Es war einmal : Berlin-Wien

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Über Berlin scheint die Morgensonne und gleich werden unsere Reifen Staubwolken über die Sandwege im Berliner Tiergarten  wirbeln. Vor einigen Minuten haben wir das Amstel House in Moabit verlassen.

bw2Ein schöner Cappuccino hat mich wach gemacht, dann noch einer für die Straße und dann ein kurzes Wiedersehen mit den Freunden der Langstrecke. Danke Takeshi, danke Didier, danke Toni, daß ihr gekommen seid.

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Diese kleine Gruppe ist die Vorhut der ungefähr ca70 Starter, die den Superbrevet Berlin-Wien-Berlin in Angriff genommen haben. Superbrevet bedeutet, daß dieses Unternehmen die 1000km Marke sprengt, die längste Distanz nach dem Regelwerk der Brevets-Randonneurs-Mondiaux. Über 1300km beträgt die Hin- und Rückdistanz, homologiert, d.h. „bestanden“ ist der Brevet nach maximal 90h bei km 1200 in Vetschau. Ich habe das Glück, in der ersten Gruppe zu radeln und kann berichten, wie es bei den Schnellsten zugeht.

Für den Liebhaber klassischer Fahrräder ist es schön, einen Neoklassischen Randonneur zu entdecken, ein hellblaues „Holdsworth“.

bg3Holdsworth ist der Name einer englischen Radmarke, die in den 1970ern auf der Insel einige Rennteams sponsorte. Heute ist es eine Vertriebsmarke, die  gemuffte Rahmen aus CrMo Rohren und (hier) knapp schutzblechtauglicher Geometrie anbietet. Eigentlich mit Gewinden für einen hinteren Gepäckträger ausgerüstet, ist das Modell hier über den kleinen Frontgepäckträger als „französische“ Ausführung aufgebaut worden. Die große Tasche läßt sich auch während der Fahrt öffnen , alles liegt vor dem Piloten.   Die GranCompe 610 Bremsen (Mittelzug) erleichtern diese Variante, ein shutter precision Nabendynamo sorgt für Strom, mit der 10fach Veloce (campa) wird wird ein robuster Kompaktantrieb gewählt.  Die moderne Interpretation eines ganz klassischen Rennrades.

bg5Die Meute hat nach einigem Zickzack die Hauptstadt verlassen und kommt auf brandenburgischen Alleen auf Reisetempo. Unmerklich zieht dieses an, ab km 40 dehnt sich die Gruppe langsam in die Länge. Irgendwo dabei : icke auf Koga. Allmählich beginne ich mich zu wundern. Kontrolle 1 nach 60km wird im Sauseschritt erreicht, ungeduldig scharren die Herrschaften vor dem Tresen der Tankstelle mit den Füßen. Aber : bis alle ihren Stempel haben oder das Sonderangebot „2SchinkenkäsezumPreisvoneinem“  wahrnehmen, kann durchgeatmet werden. Danach wird es noch ländlicher und sandiger, nicht langsamer.

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In den Ortsdurchfahrten wartet Pflasterstein und am Ortsende reift die Erkenntnis, daß da auch eine geschmeidigere, nur wenige Meter längere Route war. Jetzt beginnen mit den Führungswechseln erneute Tempoverschärfungen, nach jeder Ecke geht es aus dem Sattel wie bei einem Criterium. Es schmerzt und den Gedanken an ein harmonisches Brevet sollte man besser ganz schnell vergessen. bg6Der Wind übrigens kommt von seitlich rechts und hier habe ich die erste und letzte Gelegenheit, den schnellsten Fahrer der Landpartie nach Wien in seinem Messenger Trikot am ende des Feldes abzulichten. Er wird gleich auf dem Deich nach Lübben/Lübbenau das Tempo machen. In einer Windstaffel nähern wir uns den 40kmh…. weit über meine Verhältnisse und auch ein netter Holländer in blau deutet an, das Spielchen nicht lange fortzuführen. Im schicksalsträchtigen Wald von Märkisch Buchholz ist die Gruppe aufgespalten worden die zehn schnellsten rasen auf Vetschau zu. Ihre Strategie: ballern und nicht umsehen.bw5Endlich ist die Tankstelle gefunden ( auf dem Track nicht mehr verzeichnet) und so kann ich noch ein letztes Bild der Gruppe machen, die sich für die nächste Hochgeschwindigkeitspartie rüstet. Mit roter Kappe der Holdsworth Pilot  – er sollte als zweitschnellster finishen – , der Rest ist sehr mit sich selbst beschäftigt. Ich werde mich nicht weiter anschließen und stattdessen nach frischem Wasser und Obst suchen. Um meine wachsende Sorge sollte ich mich auch bald kümmern.

