Zurück in den Eiskeller – Flèche 2017

Dies ist eine kleine Landstraße in Mittelhessen, nicht weit von Marburg, aber es fühlt sich anders an. Es fühlt sich wie der Beginn von etwas sehr weit Entferntem an. Angesichts der Milchstraße, die sich ab Mitternacht deutlich über uns abzeichnet, erinnert es mich an die ersten Worte von „das schwarze Loch“ : Kälte,  Leere,  Unendlichkeit.

Aber diesmal bin ich nicht allein. Flèche Allemagne 2017, k m 220+~-.

 

Die Flèche ist eine Sternfahrt, zu der sich kleine Gruppen von Randonneuren anmelden, um einen bestimmten Punkt in Deutschland binnen 24h zu erreichen. Es gibt ein kleines Organisationskomitee, bei dem sich die Teams übers Netz melden und ihre selbstgeplanten Routen einreichen. Teams und Routen werden geprüft und für gut befunden. Die Minimaldistanz beträgt 360km, wer will, darf auch länger fahren.

Die Flèche Allemagne findet alle zwei Jahre statt, aber 2017 ist ein besonderer Jahrgang. Die kleine Gemeinschaft namens ARA Deutschland (Audax Randonneurs Allemagne) feiert ihr 25jähriges Bestehen und hat alle Interessierten zum 30. April an die Wartburg gerufen. Die Wartburg ist nicht nur eine Art deutschprotestantisches Nationaldenkmal, Eisenach liegt auch geometrisch recht mittig in Deutschland. Das hat mich überrascht, aber ich bin noch ein Kind der alten Bundesrepublik.

Unser Team hatte sich im vergangenen Winter sehr bald virtuell zusammengefunden. Eine gemeinsame Fahrt bestätigte den Realismus des Vorhabens, die Gruppe funktionierte, wie es im Jargon heißt . Um dem Unternehmen historische Bedeutung zu verleihen, tauften wir es: „vom Deutschen Eck zur Wartburg“. Der Veranstalter akzeptierte, es gab schlimmere Kampfnamen, von denen  mir >Mofakutten Mongos< noch am ehesten in Erinnerung ist.

Es ist eine Premiere: ich sitze in der Lahntalbahn und genieße die Fahrt nach Koblenz an den Start. Zum ersten mal sehe ich meine bekannte Radstrecke an der Lahn  von der Gegenseite. Vom Nebel ins gleißende Licht gibt es immer wieder neue Turner-Momente und ich frage mich kurz, ob ich um dieses Radrevier nicht zu beneiden bin. Die Frage ,  weshalb ich diese Gegend überhaupt hinter mir lasse, lasse ich gar nicht erst zu. Vor allem sehe ich, daß es ein kühler und sonniger Tag wird. Ein letzter Espresso und los.

Der erste Teil unserer Strecke führt wunderbar rollend nach Süden  – die touristisch bekannte Route am Rhein entlang. Doppelt schön, weil die Kühle Luft doch die meisten noch in ihren Wohnmobilen verharren läßt.

Dies beispielsweise ist der Stellplatz „Loreley“ direkt ggü. namentlichem Steilfelsen . Fast jede Lücke zwischen Rhein, Gleisen und Straße  ist so besetzt. Wenig später dann unsere erste Kontrolle.  Unterhalb des Niederwald-Denkmals verlassen wir die Uferstraße um durch die Auen des Rheingaus zu kreuzen.

Wir sind am wärmsten Punkt der Reise und gefühlt ist dies ein anderes Land. Die Nachtigall höre ich das erste mal in diesem Jahr. Kleingärten verströmen ersten Rosenduft und werden mit dicken Gartenschläuchen gewässert: es hat im April nicht geregnet. Beim überfahren eines Schlauchs hüpft mir mein kostbarer 5er Inbus zum dritten mal aus dem Gepäcknetz. Als ich nach rechts austrudle geht meinem Hintermann R.H. die Straße aus  und er rollt ins Gras ab. Ralf weiß noch nicht, daß er der Held dieser Fahrt sein wird.

Nachdem wir Mainzer Industriekultur besichtigt haben (Erdal,Schott) und uns Ampeln den Rhythmus rauben, überqueren wir  mit klingendem Spiel den Rhein. Das klingende Spiel rührt vom Hinterrad des Teammates Albrecht B her. Ein rhythmisches,  klimperndes Geräusch, das niemand so recht verorten kann. Auf dem Anstieg nach Hochheim halten wir in den Weinbergen . Während erfolglos das Hinterrad inspiziert wird beschließe ich, Ralfs Rucksack zu übernehmen und ihm bei nächster Gelegenheit Voltaren zu kaufen. Die Sache hängt an einem Faden.

