Es führt kein Weg zurück in die Kindheit, aber einen Versuch könnten wir machen. Den alten Ferientrack nach Paris zum Beispiel. Unter Brüdern in zwei Tagen? Pourquoi pas?
So ein 404 brachte uns dortion : allerdings in dunkelgrün. Der Windabweiser vom Schiebedach war hellorange und die Rückspiegel saßen weiter vorn auf den Kotflügeln.
Unablässig folgten meine Augen dem Tacho, der selten die 100kmh Marke überschreitet. Der Weg durch die Ardennen war schmal, der Schalthebel am Lenker wurde oft bewegt. Eine Fahrt führte direkt in den Mai 1968 – Demonstrationsbummeln. Ich stehe auf dem Getriebetunnel, halte mich an den Vordersitzen fest und sehe den Sonnenuntergang. Ich bin nur 3 Jahre alt – der Peugeot 404 bringt mich noch in viele, viele Ferien . . .
Nein, wir sind mit unseren Rädern nicht derselben Route gefolgt. Städte und vierspurige Ausbaustufen von Nationalstraßen sind verbotenes Terrain. Mit einer Komoot-modifizierten Route auf dem GPS und zwei Landkarten folgen wir einer parallelen Strecke, an den Eifelausläufern entlang über die belgischen Ardennen.
Der Weg führt durch sanfte Gerstewogen rund um Düren am Hürtgenwald vorbei . Viele rote RTF Wimpel säumen unseren Track. Nach einem ersten längeren Anstieg erreichen wir gegen Mittag Kornelimünster. Wir wählen das Café Paris für ein frisches Eis und espresso obliggato.
Das gemütliche Café, der restaurierte , verkerhsberuhigte Marktplatz, das alte Kloster. Radgruppen ziehen vorbei, Traktoren fahren Heuballen in die Eifel, Feiertagsruhe.
Über eine unsichtbare Grenze an Aachen vorbei, weiter nach Eynatten und Eupen. Die Landstraße führt immer geradeaus, auf und ab; manchmal rauscht die Autobahn herüber.
Es sieht gut aus: der Track funktioniert, der Wind kommt schwach aus West, also von dreiviertel vorn, die Sonne scheint aber sie brennt nicht. Im Peugeot hätten wir jetzt mit den dünnen verchromten Kurbeln die Scheiben leicht heruntergedreht.
Bis Limbourg ist Belgien ländlich-beschaulich – , ein guter Ort für die Mittagsrast und Proviantbesorgung beim Delhaize Supermarkt. das erste Chimay blau findet den Weg in unsere Kehlen. Einen ausgezeichneten Radladen können wir auch empfehlen: Beckers. Doch es hat sich etwas gändert,
Wie alte Decals blättern auch die Straßen und Häuser leicht ab. Kaum ein Industriebau des Tals scheint noch genutzt- der Weg nach Verviers ist holprig und bald biegen wir in die Reste einer einst blühenden Stadt im Wesertal .
Ich sehe ganze Häuserzeilen leerstehen. Auf den Straßen ist es lebendiger.
Am 3 Juli soll Verviers nochmal durch die Tour de France beatmet werden. Und dann? Warum denke ich an Pittsburgh und daran, daß jemand versprechen könnte, Belgien wieder groß zu machen?
Es ist wohl längst vergessen, daß dieser wallonische Teil Belgiens in der Mitte des 19 Jhdts eines der führenden Industriezentren war. Überall gab es Kohlevorkommen und es brannten die Hochöfen. Die 1200km der Wuhau-Peking Eisenbahn wurden in 2 Monaten mit Lütticher Stahl verlegt. Belgien hat das dichteste Eisenbahnnetz der Welt, als Deutschland noch ein Flickenteppich von Privatbahnen ist. Das Internet 1.0, die Highspeed Datenkabel des 19 Jhdts . Was ging schief?
Was wir entlang des Flusses sehen, sind die immer noch soliden Reste eines großen alten Wohlstands. Wir sehen im Vorbeifahren aber auch eine griechisch-orthodoxe Beerdigung, eine Moschee und einen riesigen Asiamarkt mit bunten Säulen zwischen verfallendem Backstein.
Denn Belgien, das ist auch die Geschichte eines anderen großen Stromes, die ich hier wirklich niemandem vorenthalten möchte. Ich muß allerdings das Geschichtsbuch aufklappen und erheblich vom Track abweichen.
