Ich werfe eine Münze: Nord oder Süd? Südlich wartet der Taunus, nördlich geht es in den hohen Westerwald. Wenn der Wind nicht zu schlimm pfeift, kann es da ganz erträglich sein – schön ist es dort immer.
Nordwärts. Also Richtung Hachenburg, an den Tälern von Nister und Wied entlang, auf den Basaltkuppen Ausblicke genießen, im Schuß durch stille Wälder rauschen.
Es ist Wahltag. Nach dem Urnengang in der kleinen Mehrzweckhalle lichtet sich der Nebel und die Sonne übernimmt für den Rest des Tages. Hinauf – was weiß schon das Stimmvieh?
3fach: Ein merkwürdiger Infekt hat sich eine Woche lang eingeschlichen, eine Erkältung ohne Erkältungszeichen – allgemeine Schwäche. Darum zur gemütlichen Ausfahrt auf meine erste Gazelle, die mein Vater 1982 (ein Optimist) auf Zuwachs kaufte – ein 64er Rahmen mit Dreifachkurbel, damit kann ich die Anstiege des Tages touristisch genießen.
Der hohe Westerwald beginnt hier in Stufen, die Höhenzüge gewinnen nach Nord je 50 Meter, dazwischen sanfte grüne Täler. Wo sich Wiesen nicht lohnen, wächst Wald. Kurs Nord: folge über die Landstraße dem Elbach Richtung Westerburg.
Die Kennzeichen alter Traktoren bezeugen von der ehem. Kreisstadt : WEB, – die namensgebende Burg liegt trutzig auf einem Kegel und ragt zwischen dunklem Laub heraus. Vorher biege ich rechts hoch, eine Kirche ruft.
Die Kutsche kommt vom Wahllokal und rollt vorbei. Linksrum geht es zur Kirche.
Durch zwei Waldhänge nach Nord und West geschützt liegt auf einem Sockel über dem Elbach: Gemünden, ein Dorf dessen weißer Turm weithin sichtbar ist. Zugereiste hören den Satz: Priester, Lehrer und Basalt, all dies hat der Westerwald – also genug Kirchen; diese hier ist eine der Ältesten, erwähnt wird sie im 9ten Jahdt, ausgebaut im 12ten als drei! schiffige Hallenbasilika und zur Stiftskirche (u.a. der Herren von Westerburg) bestimmt.
Sie ist älter als die Kirche von Brechen: link , die ich im Frühjahr anfuhr. Eine solche Kirche interessiert mich weniger wegen der architektonischen Stilübungen- und lösungen der Epochen, oder weil ich darin die Wurzel eines Glaubens suche.
Diese Kirchen sind Sonden, die in die Tiefe der Zeit reichen. Gebaut für die Ewigkeit, hat Generation um Generation hineingetragen was sie maßgeblich fand, was ihre Mitglieder definierte, ausrichtete und zusammenhielt. Regelmäßig finden sich dann Zeichen der irdischen Herrschaft,
die uns als Bilderrätsel an der Wand bleiben. Fast 500 Jahre nach dem Übergang der Gemeinde zur Reformation stehe ich nun hier.
Noch verleugnen solche Dörfer Hockneys (a yorkshire lad!) Aussage: there is only suburbia or bohemia. Diese Dörfer außerhalb der Pendlerzone bewahren oft Grundrisse, die ihnen die Bewirtschaftung von Feldern und Wiesen gaben. Die Vorstellung, daß sich 800 Jahre lang die Gemeinde eines kleinen Dorfes regelmäßig hier vereint- das ist es, was mich in solchen Gebäuden beeindruckt. Die nächste Überraschung kam vom Licht der Kirchenfenster.
In Bleiglas finden sich die Opfer des ersten Krieges eingegossen, in die Haut der Kirche aufgenommen, den Enkeln und Urenkeln – diese sind nicht weit – immer noch zur Erinnerung. Als Einheit ist die Erinnerung sichtbar, aber die Kirchen leeren sich auch hier, genauso wie die Kinderzahlen abnehmen, vielleicht nur langsamer als anderswo.
Im Vorlauf zu dieser Wahl wurde der Heimatbegriff arg gedehnt, man könnte sagen negativ strapaziert. Auf einmal taucht die lang verloren geglaubte Rede von der Überlegenheit eigener Kultur auf . Wenn dabei Bikinis über Burkas oder Miniröcke über Minarette gestellt werden, so sind das schon seltsame Vergleiche. Andere Parteien rufen dagegen zur Ordnung auf. Die Unordnung scheint eher in den Köpfen zu herrschen
oder an den Werbetafeln: die Leitkultur der Kirchenfenster haben wir hinter uns gelassen. Aber es gibt immer eine Leitkultur, deren Symbole wir aufgreifen und bewahren. Wie weit das Vorbild reicht zeigt sich, wenn man an einer einsamen Landstraße in einem einsamen Landstrich ein town car entdeckt.
