Trends in Bikepacking (TCRNo6)

Beim Preis habe ich dann kehrt gemacht. Eine Superleichtluftmatratze – immer noch 270g – für 200 Euro. Der Outdoorshop meiner Stadt ist gut sortiert und schöne Kataloge hat er auch. Bikepacking auf diesem level ist nichts für Schnäppchenjäger. Da ziehe ich mir  die Angebotsbibel der Firma Ortlieb vor, um ein Gesamtbild zu bekommen.

a5Aha. Die Firma uns die erste wirklich monsundichte Tasche baute (commuters delight) hat nun Trendpotenziale entdeckt (commuters dream) und das Sortiment in Weite und Tiefe ausgedehnt. Da spielt der gute alte Katalog, den die Warenversender gerade abschaffen  doch alle seine Vorteile aus. er verschafft ein schönes und präzises Bild darüber, was alles am Rad möglich wäre.

(noch ein Nachruf : ein Katalog stellt rechtlich ungefähr so etwas wie einen verbindlichen Verkaufsprospekt dar – auch wenn man sich Änderungen vorbehält. Das ist ein schöner Vorteil – ein online Angebot bleibt dagegen furchtbar virtuell und ist superschnell und superspurlos  gelöscht – von der Preisgestaltung ganz zu schweigen. Aber das wissen wir).

a3.jpgDas ist das Angebot.

Wenn es nun einen definitiven Test für bikepacking gibt, dann ist es das TCR. Das haben auch Ausstatter erkannt. Doppelsieger James Hayden fährt erfolgreich die neuen Produkte von Rapha spazieren, die Rahmentasche wurde sogar nach seinen Anforderungen gestaltet. Noch konsequenter ging René Bonn die Frage an und schuf selbst aus Segeltuch und Faser dem Rad völlig angepasste Gepäckfächer. Das TCR ist nun bei seiner sechsten Ausgabe , ähnliche events gibt es rund um den Globus, das experimentelle Stadium liegt also hinter uns.

Wie fing es an und was kam dann?

Jemand, der unermüdlich diese Nische der Brevets pp beackert ist Jan Heine. Mit seiner Zeitschrift bicycle quarterly und seiner Firma Compass hat er eine Reihe NeoRetro Produkte für Radreisen und Räder aufgelegt, zT neu entwickelt. Schon vor dem TCR.  Vor allem wurde er durch seine unermüdlichen Untersuchungen zu breiteren Reifen bekannt. Tatsächlich sind Rennreifen von einst 23 auf meist 25mm angeschwollen und im gravelbiking durchstößt man hin und wieder die 28mm Marke.

Matthew+Falconer+descends+into+Meteora.+Credit +James+RobertsonDie Fahrzeuge im Bildhintergrund gehören nicht zum TCR Team, vermutlich sind es Teilnehmer  einer 500 Euro-Auto Rallye

Da das TCR ein Rennen ist, wählen Teilnehmer aus ureigenem Interesse, das für sich beste Equipment. Einen Meilenstein setzte wohl vor 5 jahren die Firma apidura mit ihrer Satteltasche, ein Produkt dass wiederum stark von der Viscacha inspiriert war. Randonneurdidier hat letztere ausführlich vorgestellt und erprobt. Da die apidura variante schnell verfügbar war habe ich mich kurz vor Paris-Brest 2015 dafür entschieden und erzähle seitdem nur gutes darüber.

Wer sich die Unzahl an instagram Bildern ansieht, die über das #tcrno6 im Umlauf sind, wird nicht nur erkennen, daß sich diese im Berliner Volksmund „Arschrakete“ genannte Hecktasche durchgesetzt hat, sondern auch ein zweites bikepacking Produkt: die Rahmentasche, die unter dem Oberrohr befestigt wird. Auch hier sind inzwischen ein halbes Dutzend Hersteller mit ganz ähnlichen Produkten auf dem Markt . Zuletzt wurden lenkertaschen in verschiedener Form entwickelt, unter anderem weil durch die Verbreitung der „Auflieger“ eine weitere, praktische Befestigungsmöglichkeit entstand.

Obwohl Ultradistanzrennen dieser Art kaum ein Jahrzehnt alt sind, sind das schon bemerkenswert viele Entwicklungen auf einem Sektor, der allenfalls eine Nische in der Nische des globalen Fahrradmarkts darstellt. Das zeigt, wieviel Signalwirkung von diesem Extremsport ausgeht aber auch, wieviel Innovation darin steckt. Diese Seite vom Sponsor Kinesis erlaubt den Überblick.

a7Den Positionen Jan Heines, die sich ja ganz konservativ an der französischen Randonneurstradition orientieren, wird dabei in vielen Punkten nicht gefolgt. Dabei kannte schon die Randonneurstradition ihre Gewichtsoptimierungen, Geschwindigkeitswettbewerbe und Rekorde über die verschiedenen Brevets und Raids, die Diagonales de France und andere. Den Rekord Calais-Brindisi von 1974 hält bis heute Jean Albert Richard, und zuletzt  war es Kristof Allegaert der 2011 den Rekord des Tour de France Randonneurs einstellte.

