktionsstätten und Überkapazitäten konfrontiert. Die fertigungstiefe war riesig ,die personalkosten auch. Auf schrumpfende Märkte drängten fernöstliche Anbieter. Die Werksanlagen leerten sich Jahr für Jahr. Der Rest ist Geschichte
30 jahre später wissen wir zu schätzen, daß Raleigh damals noch eine große Bandbreite an Rennradtypen anbot und die Lackiererei gute Arbeit leistete. Das Criterium12 war ein „Einsteiger“ Rennrad, immerhin mit konifizierten Rohren . Die Ausstattung ein interessanter Mix aus japanischen, belgischen und französischen Komponenten. So erlaubt die Sakae SA Kurbel die Montage kleiner Kettenblätter bis zu 34 Zähne- 1987 war das eher unüblich, heute fährt ein Kompaktkurbel beinahe jeder: sie macht Berge zu Hügeln.
Für ein Rad, das zukünftig als „commuter bike“ beladen wird , eine nützliche Sache. Jetzt die Probefahrt Richtung Eifel nach Tranchot, zurück in den Winter, der eingefrorenen Erinnerung nach. Der Schneefall hatte gestoppt, leichtes Tauwetter.
Das kleine Städtchen R. mit seinem mittelalterlichen Burghügel, der barocken Kirche und der Kaserne liegt von Obstbäumen umgeben in Sichtweite der Eifel. Es steht noch unter dem Einfluß des warmen Rheinbeckens, nur die Luft ist im Sommer schon spürbar leichter. Wir nehmen Kurs West/Südwest.
Die langen, unmerklich ansteigenden Geraden erlauben an einem „frischen“ Rad Feineinstellungen. Der Mitfahrer als Bordmechaniker lauscht aufmerksam und freut sich über das schöne Surren der neuen Kette und des Freilaufs. Die Eifel kommt näher, der Wind schickt uns einen frischen Gruß von den Schneegebieten, die wir bald erreichen.
Nach einem kleinen dutzend Kilometern schlängeln wir uns durch das flache Tal der jungen Erft, einem Bach, der bald zum Industriekanal wird und später in den Rhein ausfließt. Hier ist sein Wasser frisch und klar, gefiltert von Tongruben ringsum. Die Dörfer werden kleiner, aus Feldern Wiesen
Hinter Antweiler: Schneegrenze erreicht. Schloßhotel: Eine Braut probt für den Lichtbildner den Ausstieg aus einer schwarzen Limousine vor Mauer. Wie rollts? Schön weich, sagt mein Bruder. Alter Stahl fürchtet nichts.
Wir dringen in die Eifel vor , zum Geburtsort unseres Vaters. Spurensuche: sehen was geblieben ist und vielleicht das Grab vom Schulfreund Karli finden. Der kleine, sehr kleine Ort in der Gemeinde Kall , unweit vom Kloster Steinfeld ist unser Ziel: 250 Höhenmeter sind es noch bis zum Stück Familiengeschichte.
Für den Lehrer Josef Sanders war die Schule des kleinen Dorfs in dem er seine erste Stelle antrat eine sichere Möglichkeit, in harten Zeiten seine Familie zu ernähren. Für einen Rheinländer und seine Frau kein leichtes Brot in einer bäuerlichen Dorfgemeinschaft von vielleicht 200 Seelen. Verschlossene Menschen, karges Dasein.
Das nächste Tal, Eiserfey. Die Sonne glitzert zwischen den Bäumen, ein paar Wanderer. Wir steigen mit Genuß hinauf , endlich Ruhe vom Wind. Und die nächste Anhöhe, immer weißer, dem Winter entgegen.
Dann versuchen wir uns an einer Diretissima. Das erste steile Stück geht noch., Tauwasser schafft eine Fahrtrinne, die immer häufiger von Schneeplatten unterbrochen wird. Mein GrandpRix 4seasons muß mit Traktionskontrolle bewegt werden, beim großen Raleigh sind es Zaffiros von Vittoria. Am schlimmsten fährt es sich, wo Traktoren ihr vereistes Reifenmuster hinterliessen. Dann ist es nur noch festgefahrener Schnee – aber es rollt. Wer nciht absteigen muß, hat gewonnen.
Alles nur Steuerkunst. Der Kopf ist gefordert in der Abfahrt, endlich wieder Teer unter den Reifen. Nun sind wir in der wirklichen Eifel, einer rauhen, hügeligen Gegend, in der die Häuser des 19 jahrhunderts kaum 1m80 hohe Decken hatten und manches Bett eine Sitzkoje war. Zwei drei Kurven später: hier ist Steinfeld
Wir erkennen die beiden Türmchen der Basilika am Horizont. Das Kloster liegt auf einer Höhe jenseits der Urft, dessen Tal wir gleich überwinden . Die große Klosteranlage gehörte Jahrhunderte über zum Prämonstratenserorden, an dessen Spitze sich Söhne umliegender Adelsgeschlechter ablösten.
