Der Blick nach Süden – die fünfte Fahrt

Ist es ein Wunsch oder wirklich so? Der Winkel der Mittagssonne wirkt steiler, ihr Licht heller  – oder wird dieser Eindruck von einer kleinen Eiskugel aus einem italienischen Eiscafé erzeugt?

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Zum fünften mal halte ich hier in Waldsee. Diesmal wähle ich  1Kugel Himbeere zum Espresso, dazu Wasser und davon noch ein wenig in die Trinkflasche. Die Stadt der hundert bunker ist schon vergessen.

Immer wieder bestaune ich die Einrichtung.  Ein ganz bestimmter plüschig-barocker Stil mit naiven dolomitischen Fresken und warmem Licht aus italienischem Rauchglas. Es ist kurz nach halb eins.   Von hier sind es noch 100km bis ins Enztal, bis an die Weinhänge und Fachwerkhäuser .

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Auf dem Rad kommt jetzt nicht der anspruchsvollste, aber der schwierigste Teil. Viel Energie frißt (ohne das man es merkt) der kalte morgen mit den Anstiegen im Taunus. Am meisten sparen kann man dagegen im rollenden Teil zwischen Mainz und Speyer – wenn man will.

bb101Außer man drückt im Flachen so richtig aufs Tempo – und die Versuchung war zu groß . Dann müssen spätestens hier Kalorien nachgeführt werden. Also 1 Walnuß hinterher.

Anders als bei den ersten „Ländle-Rides“  stellt sich nicht mehr die Frage nach dem „ob“ sondern nach dem „wie“. Was tun, um das Tempo halten zu können, was noch essen und trinken –  und der richtige Zeitpunkt. Ein Powergel – also nackter Zucker oder Dextrose wirken nach 5 Minuten, ein Riegel braucht ungefähr 45min bis er vom Muskel verwertet wird – so die Faustformel. Und lange Kohlehydrate noch etwas länger.

In 7km -Speyer , dort gehts über den Rhein und Richtung Südost ins Kraichgau. Da ging mir bei den früheren Fahrten schonmal die Kraft aus: das Terrain wird wellig, und der der Wind bläst dort heute von seitlich vorn. Gut, wenn man keinen zweiten Espresso braucht- also weiter:

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Kommt man über die Uferstraße von Norden auf Speyer zu, dann hätte man eigentlich freien Blick auf das gewaltige Kirchenschiff – eine Titanic romanischen Kirchenbaus. zunächst die Reno-Schuhe und Abramovic-Autohändler hinter sich lassen, dann

DSCF4811.JPGgibt es kurz vor diesem Bahnübergang noch eine Möglichkeit, das Wahrzeichen zu erkennen.  In Verlängerung des Kirchenschiffs entfaltet sich auf dem Stadthügel eine  italienische Vedute – ich empfehle sie! …  über den Rhein.

b4 dessen Wasser sich unterm Wind kräuselt. Der Pegel ist  von diesem trockenen Sommer schon niedrig und tausende von Fußabdrücken waffeln den Sand .

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Es ist kurz nach 1, der amerikanische Präsident nutzt sein mobiles Datenvolumen, um die Welt zu beschimpfen. Eine Welt, die sich in den letzten jahren nicht nennenswert verändert hat, die Straßen saniert ohne mich zu warnen und deren hauptkonflikte meist konsuminduzuiert sind – im Sinne von: ich will es sofort.

Der Weg führt über den  Rhein Richtung Ost in ein sanftes Land ohne Cowboys. Nach Baden. Der Wind zwingt  mich in den Unterlenker, das schöne Wetter bleibt, aber die Elemente zeigen ihre Muskeln. Die Gazelle fährt sich spielend leicht _ wie gut, nicht einmal eine Lenkertasche genommen zu haben, die die Steuerung träger macht und dann ist es schön, die Geschmeidigkeit der Simplex retrofriction-hebel zu spüren, das beste, was je an Rahmenschaltern produziert wurde. Bei fahrten von 200+ Kilometern fallen solche Unterschiede schon ins Gewicht .

