Vielleicht sagen die Daten des Kalenders nicht die ganze Wahrheit. Auch wenn die Tage seit Weihnachten länger werden: mir kommt es vor, als würden die ersten Tulpen in den Supermärkten ein sicheres Zeichen sein. Tauchen sie auf, wecken mich morgens auch die Spatzen – der Himmel ist schneller hell.
Auf dem Weg nach Gießen begleiten mich Feldlerchen, aus den stummen Waldstücken tönt es polyphon: auch wenn die Straßen durchweg gesalzen sind und Schattenpartien weiß von Reif. Die Sonne entscheidet.
Auf dem Weg in die Stadt wärmen frühe Anstiege den Körper durch. Später am Nachmittag, auf dem Rückweg, werden sie zum Formtest ab km 100. Jedesmal wieder wie ein Vogel in die Abfahrt. Record Ace oder accipiter gentilis.
Weißer Racer vor Freskenmalerei – sie hat die Gaststätte überlebt, hoffentlich auch den nächsten Inhaber. Das Rad hat jetzt seine endgültige Form gefunden. Profilierte Felgen von Wolber – leicht und hart, ein Sattel mit Titangestell – leicht und hart, 23er Slicks – unkomfortabel (aber leicht) ; das alles sorgt für ein intensives Fahrbahngefühl . Nach den Winterwochen auf dem (vergleichsweise) sanften, dunkelgrauen Enik mit seinem langen 12cm Vorbau, bin ich für den kürzeren 11er hier schon gut vorgestreckt.
Ein mittelalter Körper verliert die Schnellkraft, zum Glück bleibt er dehnbar. Was man an Power einbüßt hofft man (gefühlt) durch tiefere Position auszugleichen – so der Wunsch.
Das schräge Februarlicht schreibt Tattoos auf den Asphalt, die am abend von allein verschwinden. Die Sonne flirrt durch nackte Äste, manchmal gleißt ein teilgefrorener See durch, wie eine abgeschliffene Münze, die jemand ins Licht hält. Hin und wieder kommen mir auf langen Geraden schwarzbunte Punkte entgegen: Radfahrer in frischer Wäsche. Neonfarben leuchtendes, viele Räder (fast die meisten) haben elektrische Antriebe. Darunter das erste e-Rennrad in freier Wildbahn – ein Unterrohr massiv wie ein Oberschenkel. Riesige Buchstaben, die ich vergessen habe. Man hat seinen Stolz.
Fahrzeuge ballen sich an Tankstellen. Mit Red Bull Dosen in der Hand warten die Fahrzeugführer in der Sonne, bis sie an der Reihe sind. Eine halbe Stunde warten: rituell genießen sie den Vorfrühling an ihren Waschanlagen. Später dann, viel später, werden sich dann andere Tankstellen um ihre Autos kümmern.
Und zur gleichen Zeit schneidet ein Mann die Obstbäume in seinem Garten
Hin und wieder passiere ich interessante Exemplare, die den Sauerstoff suchen, den ich meine. Ein Endzeit-Gitane im originalen Kleid der späten 1980er. Dreifachkurbel Serienmäßig – da wird noch lange kein Hilfsantrieb notwendig sein. Im diskreten Klang einer frischen Kette treibt es mich weiter nach Gießen. Dort gibt es Nahrung für Geist und Körper.
(An dieser Stelle einmal ein Zitat aus der Fachpresse verdauen
„Die Tage werden länger, das Frühjahr rückt näher – es wird langsam Zeit, das Fahrrad für die nächste Saison vorzubereiten. Dazu gehört auch das lästige Ölen der Kette. Das entfällt bei einem neuen . . . “ )
Vielleicht auch noch etwas, damit das lästige Treten der Pedale entfällt? )
Wohl dem, der dann ein AltRad in seiner Größe findet. Der Gegenwert oder Gebrauchswert, den man für einen eingesetzten Euro erhält, läßt sich kaum übertreffen. Vom Gebrauchswert gehen nicht allzuviele aus, der mahnende Großvater mit dem Spazierstock vielleicht. Gießen ist nah –
Der Grill. Ich bin ein wenig herumgerollt, nachdem ich den Hamburger bestellt habe. Das kleine Restaurant ist gut besucht und dementsprechend lang die Wartezeit – es geht auf 15h zu und viele junge Menschen haben Hunger. Ich besichtige die nahe Umgebung
Karstadt gibt es (noch) und auch das kleine Kino an der Ecke. Die Baulücke gegenüber ist immer noch frei. In Berlin hat dieser Zustand 50 jahre angedauert – mitten in Gießen verwundert er.
