Die Räder haben auf uns gewartet, während wir beim Bäcker waren – dem einzigen Laden, der hier in Haybes vor 7 öffnet. Pain au Chocolat, Apfeltasche, Croissant, das reicht und versüßt den Morgen . Wir rollen uns an der Maas entlang ein, nur ein Fuchs ist Zeuge beim Start zur zweiten Etappe Richtung Paris.
Die letzten Hügel der Ardennen warten jetzt auf uns, noch stecken sie in den Wolken. Der Tag ist neu, der tag ist frisch – wir haben gut geschlafen, die Lungen füllen sich mit Sauerstoff. Es ist Pfingstsonntag, der Geist der Randonneurs schwingt sich den Anstieg aufs Ardennenplateau hinauf.
Über 200 km sind es bis zum Grand Paris. Auf die Ardennen folgt die Thierache, eine weite, grüne Landschaft; nach Laon folgen die Hügel um Aisne und Oise und schleißlich die Ile de France.
Auf dem Plateau liegt Rocroi, eine Festungsstadt. Mittendrin auf quadratischer Marktanlage 1 Café und es ist geöffnet. . Die langen Alleen Frankreichs erwarten uns. Gegen die Morgenfrische wärmt das doppelte Trikot, ein Wald schützt vor aufkommendem Wind. Einige Kilometer Flüsteraspahlt. Wir sind allein auf der Welt , Dorf um Dorf wird durchfahren – menschenleer. Ich spähe schonmal nach Lebensmitteln , denn dieser Pfinstsonntag wird lang.
80 km Ruhe, Weite und Wind liegen vor uns. Es erinnert an Paris Brest ohne Publikum. Dieser Teil Frankreichs, die Thierache, ist ein Land wie vor 100 Jahren, außer daß Nebenstraßen jetzt grob geteert sind. Alle 4 Meilen ein Dorf, alle 20km eine kleine Stadt. Wirklich modern ist dagegen die Landwirtschaft. Neben dem kleinteiligen Belgien wirken die Flächen immens. Die Fabrikhallen der Agroindustrie sind leer und still und Vögel selten.
Dann wieder die kleinen Dörfer mit ganz eigenartigen Wehrkirchen und kleinen Türmchen. Absolute Sonntagsruhe .
der Dorfgendarm hat gerade bei diesem fahrenden Händler eingekauft. Wir schließen uns an und sind versorgt, bevor das Dorf erwacht. Er hat sich so aus der Arbeitslosigkeit gerettet, wie er erzählt, aber in ein paar Monaten ist die Rente erreicht, dann muß er nicht mehr als Solist die Kisten tagtäglich ein-und auspacken. Er fragt nach dem woher und wohin – wir füllen uns die Taschen mit Aprikosen, Tomaten, Nektarinen und Bananen. „Hier – nehmen Sie diese noch, sie ist schon angeschlagen!“ Die Geste zählt .
Bis nach Laon, der großen Stadt, sind es jetzt über 50km, also satte zwei Stunden. Vielleicht mehr als nur ein praktischer Hinweis: Frankreich ist kein Versorgungsparadies. Für Gemeinden unter der kritischen Einwohnerzahl lohnt sich weder Supermarkt, noch Tankstelle, noch Bäcker, noch Dorfkneipe. Nicht nur ein Einkommensproblem. Manchmal hellen Kinder die schweigende Einsamkeit auf.
Bäume sind fast so selten wie Windräder, wir sehen sie verborgen in kleinen Nischen und Bachtälern.
Dies Felder machen einen aseptischen Eindruck. Genaugenommen: wurden aseptisiert, denn es ist ein margenschwaches Geschäft. Der Getreidebauer hofft auf centbeträge bei den Weizenkursen. Fast gierig sauge ich den seltenen Geruch von Wiesenkräutern und blühenden Sträuchern auf, wenn wir ein kleines Bachstück passieren. Schon habe ich ein Insekt im Auge.
Die Zitadelle von Laon kommt in Sicht, rückt langsam näher und an der Straße liegen die Kabel der Zukunft. Sie sind armdick und sorgen für das Hochgeschwindigkeitsnetz, das die Informationen in die Dörfer trägt – vielleicht um Landflucht zu bremsen?
