Die Welt ist grün und blau heute, es ist kurz nach 18ooh, wir sind unterwegs. Hessen liegt vor uns – 400km davon . Wir sind in Lollar, einen Steinwurf nördlich von Gießen.
An der Zweckmäßigkeit solcher Bauten der frühen BRD-Neuzeit gibt es nichts zu knabbern, sie tun ihre Pflicht, geben der Schar umherziehnder Radzigeuner ein willkommenes Startdach.
Und alles geht leicht, die Gespräche sind anregend, der frische Ostwind kein Problem für die ausgeruhten Beine am Anfang des Brevets . Km 0-60. Welliges Land, ruhige Dörfer die noch lange keine Vororte sind.
Solide und aus dem vollen geschnitzt wirken die Fachwerkdörfer Richtung Ziegenhain. Diese unter Landgraf Philipp 1537 massiv befestigte Stadt strahlt auch heute noch Gediegenheit aus. Weder im schmalkaldischen noch im 30 jährigen Krieg wurde sie eingenommen. Wir Radbummler durchkreuzen in friedlicher Absicht eine nach guter Küche und Pizza duftende Hauptstraße. Auf den Landgrafen komme ich noch zurück.
Die kleine Gruppe fährt der immer niedriger stehenden Sonne entgegen, hin und wieder von sehr weiten Aussichten belohnt, die Siedlung auf dem Vulkankegel weiter hinten sollte Amöneburg sein. In Wellen kommt uns nun warme Luft aus den Stallungen entgegen, hin und wieder Insekten; letzte Traktoren beenden den Tag.
An dieser Shell Tankstelle hält kurz der muntere Ritt . Im letzten Jahr noch Kontrolle, endet hier der erste Abschnitt des Brevets nach gut zwei Stunden Fahrt. Einige versorgen sich, alle ziehen Überkleidung für die nun rasch eintretende Dunkelheit an. Es werden ein paar neue Mitfahrer aufgenommen, die schon vor uns eintrafen.
Gemeinsam ziehen wir über die große Bundesstraße auf nach Homberg /Efze. Das Profil der Bundesstraße bis km 80 ist wellig, auf dem Randstreifen lösen wir uns gegen den Wind ab. Als Gruppe hilft das, genauso wie es Sicherheit verschafft, denn in der Dämmerung ist es gefährlich für den Einzelnen. So geht es bis Homberg. Das Tempo ist zügig, es gibt viele „junge“ Mitfahrer, was sehr willkommen ist. Wir sehen den Umriß der Stadt auf dem Berg und dringen zur Altstadt vor.
Hier klingle ich mich über Pflasterstein an der massiven Kirche vorbei, mitten durch die sittsame Menschenmenge, die ihr Stadtfest feiert (ohne Scherben). Hier ist ein für Hessen sehr historischer Ort: in der Homberger Synode von 1527 erklärte der oben erwähnte Landgraf Philipp sein Land Hessen nunmehr für protestantisch; – lutherisch genaugenommen und Luther war Zeuge. Damit wurden die hesssichen Klöster aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt. man sagt, das Vermögen sei fürs Gemeinwohl eingesetzt worden, unter anderem zur Gründung der Marburger Philipps Universität.
Dieser Philipp, der mit 13,5 jahren seinem frühzeitig syphillitisch verstorbenen Vater an die Landesspitze folgte, war nicht ungeschickt. Er empfing das Abendmahl aus den Händen Martin Luthers, welcher dem bigamistischen Landesherrn auch die zweite Ehe bestätigte. (Entre nous: Als Katholik wäre das nicht ohne Weiteres möglich gewesen). Die Kinder (mehrere Söhne, einige Töchter) erster Ehe teilten sich Hessen auf, jene aus der Nebenehe wurden zu den nachkommenlosen Grafen von Diez…..
Philipp organisierte also nicht nur die hessischen Vermögens- und Machtverhältnisse neu, er forderte mit gleichgesinnten Fürsten den eigenen Kaiserheraus, in dessen Reich die Sonne nicht unterging , den Habsburger Heinrich den Fünften. Der Erfolg im schmalkaldischen Krieg war eher juristischer Natur, denn seit dem Religionsfrieden von Augsburg 1555 hieß es nämlich: cuius regio eius religio. Ein nicht unbedeutender Schritt.