bw4Schon vor der ersten Tankstelle begann ein gewisses Prickeln achtern, daß sich nun, vore allem achtern links, zu einem unangenehmen Brennen gesteigert hat. Eine kleine Dorfbibliothek gibt mir Gelegenheit, unter einer Linde etwas spezialsalbe nachzuführen. Der Charme des Ortes ist groß – alle Bücherstuben ziehen mich magisch an, denn immer hofft man auf das nächste, völlig unbekannte Buch Mormon, während gerade eine 20er Gruppe vorbeirauscht. Schade um den schönen Windschatten. (To whom it may concern: Die Spitzengruppe setzt sich zur gleichen Zeit weiter mit einer Übersetzung von 50×16 gen Süden ab. Die Reisegeschwindigkeit liegt bei 34 bis 36 im Flachen, jedenfalls auf den ersten 25okm. Das nur als Anhaltspunkt für alle Ambitionierten).

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Nun bin ich allein mit der Lausitz, in der das trockene, viel zu früh gereifte Korn geerntet wird. Schwül ist es hier  und die Kiefern der rekultivierten Flächen verströmen wenig Trost.

bz3Im Zickzack geht es durch artifizielle Seenlandschaften, kaum habe ich wieder einen Rhythmus gefunden, muß ein neues Hindernis genommen werden  – und jedes Hindernis schmerzt, außer ich gehe in den Unterlenker.  Kurzer Plausch mit einem Mitfahrer, der zwei Navis an Bord hat, eins für die Strecke, eins für die Stoppuhr. Als mit einem Klimpern der schöne Hazet-Inbus über Bord geht, zieht er weiter.

be1Nun beginnt die Suche nach Energie, mit der ich allzu verschwenderisch umgegangen bin. Hier, irgendwo zwischen Spereneberg und Cottbus ist nur ein geschlossener Imbiß zu sehen, der wahrscheinlich die pausenlos durchziehenden Lastwagen versorgt. Ich greife auf meine erste Mettwurst zu. Hoyerswerda naht und wird über eine Kleingartenanlage angefahren, auf die eine Baustelle folgt. Feine Schlacke geht in groben Schotter über, immer noch keine Panne.

be2 Dafür folgt auf die obbligato Pflasterpassage ein altmodischer Bahnübergang. Das Gold der Lausitz rollt im Güterzug vorüber, in Hoyerswerda blühen die Linden, deren Duft ich zum ersten mal heute wahrnehme. Ich bin aus dem Tunnel raus  – langsam begehren andere Sinne auf, die zu lange unterdrückt wurden. Hoyerswerda ist die erste Stadt, die durchfahren wird und es ist die letzte für sehr sehr viele Kilometer. neben der überrestaurierten Innenstadt finden sich , abseits des Track, noch interessante Plastiken einer zukunftsfrohen Zeit

be6Ich biege in die Karl Liebknecht Straße ein und sehe von hinten weitere Mitfahrer kommen. Ich reihe mich ein, das Tempo ist zügig , wir bewegen uns in Einerreihe durch die ersten sorbischen Dörfer. Nach einem sparsamen Stück Unterhaltung gehe ich aus dem Sattel, das Polster bleibt links schon haften, auch wenn ich nachgebuttert habe. be4Es könnte eine Fahrgemeinschaft aus der zweiten oder dritten Startergruppe gewesen sein. Noch 25km bis Bautzen, fahret dahin und lebewohl.

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Aus der Ferne grüßen Kraftwerke, wobei die Gegend lieblicher wird. In den Dörfern stehen vergoldete Kruzifixe im dutzend, der Putz ist grau wie überall und Familien ernten gemeinsam die schwarzen Kirschen. Ich bummle weiter, während die Stimmen in meinem Innern langsam zu einer Einigung finden. In Bautzen wird das Ergebnis der Abstimmung bekanntgegeben.