Das Netz ist körperlos, der Asphalt aber rauh — auf 23mm kann man das deutlich spüren, genau wie den Gegenwind der endlosen Ebenen. Reifen die für eine Dobrindt-RTF ( Rundfahrt auf Flüsterasphalt) reichen sind im Nachbarland zu schmal. Doch wir schaffen es
Kurz vor 12 sehen wir die Kathedrale zum greifen nah und gleichzeitig das Schild zum intermarché.: rechts ab. Der bauch geht vor und Der Parkplatz ist voll. Also Glück gehabt, bis 12 geben sie uns Zeit , Vorräte aufzufüllen und ein Menu zu komponieren. Intermarché hat auch Chimay blau, intermarché ist ein guter Markt, ich liebe es Tm . Für unser Picknick
Vollkornbaguette, Salamiwürste in Naturdarm, wieder Tomaten, Salz, Fenchel , le Tartare, dann lassen wir uns auf den Schachtdeckeln nieder, die frei von Kaninchenkötteln sind. Langsam leert sich der Parkplatz, die Angestellten gehen nach Hause. Bald ist es in dieser Vorstadt ruhig wie auf den Dörfern. Ein altes LED Panel blinkt Werbebotschaften ins nichts, Ampeln wechseln die Farbe, Frankreich ist schön.
Das hat auch ein englischer Triumphclub erkannt, der mit anderen Oldtimerfreunden hier seine Ausfahrt startet. Den brexit auf seine Weise feiern? Wir bleiben natürlich viel zu lange bei unserem Café und den Autos.
Nur ein grüner 404 mit drei wilden Jungs ist nicht zu sehen.
Unsere Erinnerungsfahrt endet in ungefähr 140km; davor noch eine historische Begegnung, nachdem wir das Tal bei Urcel überwunden haben.
Mein Rad lehnt am Denkmalkreuz. Jenseits der Straße erblicken wir eine Granate aus Beton. Jeff Koons hätte Edelstahl genommen, aber dies hier ist non-Pop.
Diese eigentümlich realistische Plastik ist ein Kriegerdenkmal, das an ein Artillerieregiment erinnert. Wir sind an der Laffaux Ecke vom sogenannten Chemin des Dames. Dieser Höhenzug mit dem friedlichen Namen dominiert die Aisne Senke. Vor 99 Jahren waren diese paar km ein über Jahre erbittert umkämpfter strategischer Punkt, der tausende und abertausende Menschenleben forderte. Die Granate als Symbol für tagelanges Dauerfeuer; keiner dieser Bäume hier dürfte am 31 Mai 1918 gestanden haben. Es war alles gepflügte Erde voller Knochen. Für die nächste Stunde hat uns der erste Weltkrieg eingeholt, immer wieder rücken Kriegsgräberstätten und Erinnerungsschilder in Sicht.
Und dann und wann ein alter Alfa Romeo mit niederländischem Kennzeichen. Die nächste historische Ausfahrt. Diesmal um das Thema Alfa, diesmal unsere Nachbarn aus Holland. Sie treffen sich alle unter einer Ruine.
Das ist die Abtei von Longpont. Wir haben Soissons, die nächste große Stadt über Bucy gut umfahren können, von einem Tal ins andere, vorbei an merkwürdig kleinen Häusern mit quadratischen Grundriß. Dann wieder in die Felder , an den Hecken vorbei.
Der Tag ist mild und die großen Wälder beginnen. Einst Jagdreviere für den Hof , sind sie heute mächtige grüne Lungen, von sternförmigen Wegen durchzogen. In einem dieser Wälder verfahren wir uns.
Es ist der Wald von Villers Cotterêts, Vergnügungspark Franz 1. aber auch (und wieder) strategischer Ort des großen ersten Krieges. Nicht nur an den werden wir monumental erinnert, wir begegnen auch dem Gespenst der Straßen von Verviers: dem Kolonialismus.
Dieses Monument entdecken wir kurz nach dem Walsdsaum direkt an der D2- wo es nicht stehen dürfte, wenn wir der Karte trauen. .. Zunächst halten wir es für die pompöse Erinnerung an einen der vielen mehr oder weniger ruhmreichen Kriegsführer der Entente. Man erinnert sich dunkel an den großen Film von Stanley Kubrick.