Es war einmal Guthschrift: der Dämpfer für meinen Ausflug. Nach der Pleite vom Buchgrossisten KNV in dieser Woche muß ich diesen abgeschriebenen Mikrokredit des Antiquariats verarbeiten. Hier hatten sie mich damals auf den gutburgerlichen Hamburger nebenan gebracht, hier und heute hatte ich mich schon auf ein feines kleines Buch gefreut, oder eine kleine exotische CD. Wer wollte, konnte unter guthschrift.com auch online bestellen. Irgendwie weht mich die Erinnerung der Antiquariate in Berlin an, die schon vor zehn Jahren gentrifiziert oder liquidiert wurden.
Guthschrift oder KNV. Etwas wird sichtbar, wie es einmal hieß. Oder unsichtbar.
Denn Bücher gibt es weiterhin – nur woanders – und ich gestehe: nur sehr selten sieht man mich in einer regulären Buchhandlung. Nicht allein wegen des bequemen A^^@z*n, (habe keinen Account) – da gibt es Alternativen- sondern weil „das gute neue Buch vom Buchhändler ihres Vertrauens“ ökonomisch tot ist. Wer sich Krimis von HannsMartin Suter (Name von der Redaktion geändert) kauft, ignoriert ihre Halbwertszeit. Nicht nur die Halbwertszeit des Inhalts, sondern auch des Anschaffungspreises. Es gibt ein Publikum, das sich das leisten will, es schwindet nur. Ein Grossist spürt das zuerst.
Eine der bitteren Lehren aus dem Berliner Antiquariat war, wie unendlich viel ungelesenes Buchmaterial in einer Stadt flottiert und wieviel dann von einer alternden Gesellschaft freiwillig entsorgt wird. Das internet zündete einen Angebotsturbo, indem es die schiere, verfügbare Menge sichtbar machte, die vorher irgendwo gehortet wurde.
Dazu kam die kulturelle Zäsur, die Invasion der Flachbildschirme und des Routers mit hoher Datenmenge. Wozu Papier?
Bücher als Produkt- sind verglichen mit digitalen Medien – einfach zu sperrig . Denn allen slowfood-Freunden zum trotz: die Menge will convenience und wählt sie. Sie werden nicht alle zu McDingens gehen, es gibt dann auch einen Schnellbrater de Luxe für den gehpobenen Geschmack, genau solch einen, wie ich ihn besuche. Dazu sind Bücher als Informationsspeicher einfach langsam, teuer und unhandlich. Als Unterhaltungsmedium haben sie’s schwer und ich befürchte, als Massenmedium wird es am Ende nur mit einer staatlichen Grundsicherung gehen, damit in der Population der gewünschte Alphabetisierungsgrad erhalten bleibt – nicht aus kulturellem Elitismus , sondern als Element kultureller Grundsicherung.
Wir leben in Endzeiten von Dinosauriern; Es wird Überlebende geben, so wie Vögel ihre häßlichen und größenwahnsinnigen Verwandten überlebt haben – niemand vermißt Kursbücher der Reichsbahn. Meine Finger werden kalt – der Hamburger sollte nun bald fertig sein.
Mein Helm ist abgelegt, ich lehne mich gegen die Wand und sauge Gerüche ein, die vom offenen Grillblech kommen. Das Rad habe ich im Blick, den kleinen Saal und seine hundert Stimmen ebenfalls. Gutburgerlich brummt, das Publikum ist eher jung, also U30, gut frisiert und styliert. Auffällig viele Dates. Schnell höre ich heraus daß sich in der Kommunikation zwischen Mann und Frau nichtallzuviel verändert in 50 Jahren (ich bin sehr alt). – Meine Tochter war neulich in der Straußenfarm und ganz begeistert, wie sich die Tiere (männlich) aufplusterten. – Hier geht es um Masterarbeiten und um Jobs und um die Akkulaufzeit neuester Smartphones. Es wird Zukunft entworfen oder Gegenwart verhandelt. Einige junge Familien darunter, sie sind erheblich stiller. Lippenstift glänzt und Handtschen haben goldene Tressen. Rechts schwitzt die Küche im schwarzen TShirt. Mein Vorname wird gerufen. So läuft das hier und es läuft gut.
Ich beiße zu und es ist wirklich – in seiner Art – allererste Qualität. Spiegelei, Zwiebeln, durchgebratenes Rind und Gurken und Pommes aus echten Kartoffeln. Siebeck würde es mögen, der alte Schnösel. Nach einer Viertelstunde habe ich genug Kalorien für den Rückweg, die Hände sind wieder warm, den Cappuccino werde ich mir vor der Stadt gönnen.