Bis es unter napoleonischen Besatzung- Säkularisation, Landvermessung, code civil – 1802 aufgelöst wurde, um erst ab 1923 wieder (auch) als Internat genutzt zu werden. Die Schule, die mein Vater und sein älterer Bruder als Externe 1948/9 besuchen, sie wohnten nur 2 km entfernt. Wir halten kurz hinter dem Tor und tanken mit Riegeln aus Marzipanpaste schnell Energie auf.
Der Bücherschrank sticht spektakulär aus der tuffsteinfarbenen Umgebung heraus . Nach 4km erreichten sie das Schultor gemeinsam auf dem Rad , daß sie, zusammen mit einem Doppelbett für den Opel P4 ihres gefallenen Vaters bekommen hatten.
Dann erreichen wir die Abzweigung, die uns zum Dorf führt. Wir halten kurz und überlegen, wo die Schule lag. Die Häuser stehen eng an der Straße, dicht an dicht im Hang.
Schnell ist die Dorfmitte erreicht, dort, wo die Busse halten. Wahlen Kirche heißt die Haltestelle an der Baulücke. Daneben muß auch die Schule gestanden haben, das Elternhaus meines Vaters und die Kirche, der Punkt auf der tranchot karte. Sie wurde vor einigen Jahren abgerissen . . .
Wir verlassen den Ort nach Westen hinaus – ins freie Feld. Es liegt Schnee, genau wie damals, am 25 Dezember 1944, als das Dorf voller Soldaten ist und die Schule am Vortag noch dem Generalsstab als Quartier diente. Mein Vater und sein Freund Karli packen die Schlitten. Aus den Beschreibungen der Ardennenoffensive wissen wir, daß das Wetter sich gebessert hatte. Nach wochenlang trübem Wetter. An diesem Tag konnten alliierte Flieger wieder starten. Um 11h30: Fliegeralarm. Mein Vater ist mit seinem Schlitten draußen am Waldrand. Er sagte, er habe Karli noch gerufen bevor die Maschine auftauchte.
Die Maschine hatte ein doppeltes Leitwerk, eine B 24..
Mein Vater zog dann Karli noch auf seinem Schlitten durch das brennende Dorf nach Hause : „dem Karl ist der Kopf ausgelaufen. . .“ Die Jungen waren in den ersten Luftangriff des Tages geraten, der die Dörfer der Umgebung in Flammen setzte. Karli war tot, das Dorf ausgebombt, die Schule auch, alles verbrannt. Es blieb nur die Flucht . Drei Kinder mit ihrer Mutter ; weil Jabos auch Fliehende unter Beschuß nahmen, wartete die Familie auf ihrer Flucht aus dem brennenden Dorf bis zur Dunkelheit draußen unter den Hecken am Weg. Zwei Tage später erreichen sie Düsseldorf.
Und das war nur ein winziger Splitter im Universum des Krieges. Aufheben.
Wir sind im Nachbarort Marmagen (target of opportunity, 11 Bomber) , stärken uns mit Vollkornbroten der Bäckerei. Wir sind die letzten Kunden für diese Woche und machen dafür gerne Werbung: es war ausgezeichnet. Dort kauften meine Urgroßeltern ihr Brot. Draußen wird es heller.
Der Rückenwind hebt unsere Stimmung, zurück in die Sonne, zurück in die Zukunft.
2mal Raleigh.
Wunderbar, Dein Ritt in Vergangenheit und Zukunft. Das „erdet“ und tut der eigenen Seele gut. Besonders, wenn man danach wieder gut gelaunt nach vorne schaut. In diesem Sinne: all the best vom Didier
Danke Didier,
Das internet als historische Quelle ist von unerbittlicher Genauigkeit. Was als Fragment der Erinnerung existierte wird fast zur unmittelbaren Erfahrung. Es war kein leichtes Stück.
Schön, das Raleigh in Action zu sehen. Und auf die Tranchot-Karte gucke ich auch immer wieder gerne, weil sie einen anderen Blick auf mein angestammtes Radrevier zwischen dem Rhein, der Maas und den Wolkenfabriken ermöglicht.
Hallo Christoph,
ich habe Deinen Blog entdeckt … und da wurden doch viele Erinnerungen an unsere gemeinsame Kindheit und Jugend wach 🙂
vor allem mit dieser Geschichte und Deiner Tour mit Stephan auf den Spuren eures Vaters. Dass er in der Eifel geboren wurde, wusste ich übrigens gar nicht. Jedenfalls beeindruckende Geschichte.
Vielleicht schaffen wir ja doch noch mal ein Wiedersehen.
Herzliche Grüße
Juppi