Dies ist das Bullauge der Leitkultur des kalten Kriegs, ein vom Kutschenbau übernommenes Stilelement, durch das sicher auch der neueste Präsident der Vereinigten staaten (US) geblickt hat, als er nur Immobilienunternehmer war und downtown das nächste Spekulationsprojekt besichtigte.
Fast wie es einige Wahlplakate hier verkünden war sein Versprechen, die Heimat wieder groß zu machen und mit groß meint er in etwa das, was dieses Auto verkörpert hat.
Also eine gotisch- barocke Stilmischung als Versuch, den Traum von Größe als eine Kathedrale in Blech zu übersetzen. Schon lange sind die Towncars gekürzt worden und dieses alte Amerika träumt jetzt hinter dem Dorfimbiß von seinem Erwachen. Die schwenkbaren Scheinwerfer öffenen oder schließen sichgerade, ganz wie man will: ob es den Ruf seines Präsidenten gehört hat? (…Fatherland).
Statt aus einem gepanzerten Bullauge zu blicken, traue ich traue lieber dem, was von der Höhe meines Sattels zu sehen ist.
Der Traum der regelmäßig in Megastädten erwacht, ist der vom besseren Leben auf dem Lande. Ich tue hier natürlich mein Bestes, diese wiederkehrende Sehnsucht nach der unverfälschten Idylle zu stillen und sie zu fördern. Die Hügel sind malerisch, die Straßen kurvig und voller Ausblicke, das Land grün und die Luft rein: so rein! Honig gibt es hier an jeder Ecke.
Ich lasse mich auf und ab tragen, wähle kleine Gänge und randonniere von Dorf zu Dorf, von Wahllokal zu Wahllokal. Meine Lieblingsroute hat sich dem Gedächtnis eingeprägt, das sich schon vor nächsten Kurve auf die Aussicht freut.
Schon rolle ich Hachenburg entgegen, wo mich eine nette Tankstelle erwartet mit gutem Kaffee und einem großen Sortiment von 3000 Zeitschriften, ja, this is not America
Die Stadt ist gut besucht, die Temperaturen erlauben tatsächlich noch ein Eis , so macht das wählen Spaß. Und die Leute hier wissen, was sie von dem Wort Heimat als (Wahl) Kampfbegriff zu halten haben. Was ihnen dabei präsentiert wird ist ja eher Karikatur , so wie unser altes town car ebenfalls nur zur Karikatur seiner Heimat taugt. Denn sie wissen es besser: mein hiesiges, recht übersichtliche Fleckchen Erde teilen sich drei Bundesländer, auch wenn das unlogisch ist, denn die Sprachgrenzen verlaufen an anderer Stelle. Sehr begehrt kann der Landstrich nicht gewesen sein.
Wahrscheinlich ist es ein jahrhundertealtes Problem sehr dürftigen Auskommens, das dann zum Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe führte. Ein dutzend Kilometer nördlich gründete Raiffeisen die erste Genossenschaftsbank.
Bald wieder fliege ich an Schafweiden vorbei und steige auf in tanniges grün. Manchmal nehmen die Wolken überhand, manchmal belichtet Sonne die Wiesen, aber es ist gut ein langes Trikot zu wählen in dieser Jahreszeit. Und dann sehe ich die vermeintlichen Vorbilder der Redakteure und Werbedirektoren cum midlifeburnout auf Knien zu mir emporblicken.
Sie haben einen alten Kartoffelroder aufgetrieben, (so ein Ding was schon ein 12 PS Traktor ziehen kann) und klauben die Kartoffeln der neuen Ernte auf. Das sind keine großen Mengen und ich weiß, der aktuelle Kilopreis einer BIOKartoffel liegt um 1 Euro incl .19%MwSt. kartoffeln? Als Hobby gut. Umsonst sind einzig die Baumfrüchte, die über den Zaun fallen.
Ich schließe die geglückte Runde (Wolken, kein Regen, mehr können wir nicht erwareten)- mit einem Pils, einem Hachenburger, dem ich, da ich eben an der kleinen Brauerei vorbeifuhr, voll vertraue. Es hat eine Auflage des Bieres gegeben, in der auf Kronkorken die Dorfnamen der Umgebung nach Zufallsprinzip gedruckt wurden.
Die Leute seine über die Kästen gestiegen, um das Bier mit dem Namen ihres Dorfes endlich zu finden.
Der Faszination so alter Dorfkirchen kann ich mich auch kaum entziehen. Interessanterweise findet man solche Inseln der Dörflichkeit auch in mancher Großstadt, in Duisburg-Friemersheim etwa, wo die Dorfkirche auf das Jahr 1147 zurückgeht und das Ensemble der umliegenden Gebäude auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert. Das wirkt alles so unbeeindruckt von dem Moloch der HKM-Hüttenwerke auf der gegenüberliegenden Rheinseite und dem LKW-Verkehr im Logport auf dem früheren Krupp-Gelände in Rheinhausen.