In den ersten Hügeln, jetzt, wo es an die Reserven geht, höre ich sie rufen. Seit mehreren tausend Jahren überfliegen sie diesen Wald und das Tal auf ihrer Jahresreise und erzählen sich immer wieder die gleichen Geschichten in ihrer einfachen Sprache. Sie sehen Wälder, Wasserläufe und Asphaltbänder – bestimmt auch Kondensstreifen großer Vögel, von denen sie längst wissen, daß sie ihnen nichts anhaben können.
16.Februar 2019
Ja Mahlzeit nachträglich. Das schaut ja mega-lecker aus.
Ich schiele da familiär bedingt ab und an rein und habe den Eindruck, dass sich Verlage, Grossisten und Händler zusammen mit diesem Börsenverein kaufmännisch auf einem eigenen Planeten mit einem ganz eigenen Habitus bewegen.
Dazu gehören solche Absurditäten, dass die Lehrmittelfreiheit (zumindest in BaWü) zu einem gewissen Teil im ohnehin margenschwachen Buchgeschäft der kleine Buchhändler mit saftigen Rabatten auf Schulbücher bezahlt.
Warum die Buchhändler das zum großen Teil mitmachen, wissen wohl nur die Planetenbewohner. Ich vermute, um eine längst gerissene Kette zu ölen.
Bei allen Vorbehalten gegen A^^8z*n: die können wenigstens eine Suchmaschine zur Verfügung stellen, mit der man Titel auch schnell und leicht findet.
An solche neuzeitlichen Basics wird im Buchgroßhandel anscheinend noch laboriert.
Usw., usf., aber stop jetzt – gefährliches Halbwissen!
(Hinweis: habe den Eintrag (und frühere) jetzt erst gesehen – der BiTitanio-Eintrag steht immer noch oben. Oder Absicht?)
Der BiTitanio kann nichts für seinen Eintrag. Wer weiß, was Algorhythmen so entscheiden. Die zwei Bemerkungen zu Struktur – und kulturschwächen des Buchgewerbes fordern Anschlußüberlegungen heraus. In einer guten idealistischen tradition, scheint intelektuelle neugier nur selten mit einem scharfen Geschäftssinn gepaart. Wenn Grossisten allerdings nicht in der Lage sind, das Geschäftsmodell der Algorhythmen und online Bestellungen zu verstehen, dann ist es verhängnisvoll. Vielleicht herrscht auch eine Bunkermentalität, die letzten Bollwerke des antikapitalistischen Geistesleben – oder ähnlich. ich weiß es nicht, wenn ich aber die Betreiber von Guthschrift lese, die eine unkapitalistische Plattform sein wollten – also quasi Verweigerungshaltung als Geschäftsform – dann werde ich mitleidsfrei. Der soziale Rang des Buchs deckt sich ebne nicht mit seiner Trivialität als Konsumprodukt.
Dass man kein Konsumprodukt, sondern Kulturgut vertreibt und im Idealfall auch noch bestimmt, was als solches zu gelten hat, ist eine häufig anzutreffende Haltung.
Beispielsweise wurde im Mailverteiler einer Genossenschaft tagelang darüber diskutiert, ob der einzelne Händler das neue Buch des Berliner-Thilo ins Sortiment aufnehmen sollte.
In der Zwischenzeit verkauft Th*#ia das Zeug nebenan palettenweise. Wer nicht will, der hat gehabt – ich habe da auch kein Mitgefühl.
Die Unfähigkeit ein Nebensortiment zu kalkulieren, ist vielleicht ein Produkt der Buchpreisbindung. Aber das kann man lernen und sich ja lieber mal um Dinge, die das wirtschaftliche Überleben sichern kümmern, als ideologische Fragen breitzutreten.
Aber so sindse halt oft.
Ganz unideologisch : würde ich mich auf den Wegfall der Preisbindung für lukrative Teile des Sortiments einstellen – ist nur so ein Gefühl, wenn öffentlich-rechtlich über den Auffang von KNV nichts mehr zu hören ist und irgendwo Mindestlohn-Alarm in der Zustellerbranche geschlagen wird.
Nachtrag:
hier noch ein, äh…, tendenziöser Artikel über die Arbeitsbedingungen bei KNV. „Kaltherzigen Profitmaschine Am*z*n“, my ass.
https://arbeitsunrecht.de/knv-buchversand-als-knochenmuehle/
Natürlich kein Wort über die Margen in dieser Branche, das würde schon zu tief gehen.
Das Schicksal aller Packer und Warenstapler. Da mag das Gut noch so edel sein. Kultur, ebenfalls my axxe. Mußte schon selber machen.