Dieses Stück Leuchtstoff habe ich mit nach Hause gebracht, damals – 2015. Ab und zu nehme ich es auf ein Brevet mit und streife es nach Einbruch der Dunkelheit über.
Vor vier Jahren trugen außer Radfahrern im Novembernebel oder in langen Brevet-Nächten nur verlorene Familienväter solche Überzüge, wenn sie am Rand der Autobahn neben ihrem gestrandeten Wagen gestikulierten und auf Hilfe warteten. Ihre Familien saßen dann oft weiter entfernt, zusammengekauert, manchmal hatten dann ihre Kinder ähnliche Westen an.
Plötzlich – also in den letzten Wochen – wurde dieser sehr banale Gegenstand vom Symbol der Schutzlosigkeit zu einem des Protestes. November 2018.
Frankreich kommt langsam näher, die Sonne ist schon lange untergegangen, die belgischen Xenonlampen leuchten seit Lüttich den Weg durchs Land. Wir haben die Autobahn verlassen, denn es sind Aktionen angekündigt, um den Verkehr auf der Autobahn zu entschleunigen. So fahren die gelben Westen dort in kleinen Kolonnen Schrittempo und machen die Strecke einspurig. Dann lieber gleich auf die Landstraße.
Auf der Schnellstraße geht es einsam übers Maastal, neben mir rechnet die 10te Klasse Überholvorgänge und Beschleunigung. Bremsweg und Verzögerung; vauteequadraat. ich versuche, mental zu folgen und achte auf die Verkehrsschilder. Entschleunigen, Beschleunigen, tempomat… Bremsen! Da ist etwas.
Metersekunde – wir kommen nicht weiter, denn eingangs Chimay leuchten sie schon: die Warnwesten. Mit denen war hier nicht zu rechnen. Aber es zeigt, daß die Sorgen auf beiden Seiten der Grenze gleich sind. Ein erstes Pallettenfeuer erleuchtet die Straßensperre, die direkt vor einer Tankstelle aufgebaut ist: improvisierte Szene. Ich lasse das Fenster herunter und bekomme ein Manifest in die Hand gedrückt.
Bis zur Grenze werden es noch drei Sperren, Familien mit Kindern, Jugendliche die sich zuprosten und alle wärmen sich an improvisierten Brandstellen, deren Rauch ins offene Fenster weht. Es ist das letzte Wochenende im November und die wallonischen Belgier haben das französische Vorbild übernommen.
An der Staatsgrenze ist noch eine Sperre mit Autoreifen aufgebaut, hinter dem Plaket, das an einen satirischen Film über den kleinen Grenzverkehr erinnert stehen sie, bestens versorgt durch die Kneipe dahinter. Ein Auto der französischen Gendarmerie fährt davon. Wir folgen ihm bis zur nächsten Sperre bei Hirson, offenbar ein strategischer Punkt. Der hellerleuchtete Kreisverkehr ist voll besetzt.
Hier laufen die Lieferstrecken zusammen: Von osten her stehen dutzende Laster, von Süden ebenfalls. Rundum den Kreisverkehr sind die Demonstranten verteilt. in kleinen Zelten haben sie Essen und Trinken bereitgestellt, Palettenfeuer ringsum. Geduldig stehen die blockierten Fahrzeuge still, die Gendarmerie fährt einmal um den Kreisverkehr und verläßt ihn Richtung Süden: Marle, Soissons, Laon, die Fernstraße nach Paris.
Bis zur nächsten Station hören wir Radio. Auf France Musique wird live das Konzert für zwei Klaviere von Francis Poulenc übertragen. Es spielen zwei Schwestern aus Georgien, eine liveübertragung, Applaus brandet auf und wir fahren an der wehrhaften Kirche von Vervins vorbei. Dann der nächste Stopp.
Und wieder wird die Strategie der Bewegung klar: Nachschubwege kappen. Wie überall sind auch in Frankreich die Warenlager auf die grüne Wiese in die Nähe von Knotenpunkten ausgelagert worden. Blockiert man nur eine geringe Zahl von Knotenpunkten, steht der Warenverkehr für eine ganze Region still. Und die Autobahnen mit ihren Mautstellen sind wahre Mausefallen. Ich höre noch, daß heute keine Maut erhoben wird. Der Mann der mit mir spricht, redet von seinen Rentenansprüchen: nach 32 Jahren Firmenzugehörigkeit bleiben ihm 1320 Euro.