Die Schaffung von Ultradistanzrennen ist nur eine logische Fortsetzung dieser Tradition und sie hat neue Lösungen gefunden, um sehr schnell sehr weit zu kommen. Wichtig waren dabei ein bekannter und ein neuer Faktor: Gewicht und Aerodynamik.

a6Bei einem Ultradistanzrennen geht es weniger um das Gewicht des „nackten“ Rades als um das Gesamtgewicht. Die klassischen Packlösungen mit Packtaschen oder Lowridern sind (erst recht wenn wasserdicht beschichtet) eindeutig im Nachteil und ihre auf Volumen designten Formen in Zeiten ultraleichter Radbekleidung nicht mehr zweckmäßig. Der zweite Grund für die neuen Taschenformen ist Aerodynamik, so wenig diese bei einer 3000km Reise erstmal relevant scheint.

a2Wenn man aber bedenkt, daß der Luftwiderstand schon ab einer Geschwindigkeit von 25kmH ausschlaggebend wird und die besten Brevet- oder TCR teilnehmer  dauergeschwindigkeiten jenseits der 30kmH (flach) fahren, dann gewinnt der Faktor entscheidend. Daher auch die Verbreitung von Lenkern mit Aufliegern, die zwei Zwecke erfüllen: sie sparen ca 25% Energie und entlasten auf der Langstrecke das kostbare Hinterteil. In Kombination mit Gepäck wird der gleicher Faktor angestrebt :die Verringerung der Stirnfläche von Rad und Fahrer. Deshalb wandern die Gepäcktschen in eine neue Konfiguration vor, unter und hinter dem Fahrer und nicht mehr an die Seiten.

a4Der ander technische Wandel betrifft laufräder und Bremsen. Ich wage die Prognose, daß der TCR Sieg von Allegaert 2016 auch der letzte auf klassischer Felgenbremse war. Natürlich ist die Scheibenbremse ein aufwendiges Produkt, natürlich erfordert sie spezielle Ersatzteile, doch nach ihren Ursprüngen im MTB Sport – wo sie einfach wegen der Schmutzunempfindlichkeit unumgänglich war –  ist sie definitiv in Langstreckenrennen aber auch auf Brevets angekommen. (zur Differenzierung: brevets sind explizit keine Rennen).

Das liegt weniger an Wirkungsvorteilen des Bremsentyps, es ist wahrscheinlich ein Zusammenspiel  begünstigender Umstände. Der erste Umstand sind die Laufräder . Carbon ist unschlagbar leicht und steif, das wurde nie bestritten, doch Felgenbremsen auf Carbon waren immer ein Problem. Die Scheibenbremse umgeht es. Dadurch, daß die gesamte Mechanik in die Nabenumgebung  wandert, entsteht am Rahmen Platz für Gepäckauflage, Beleuchtung oder auch Schutzbleche. Die Seilführungen der  Bremsen stören nicht mehr und Gabelbohrungen werden anderweitig nutzbar. man erhält also ein leichteres, stabileres Laufrad und muß für gleiche Bremsleistung geringere Handkräfte (Abfahrten mit Gepäck!)  aufwenden, weil Scheibenbremsen hydraulisch arbeiten. Und ganz offenbar sind sowohl Laufräder als auch Scheibenbremsen inzwischen zur vollen Betriebsfähigkeit ausentwickelt. Auf Dauer führt das zu geringerer Ermüdung – auf der Langstrecke vielleicht der wichtigste Punkt.

Eine Scheibenbremse bleibt dennoch ein komplexeres, leider zu oft proprietäres System (was nicht an der Bauweise liegt), dessen Wartung schwieriger ist . Wenn es aber für ein TCR reicht, dann für geringere Distanzen allemal.

a1Nicht durchgesetzt haben sich Reifen jenseits von 32mm oder in andere Felgengrößen als das 700c Laufrad.  Beim Kompromiß von Geschwindigkeit und Komfort sind 28mm Breite wohl die goldene Mitte. Komfort wird an anderen Stellen erzielt: am Lenker und an der Sattelstütze. Mehrfaches Lenkerband und Auflieger wurden erwähnt, was mir noch auffiel, war die mehrfach gezeigte „gespaltene“ carbonsattelstüzte, die von Canyon gefertigt wird. Es wird eher dort als am Reifen  angesetzt – die schnellen Fahrer wissen warum;  Stahl aber findet man immer noch. Zum dritten mal in Folge nutzt Doppelsieger Hayden denselben! Rahmen: Komfort ist der Grund. .

a11Bei aller Liebe, die ich zur alten Technik , vor allem aber zur „alten Ästhetik“ habe und auch weiter pflege – es ist doch faszinierend zu sehen, aus welch unwahrscheinlichen Ecken Fortschritte angetrieben werden. Waren es eingangs der 80er eine handvoll Downhill Freaks, die das MTB „erfanden“, ist es nun die (doch überschaubare) Szene der Brevets, Ultra-Brevet und Ultradistanz-Rennfahrer, die all diese Entwicklungen antreibt: eine Handvoll leute – aber was für Leute!

Morgen werde ich mit meiner kleinen Hecktasche wieder auf ein bewährtes Stahlrad steigen und fünf Stauseen abfahren.

BRM 300 ab Gießen

 

 

 

 

 

 

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2 Antworten zu Trends in Bikepacking (TCRNo6)

  1. alex schreibt:

    270g Luftmatratze ist Hyp und technisch gesehen schon fast ein Meisterwerk, aber nicht eben gut. Denn merke, was leicht ist und hip, kann auch schnell einem defekt erliegen. Man sollte also nicht jedem hippen Trend nachrennen. Gut ist, was funktioniert !

  2. crispsanders schreibt:

    Dadurch, daß neue materialien und Lösungen auf den Markt kommen, werden die alten ja nicht überflüssig. Die Frage bleibt, ob der Fortschritt auch den eigenen Zwecken dient – wenn man beispielsweise Backpacking nicht als Rennen betreibt. Aber der Fortschritt ist da, die Vorteile gibt es. Es ist eine eigene Entscheidung ob diese als „marginal gains“ oder entscheidend wahrgenommen werden….

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