Mitten im Wald von Villers-Cotterets stand der Beobachtungsturm General Nivelle, von dem aus er das Schlachtfeld der Aisne überblicke. Nivelle war einer der „scharfen“ Generale , die am stärksten die verlustreichen Offensivschläge befürworteten . Zudem hatte er, nach englischem Vorbild der „gelben Kraft“ Truppenerweiterungen im Sinn: er setzte auf die force noire, die Bildung afrikanischer Regimenter wie den Tirailleurs Sénégalais, die zwangsweise „rekrutiert“ wurden, und rechtlos waren.
Seit langem werden deren Enkel und Urenkel in den Stadien bejubelt und Weltmeister genannt. Doch Frankreich gesteht seinen schwarzen Truppen erst mit diesem Jahr (meist posthum) die französische Nationalität zu.
Und nun van Vollenhoven. Der zugewanderte Holländer aus guter Familie hatte Kolonialerfahrung (s. Monument) und meldete sich freiwillig zur Grande Guerre. Mit General Nivelle gerät er jedoch in offenen Konflikt. Als Gouverneur der westfranzösischen Afrika-Kolonien widersetzt er sich der Zwangsrekrutierung, hält sie für menschlich unzumutbar. Man scheidet im Streit, Frankreich braucht jeden Mann. 1918 , nach Ablösung Nivelles erhält v.V ein neues Kommando. Unweit von hier, in Montgobert wird er tödlich getroffen.
Die Toten der einen, die Toten der anderen. Mein holländisches Rad sieht das Monument jetzt in einem anderen Licht. Wir sind nur Radwanderer, die die Geschichte streifen, zufällige Passanten auf Kindheitsabenteuer. Unsere europäische Sache endete glücklich und friedlich. Aber eine Neue beginnt – ein kleiner Abbildungsfehler in der Landkarte, ein Monument und schon wird deutlich , daß über 100-Jährige Gleichungen nicht aufgelöst sind.
Wir sind unterwegs zum Grand Paris. Die Wälder sind groß und ruhig, der Asphalt bessert sich und wir genießen es. Die Räder rollen seit 10 Stunden. Ein Sonntag in der Provinz.
Auf Schlössern werden Garden-Parties gefeiert, an kleinen Dorfkirchen
fassen 1000jährige Portale alte Holztüren ein . Und oben auf den Feldern fehlt das Wasser –
– für die Rüben. In unseren Trinkflaschen ist ebenfalls Ebbe, bis wir in St Soupplets zum letzten mal Proviant fassen .
Ein stoischer Marokkaner sitzt zwischen brummenden Kühltheken. Noch 35km . Letzte Dörfer, letzte Waldstücke.
Hinter einem Vorhang von Rauch die ersten Hochhäuser des Grand Paris. Wie ein kleiner Bleistift ragt der Eiffelturm aus dem Horizont. Ein Airbus 380, ein großer blauer Buckelwal, senkt sich langsam hinab. Wir sind in der Einflugschneise von Roissy en France.
Der Asphalt wird rauher, die Sitten der Autofahrer auch. Alle fahren schneller, bremsen hektisch und biegen wild ab. Stadtneurotik . Unser Finale ist eine reine Nervensache. In Claye-Souilly
erspähe ich ein ganz altes Straßenschild, dem wir folgen. Die Landpartie ist beendet , der Strom der Autos reißt nicht mehr ab und wir lernen, darin nicht unterzugehen. Neben uns Motorräder mit baumdicken Hinterreifen. Hier müssen Sie nur eines können: Als erste von der Ampel weg. Wir folgen dem verbrannten Gummi.
Der lange Weg, der vor uns lag ist liegt hinter uns. Bald wird er beginnen, in unserem Kopf seine eigene Geschichte zu schreiben. Dinge, die nur flüchtig sichtbar waren und schnell vorüberzogen, kehren zurück, werden größer und bleiben als Standbilder für lange Zeit. Es ist nicht mehr der Weg unserer Kindheit, auch wenn es hier dieselbe Straße ist. Die Zeit hat eine andere Farbe bekommen und ein anderes Tempo. Kodachrome ist tot. Wir sitzen nicht mehr auf de Rückbank und entziffern die Straßenschilder.
Wir halten unser speckiges Lenkerband fest in der Hand und umfahren Kanaldeckel. Die Straße der Eltern liegt zwei Teerschichten tiefer.
Eine letzte Ecke, eine untergehende Sonne. Gleich sitzen wir in einem Garten voller Rosen, satt vom Abendessen und voller Geschichten von Mai 18, Mai 68 und den Folgen. . .
15.juni 2017