Das idyllische Homberg(Efze!) eine Keimzelle der ersten deutschen Teilungen zu nennen greift sicher zu weit, aber soviel politische Sprengkraft hätte ich ihm nicht zugetraut, so ruhig und geordnet sich die alte Stadt nach 500 jahren zeigt. Wir ziehen weiter.
Es ist definitiv dunkel geworden, die ersten längeren Anstiege warten.
Gemeinsam treffen wir noch am Nordzipfel Hessisch-Lichtenau ein (km 112), gerade als uns die Lichter der schnellsten Fahrer entgegenrollen. Ich höre das Carbon der Hochprofilräder in die Nacht verschwinden. Danach sehe ich sie nicht mehr wieder.
Hier hast Du die Wahl: durch die Futterluke irgendein unsicheres Aufbackzeugs zu nehmen oder Dich bei Mc Donalds in eine Schlange von verirrten Nachtbummlern einreihen? Richtig Hunger habe ich nicht, der Magen ist nicht richtig fit, die temperaturen nicht schweißtreibend; also beschließt Du, sowohl dem Aral als auch dem McD Lebewohl zu sagen und – da sie noch an ihren Sachen und Flaschen und Taschen rummmachen – den anderen Kollegen auch. Was soll schon schiefgehen, die nächste kontrolle ist nur 35km entfernt. Man sieht sich dann. Um die 150 km und Du stehst wieder allein vor der Futterluke. Also nur um den Stempel betteln und Wasser nachfüllen lassen. Währenddessen die Vollkornbrote auspacken und im kauen (gemächlich) nachdenken. Allein durch die Nacht geht also, ist vielleicht nach 100 forschen Kilometern sogar besser, weil es immer das eigene Tempo ist, das gefahren wird. Die magentafarbene Spur leuchtet zuverlässig und viele Wegmarken fallen mir schlagartig wieder ein. Die schwach schimmernden Burgfriede von Spangenberg, der preußische Bahnhof in Altmorschen. Stille Dörfer im bernsteinfarbenen Licht.
In der Kälte immer wieder Wärmeblasen, die sich vom Tag noch am Hang stauen. Die dünnen Roeckl Handschuhe sind genau richtig und der Fleece-Schal wandert bei den Abfahrten über die Ohren. Absolute Dunkelheit und Stille um mich, ein riesiges Sternenzelt über mir. So dicht, daß die Helligkeiten kaum mehr auseinanderzuhalten sind und die bekannten Formationen verschwinden in einem Haufen kleinerer Sonnen. Linkerhand orange-blinkend ein Leuchtzeichen am Firmament. Nur das Signal einer ICE-brücke.
Der lange Anstieg ins Knüllgerbirge , Tourismus Wegweiser aus geschnitzetem Holz – rustikal und naturnah- tauchen im Lichtkegel auf. Ich erkenne den Weg, ein großer Fernsehmast weist die grobe Richtung. Ein vereinzeltes Auto kommt vom Berg gegenüber herunter. Ich lasse es passieren und schalte mein Fahrtlicht aus. Nun ist es dunkel, sehr dunkel – nach ein paar Sekunden erkenne ich noch die Mittelstreifen, an die ich mich jetzt halte. So ist es noch schöner: das Rad rollt geräuschlos, tief höre ich in den Wald hinein. Nur ein paar streitende Krähen, keine Eulen in diesem Jahr. Manchmal raschelt es ungehalten – Wildschweine. Ein langer, wunderbarer Moment, bis die Höhe erreicht ist, das Dach der Tour.
Gerade schieße ich aus dem Wald heraus, da sehe ich ihn südlich über den Tannen: den gelblichen Mondzipfel, konisch, ein Vanillekipferl . Und dann ist unten im Tal, km170, unter der Bogenlampe schon die Bundesstraße erreicht , die Nordsüdroute von hier bis Fulda. Lichter der Autobahn, das ewige Rauschen, Stelzen der ICE Trasse, Tankstellen. Die Zivilisation ist wieder da und blinkt mir zu. Ich lehne ab; noch keinen Hunger, genug zu trinken und diesmal ist mir nicht nach Abbruch. Weiter durch die Dunkelheit.