Das lagoonblaue Raleigh sieht dies alles mit der stoischen Gelassenheit seiner 37 Jahre. Rechts unter ihm erstreckt sich die Mainebene. Dort thront das große Opelwerk –  ein beeindruckender Tanker, wie lange wird er noch flott bleiben ? Wir ziehen weiter durchs RheinMainGebiet und umfahren großräumig die hauptstadt der Effizienz.

Wir  gönnen ihr nur einen kurzen Blick, etwa so lang wie es dauert „Niedrigzinspolitik oder „Schuldenschnitt“ zu sagen,  denn der ein- und ausströmende Freizeitverkehr das Großraums Frankfurt (d.s. die Menschen , die den Vorzug haben, übermorgen wieder in eines dieser Gehäue zu verschwinden) erfordert unsere gesamte Konzentration und Geduld. Gut, daß wir einen ordentlichen Zeitpuffer aufgebaut haben. Unsere aktuellen Sorgen kreisen um eine ausgekugelte Schulter und ein ausleierndes Hinterrad. Aus meinen Touren erinnere ich mich an einen übergroßen Radsportladen in BadHomburg, den wir bald streifen müssen. Dort ist er schon.

In diesem Freizeitparadies geht es hoch her. Es ist bald 17h und ich muß aufpassen auf der Teststrecke nicht unter die Räder zu kommen. Albrecht B führt sein klimperndes Hinterrad in der Zwischenzeit einem Mechaniker vor, der erwartungsgemäß keinen Fehler findet.  Wir verlassen das übervölkerte Territorium und stoßen in die Weite Mittelhessens vor.

langsam werden die Schatten länger. Hier ist es die Mauer des ehemaligen Klosters Rockenberg, die  uns die Sonne nimmt. Heute sitzen dahinter die Finsterlinge unserer Zeit ihre Zeit ab. Gleich ist Gießen erreicht,  Halbzeit der Flèche. Auf der Ausfallstraße Richtung Marburg entdecken wir eine ordentliche, fast leere Gaststube mit Sonnenterrasse. Man ist sehr zuvorkommend und wir sind dankbare Gäste.

Alkoholfreies Weizen ist der sundowner des  Randonneurs. Ich bewundere den Sonnenuntergang und spüre die kühle Luft hinaufzeihen. Der biologische Akku ist wieder voll, es kann losgehen.

Albrecht R (im Bild li.) hat nachgedacht. Die Geräusche kommen von den Speichen und werden immer lauter. Die Speichen lockern sich, Kilometer um Kilometer. Er wird lieber abbrechen, als eine Nachtfahrt von fast 200km unter diesen Umständen zu riskieren.  Er hat recht: eine Werkstatt bekommen wir bis Eisenach nicht mehr zu Gesicht. Wir tauchen ohne ihn in die Nacht ein. jetzt sind wir  zu viert. Das Reglement sieht eine Ankunft zu (mindestens) dritt vor.

Und Diese Nacht ist wie ein Eiskeller, der immer dunkler wird. Am Anfang geht es noch flott, denn durch den hohen Kalorienpegel ist uns fast zu warm. Aber unmerklich sinken mit den Höhenmetern die Temperaturen,.Zunächst rieche ich noch die blühenden Büsche , den schwach schimmernden Raps und die Tiere im Stall. Hin und wieder erleuchten Feuer die Wiesen, davor Jugendliche neben Bierkisten. Wir spüren die Wärme bis auf die Straße. Im freien Feld bläst ein kalter Wind uns ins Gesicht. Sich klein machen.

Irgendwann erkenne ich  Kontrolle 1 der vorigen Nachtfahrt wieder. Nur eine Stunde später diesmal   –  und der Verkaufsraum ist schongeschlossen. Weiter hinauf nach Nordosten, genau wie letztes mal. Nur kälter:  0 (null) grad leuchtet es von einer roten Digitalanzeige auf die  B454 hinunter. Homberg an der Efze leuchtet herüber auf die ewig steigende Straße. es ist sehr ruhig und wir sind nur noch zu Dritt.

 

 

 

 

 

 

 

 

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2 Antworten zu Zurück in den Eiskeller – Flèche 2017

  1. mark793 schreibt:

    Dem Mittelpunkt des wiedervereinigten Deutschlands im thüringischen Niederdorla hat der unvermeidliche Max Goldt ein schönes literarisches Denkmal gesetzt. An anderer Stelle hatte ich mal gelesen, der Mittelpunkt der alten Bundesrepublik habe in Rennerod gelegen (das Dir ja gut bekannt sein dürfte). Damit genug der Abschweifung, Hoffentlich wird es in der Fortsetzung der Geschichte wärmer, denn mir kriecht schon beim Lesen die Kälte die Beine hoch.

  2. crispsanders schreibt:

    Es wird im gegenteil noch ein paar Grad kühler. Zieh Dich warm an! Rossmann grüßt derzeit mit einer Flasche Colle Senesi, chianti casea die leo. Andere Welten . . .

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