Es herrscht die gleiche, entspannte und lustige Stimmung. Diese improvisierte Generalblockade ist ein kleines Dorffest. Leute, die sonst stumm vor ihren Bildschirmen säßen, stehen jetzt um Feuer herum und erkennen, daß gemeinsame Probleme sie verbinden: der sinkende Reallohn, die Entkopplung von Peripherie und Zentrum, die Stromrechnung: das, was fast elegant „prekär“ genannt wird.
Die Erhöhung der Energiekosten über eine Steuer, die dermaleinst die Energiewende herbeirführt klingt hier wie Hohn, wenn man über 20km für ein Croissant oder ein Stück Brot fahren darf. Sollen sie doch Elektroautos kaufen. Häuser werden millionenfach mit Ölöfen oder Holz geheizt. Gleichzeitig werden französische Atomkraftwerke in der ganzen Welt verkauft.
Frankreich ist ein Flächenstaat. Auf dem Land wird es nachts richtig dunkel – und Europa ist weit. Ich erinnere mich an die Weste von Paris-Brest und die tiefe Nacht der Bretagne. An Leute, die in den Morgenstunden an der Straße standen und uns anfeuern. Die gleiche Stimmung hier im Kreisverkehr: wenn endlich etwas passiert, und sei es nur um festzustellen, daß in der Firma zwanzig Kilometer weiter derselbe outsourcing Dialog geführt wird. Daß der gleiche Druck herrscht, die gleiche Drohungen unausgesprochen in der Luft liegen.
Ich erinnere mich an Mai 2017, als ich etwa 50km entfernt von diesem Punkt hier mit dem Rad übers Land fuhr: die leeren Dörfer, die Baumlosigkeit und endlosen Felder; der fahrende Händler, der auf einen Radius von 80km das Gewerbe ersetzte und bei dem wir frisches Obst kauften: Laon, 51km stand am Ortsausgang, genau wie hier.
Vor Laon haben sie sogar ein Wagen mit Musik aufgebaut, in Soissons setze ich meine Unterschrift auf eine Liste und die einzigen Lichter offener Läden an der peripherie sind die üblichen Verdächtigen, die schnelles Essen und Trinken verkaufen.
Dann verließen wir die fröhlichen Feuer und tauchten wieder in die Dunkelheit. Es begann zu regnen, keine Dörfer, keine Städte mehr, nur der langsam wachsende, blaßorangene Himmelsschein, den die Flughäfen verursachen, dazu die Lichter der großen Stadt. Paris kommt näher.
lieber Christoph, mir war bis dato gar nicht klar, was da in Frankreich bei unseren Freunden abgeht. Der Anlass ist wahrlich nicht erfreulich, wohl aber die Protestbereitschaft der Menschen, die Solidarität, … Starke Fotos, die die Situation und die Stimmung fühlen lassen. Vielleicht können wir von unseren Freunden lernen.
Ich erinnere an eine Szene nach der gewonnenen WM im Sommer. Bei über 30 Grad hatten zehntausende an den Champs Elysees auf den Mannschaftsbus gewartet, um endlich die Helden zu sehen. Der Flug hatte verspätung, der bus hatte Verspätung, im Elyseepalast (500m entfernt) wurde man ungeduldig. Der Bus fuhr mit hoher Geschwindigkeit die Straße hinunter und schoß grußlos an der Menge vorbei. . . .
Die ersten proteste gegen Macron sah ich 2016 als graffiti an der stillgelegten Bahnlinie nach Bagnères de bigorre. Dadurch wurde das Pyrenäental noch weiter abgenabelt und der Niedergang beschleunigt. Macron hatte ihnen eine Buslinie zugesagt.
Die Bewegung der gelben Westen kommt aus der Peripherie, vom weiten Land. Wir aber erhalten vorwiegend Berichte aus der Metropole, wo Journalisten sich zuhause fühlen und es genug gewaltbereites Potential gibt, um auf jede Form des Protestes aufzuspringen.
Das ist enbenso schade, wie es den sachlichen Dialog verhindert.