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Plöztlich große Bäume, Park-Architektur, mächtige Linden und ein Zipfel höherer Gestaltung .

bn1Das ist  Neschwitz : hier reift mein Plan aus. Die  Strecke wird wellig, erste kleine Höhen sind zu nehmen, während in der Ferne Ausläufer des kleinen Erzgebirges zu erahnen sind. Bautzen ist nicht mehr weit, auch wenn wir nicht in gerader Linie darauf zu fahren.

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Überall wird jetzt die Straße von diesen schönen Wegweisern gesäumt, die sämtlich liebevoll restauriert sind. ein kleines Gedenken an die französischen Meilensteine (bornes), die spurlos verschwunden sind. Unsere Zivilisation geht davon aus, in den nächsten 2000 jahren über navigationssysteme zu verfügen und hat dafür mehrere hunderttausend Tonnen an Stein geopfert: hier nicht. Naiv. Die ersten Ziele einer künftigen, bewaffneten Auseinandersetzung werden Satelliten sein, vorzüglich jene, die uns beobachten und koordinieren. Sie sind sehr verletzlich dort oben und verglühen nach der kleinsten Berührung. Aber mein navi tuts einstweilen ganz wunderbar.

bn5Eine Katze beobachtet den Ex-Randonneur in untergehender Sonne. Die Schmerzen sind erträglich aber es gilt, den point of no return eben nicht zu erreichen. Mit allen Salben würde ich es sicher noch 200km „schaffen“ – aber dann? – Wäre ich erst bei km450, mitten in der Tschechei bei aufgehender Sonne. Es wäre nur eine Frage der Zeit, wie und wo ich den brevet abbrechen müßte. Also mache ich es jetzt gleich in Bautzen, bei gutem Wetter und aller Sinne mächtig. Plötzlich bin ich befreit und fahre leichten Herzens auf die Kontrolle zu, Bedauern kommen später – vielleicht. Wien braucht mich jetzt nicht mehr.

Eine Gruppe hat die Tankstelle gerade verlassen als ich eintreffe, andere Randonneure halten ihr Nachtmahl im benachbarten Restaurant und dann kommt glücklicherweise noch die Gruppe um den Organisator Ingo Pluns. Mit dem Hefeweizen in der Hand melde ich meinen Abbruch und wünsche ihm gute Weiterfahrt.

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bn7Dann setze ich Kurs auf Nord und am Ende einer Allee im Abendlicht, gleiten immer noch Mitfahrer an mir vorüber. In Neschwitz habe ich eine Jugendherberge gefunden, in der ich mich in aller Ruhe kurieren kann. DSCF3331

Und wenn alles gut geht, bin ich morgen abend wieder in Berlin . . . .

 

 

 

 

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5 Antworten zu Es war einmal : Berlin-Wien

  1. tinotoni67 schreibt:

    Hoyerswerda, die Stadt meiner Jugend. Jugendklubhaus, Treff 8, Broilerbar, WK7… Schade das der Podex nicht mitgemacht hat, aber vielleicht war es ja gut so.

  2. crispsanders schreibt:

    Nach allem, was ich höre kann ich nur sagen: es war besser so.

  3. Gerald Hildebrandt schreibt:

    Schön, dass dir mein Holdsworth so gut gefallen hat und lernen konnte ich gleich auch noch was 🙂

    • crispsanders schreibt:

      Ja, die Maschine hat mir Freude gemacht, noch mehr aber imponiert mir Deine Leistung. Ich wundere mich immer noch, wie die Streckenverhältnisse in CZ wohl waren und wie man da einigermaßen den Rhythmus halten konnte. Vielleicht erzählt mal jemand, der das überstanden hat.

      • Gerald Hildebrandt schreibt:

        Die Strecken in CZ haben alles geboten: super glatter Asphalt, über Schlaglochpisten bis zu gröbsten Asphalt der nur noch aus Steinen bestand, da der Teer bereits verschwunden war. Dazu Sand- und Kieswege von grob bis fein. Mir hilft Konzentration aber oft über drohende Müdigkeit hinweg, die sich schneller einstellt, wenn es nur easy dahin rollt.

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