Im Jahr 1878 beauftragt kein geringerer als der belgische König Leopold II einen bekannten englischen Afrika-Abeteurer, H.Morton Stanley. Es ist der Mann, der Livingston aufspürte, und er soll eine Expedition der besonderen Art führen. Stanley hat den Auftrag, das Land um den Fluß Kongo auszukundschaften und dort , ausgestattet mit privaten, königlichen 50 Millionen Goldfrancs, die Schaffung einer königlichen Kolonie ermöglichen. Stanley verhandelt mit den Häuptlingen am Fluß, die für die Nutzung und faktische Überlassung ihres Bodens ein paar Stoffballen erhalten. Der Traum einer eigenen königlichen Kolonie ist greifbar nahe, es müssen nur die Nachbarn (Konkurrenten) noch zustimmen. Bismarck vermittelt die internationale Kongo-Konferenz in Berlin. 1885 ist Leopold II (von ehedem Sachsen-Coburg) anerkannter Kolonialherr. Ein genialer Zug, denn er ist nun mit einem Streich legitimer Eigentümer eines Landes, das 80mal wertvoller als sein kleines Belgien ist. Es sind unermeßliche Bodenschätze und Rohstoffe: Elfenbein und Kautschuk sind mehr als Gold wert.
Dem dunklen Fluß setzt Joseph Conrad ein Denkmal im Roman „das Herz der Finsternis“, dessen plot wiederum „apocalypse now“ übernimmt . Der Kongo ist belgisch. Und vielleicht kommen sie jetzt zu uns, um sich die Zinsen von Elfenbein und Kautschuk zu holen?
Das Olympiastadion der Textilindustrie, jetzt ein Denkmal für die 20.ooo Menschen, die die Textilindustrie von Verviers schon 1880 beschäftigte.
Wer sich noch mit der Mikrosoziologie Belgischer Verhältnisse und dem Nachglühen des Kongo beschäftigen möchte, kann zwei Werke zur Hand nehmen, die der Sache eher gerecht werden als ein vorbeiziehnder Radler:
Pedigree von Simenon, An der Biegung des großen Flusses von VS Naipaul und viele andere……
All das liegt hinter uns, die strammen Anstiege aus den Tälern der Weser (Vesdre), der Ourthe und die ersten gnadenlosen Betonwege. Wir sind nicht mehr weit von der alten Route und gleichzeitig weit draußen. Der Wind nimmt uns auf den Höhenzügen in Empfang und trägt den Geruch von Kühen hinüber (manchmal) und den der Linden, die gerade zu blühen beginnen.
Die Dörfer sind schnell vergessen, mein Track eine magentafarbener Wurm mit einem kleinen blauen Dreieck und oben links eine kleine Kompassnadel auf dem gps-navi. West/Südwest. Ein weiterer Supermarkt versorgt uns und dann entdecken wir die Linie 126, einen Ravel.
Ravels sind die Erlösung des Radfahrers. Er muß sich nicht mehr um konkurrierende Motorzeuge kümmern, die Beläge sind angenehm glatt und fast immer hat sich entlang der Bahnlinien üppiges, dichtes Grün gebildet , ein doppelter Schutz. Radfahrer und Lokomotiven haben eines gemeinsam: sie mögen keine größeren Steigungsgrade. Meilen machen. Ciney erreichen. Der Spitze Kirchturm ist eingerüstet, also weiter ins Tal der Maas, über die alte Allee nach Dinant, genau wie von 1966 bis 1978.
Wir stürzen uns in die Altstadt, die an diesem Pfingsttag voller menschen ist, die irgendetwas feiern, trinken oder essen wollen.
Der Schönheitssalon hat gerade geschlossen und wird mit den Wocheneinnahmen sicher etwas sinvolles anfangen.Auch ich bin auf der Suche nach ein wenig Abwechslung oder einem guten
Bierkellner – und mein Wunsch wird erfüllt!
Mit diesem Bier mittlerer Gewichtsklasse wird es gehen, denn die letzten 30km die Maas entlang sind nichts für zarte Schinken. Wenn das unser Verkehrsminister wüßte! Aber die Leute in San Pablo wissen eben nicht alles. Sie wissen nichts von der Trauer alter Grenzstädte, abgerissenen Hotels, verwaister Staustufen, Heckenrosen und räudiger Asphalt. Vor den Pommesbuden stehen die tiefergelegten Renaults und Hyundais Schlange, alte Wehrmauern richten ihre Vorsprünge gegen die Wolke, die das Atomkraftwerk ihnen schickt. Das Kraftwerk, dessen orangenes Leuchten nachts das Tal flutet.
Unsere Etappe endet im Schatten des Kühlturms und seiner stets rosigen Wolke.
Die Leute von San Pablo verlieren eben ihren Humor nicht so schnell. Gute Nacht.