c1Richtig rund läuft es gerade nicht, aber ein Blick auf die Kirchturmuhr sagt: gleich gelangen die Kalorien langsam in die Muskelzellen, der Magen arbeitet noch, warte noch zehn Minuten, dann sieht alles anders aus. Trotzdem kommt man auf dumme Gedanken. Dieser Track von Komoot  -in meiner Erinnerung: da war hinter St Leon eine Abkürzung durch die Felder. Als die Straße den knick macht sehe ich genau in der vermuteten Richtung einen radfahrer davonzockeln. ihm nach Es geht gerade durch die Felder. Aber dann?

c2Nun – auch seine wohlgemeinten Ratschläge führen mich in einen Irrgarten, eine gewundene Folge von Kreuzungen und Kehren, die eher der Feder eines Parkdesigners entsprungen scheinen. Absurde kleine Schilder mit grüner Schrift weisen die Ortschaften in immer andere Richtungen aus. Ich bin in ein fremdes Reich geraten. Ein grünes Reich von 18 Löchern, geschaffen zum Vergnügen wandelnder Kundschaft.

Es tauchen Schilder in englischer Sprache auf. Eines warnt mich: Danger! Golf Carts crossing.. ich bin in einem glofclub gelandet und darf mein schmales geteertes band unter Androhung sofortiger Verwandlung in einen Caddy nicht mehr verlasssen. Kleine grüne Kreise werden von hunderten Bällen gepunktet, denen eine Frau mittleren Alters Stöße mit einem Schläger versetzt. Bunte Fahnen flattern und träge werden Handwagen durch die Gegend gezogen. Applaus brandet auf, ich suche das Weite, denn irgendwo muß sie sein, die bundesstraße die ich suche.

c4Dann endlich die Liegenschaften des Herrn dieser Gemarkung. Paläste brauchen stattliche Zufahrten, also kann die Rettung nicht mehr fern sein. Es ist der Bahnhof von Malsch/Rot, einer der Knotenpunkte des SAP iMperiums. Ich stürme die Auffahrt zur gesuchten Landstraße hinauf. Gerettet. Selig  ziehe ich das  Salami-baguette hervor, das seit Mainz beruhigend in meiner Trikottasche schlummert. Eine Ewigkeit (gefühlt).

Die beschauliche Bundesstraße von Heidelberg nach Karlsruhe, mittelfein gekörnt, dafür stabil bezogen, führt mich weiter nach Süden durch friedliche kleine Städte. Das Licht wärmt, in den kleinen Abschwüngen beiße ich freihändig ins knusprige Brotstück. In ungefähr 20km nehme ich die Sternenfelser Stufe, die vorletzte Hürde zum Ziel.  Vorher bin ich nach Ost abgebogen, aber die Kalorien sind da: der Wind kann die Stimmung nicht mehr drücken.

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Als Stoffwechselbeschleuniger picke ich schnell ein paar Äpfel up, von denen es seit 200km massenhaft an jedem Baum gibt. Dies ist ein besonderes Jahr. Bei mir wirken Äpfel doppelt: erst durch den saftigen Geschmack und dem Magen gibt es den entscheidenden Ruck, die letzten Kohlehydrate aufzuspalten.

bb7Flehingen, Gochsheim, Oberderdingen, der glückliche Alltag zieht vorbei. Dann die Rampe nach Sternenfels, eine Serpentine im Wald. Hinter mir Autos die den richtigen Gang suchen, jämmerliches hochdrehen kleiner Vierzylinder, während am Hinterrad  die 23Z konstant drehen.

C’est fait!

Jetzt warten nur noch Freuden: das Wiedersehen mit den alten Trainingsstrecken, den Kilometern, auf denen ich das Radfahren neu entdeckte.

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Und es ist ein wenig wie bei einem Kind, das sich an den alten Schlittenhügel erinnert. In der Erinnerung ist er ein regelrechter Berg, jetzt ein sonniger Hang. Die Felder ziehen an mir vorbei, die Spuren des trockenen Sommers sind sichtbar – mit jedem Meter neue Erinnerungen und dann schon die letzte Kuppe, hinter der die üppigen Weinberge beginnen.

die Kirchturmuhr schlägt, als ich ins Ziel einbiege. c10

Roßwag, 1.September 2018.

 

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