Hard ’n Heavy
Ich bin mitten in Gießen. Die Bestellung beim Imbiß der Stunde läuft, es dauert ca 20 Minuten. Angeboten werden bei Gutburgerlich seit frisch gegrillte Hamburger mit Beilagen. Die Schlange geht bis an die Tür, was ganz gut ist, denn so kan der letzte ein wenig Frischluft in den rappelvollen Laden lassen. Die Hamburger tragen Namen, je nach Ausstattung. Vornamen wie Robert, Lasse und Käthe stehen zur Wahl, die weitläufig nach Ikea klingen. Oder Rotkäppchen.
gespeist wird auf Hackbrettern mit zweifellos rustikalem Charme. Hier sind auch verwilderte Randonneure willkommen. Die Lage zwischen Parkplatz und Innenstadt ist günstig. Entweder belohnt man sich vor oder nach dem Einkauf. Auf den Bänken vor dem Grill ist noch ein Platz frei und wie schon in Wetzlar: der Menschenstrom reißt nicht ab, viele tragen sichtbar ein goldfarbenes Smartphone und gehen ganz reell auf Warenfang.
Also auch ich. Gleich nebenan ist mein geschätztes Antiquariat. In einer Universtätsstadt gibt es so etwas (noch) und ich bewundere Antiquare für ihren Mut. Anders als abgetragene Turnschuhe oder 10 jahre alte Autos behalten Bücher ja den erworbenen Gebrauchswert. Lesen nutzt sie nicht ab, gute Inhalte bereichern möglicherweise den Käufer mehr als er ahnt. So gesehen sind sie geradezu lächerlich billig und doch reißen die Versuche nicht ab, uns von der (noch billigeren!) elektronischen Form zu überzeugen, weil Papier daheim so eine Belastung sei. Dafür bewundere ich Antiquare – sie stellen sich gegen eine Zeitströmung, die ich einmal Virtualismus nennen möchte. In einem neuen Sinne sind Antiquare bekennende Realisten.
Zurück zum reellen Hamburger
Das Hackfleisch für den Burger wird – ganz nach Wunsch- verschieden stark auf einem Edelstahlblech durchgebraten. Es zischt und qualmt und die Meister am Grill kommen mit dem Wenden kaum nach. Wer einmal so einen Hamburger genossen hat, kehrt so schnell nicht zu den tristen Ketten des plasticfoods zurück. Auf den „Lasse“ lasse ich noch ein Spiegelei draufpacken und ordere die volle Pommesladung aus echten Kartoffelstücken. Auch da frage ich mich, wie es so weit hat kommen können, uns zu auf kartoffelrestpulverbasierten Tiefkühlpommesverdauer (procesed food) degenerieren zu lassen. Für einen Zehner war ich dabei!
Satt, zufrieden, den Ranzen voller Lektüre für die nächste Woche mache ich mich aus dem Städele hinaus. Die Baulücke ist eine letzte bittere Kriegsnote und für alle, die es noch nicht wußten, verrate ich zwei Details zum Untergang Alt-Gießens am 6.Dezember 1944. Sie stehen direkt im zusammenhang mit der Gummi-Insel.
Die Poppe Gummiwerke bestanden seit dem jahr 1911. Schon der erste Weltkrieg stürzte die Firma in eine Produktionskrise, denn Naturkautschuk war plötzlich kaum verfügbar. Die Situation entspannte sich nach dem Konflikt , doch erst 1935 gelingt es, die Abhängigkeit von den brasilianischen und malaysischen Gummipflanzungen zu beenden. Die IG Farben hatte in Leverkusen mit dem Butadien-Natrium Verfahren eine industrielle Lösung zur synthetischen Gummiproduktion patentiert. Das Werk Buna entstand (heute Dow Chemical) und die Poppe Gummiwerke wurden von der IG Farben beauftragt, mit dieser Schlüsseltechnologie Dichtungen und andere Gummiteile zu produzieren. Rüstungsgüter.
Dies und die Lage als Schienenknotenpunkt waren die zwei Faktoren, die das Schicksal Gießens besiegelten. Die völlige Vernichtung der alten Fachwerkstadt ( und der Gummiwerke) erklären, weshalb Gießen wie Pforzheim eine völlig neu konfigurierte Stadt geworden ist. Die steinerne Gummi- Insel gegenüber blieb.
Max Goldt, der Satiriker , der sich einmal ausgiebig über Gießens Fußgängerzone lustig gemacht hat (die Kugel in unseren Köpfen), hat das vielleicht so nicht gewußt. Aber er kannte auch noch nicht die shopping-malls vor den Toren der Stadt.
Nicht mehr lange mein Kind, und du bist auch dort. Der Gummi-Insel entkommen
Wieder gut geschrieben – gefällt mir.
Herzlichen Dank!
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