Ein kurzer Brevet ist etwas Feines – er läßt sich unbeschwert angehen. Wenig Gepäck, stabile Wetterlagen. Das nächste Räderexperiment kann beginnen. Nach dem Colnago-on- ice diesmal Maastricht 200 in Aluminium .
Das Vitus 979 war ein game-changer im Rennradbau. Nicht nur weil das Ergebnis schnell weniger als 9kg wiegen konnte, während bis dahin Micro-Bohrungen an Schaltwerken und Bremsen halfen, das Gewicht unter die magischen 10kg zu bringen. Der Grund, aus dem das Vitus 1979 eine neue Ära beschritt, lag in der Fertigung. Aluminium hatte man zwar schon durch Schraubungen oder Verschweißen befestigt, etwas wirklich renntaugliches war dabei aber nicht herausgekommen, schon gar nicht in Serie.
Die Zäsur war in der Fertigungsweise begründet. Die Rohrsätze waren standardisiert, und wurden nach Vorgabe des ursprünglichen Designs verklebt. Solche Heißverklebungen mit Epoxid-Harzen wurden für Tragflächen von Kampfjets verwendet. Die wackeren Schmiede in ihren Ateliers konnten so etwas nicht- man wählte Zulieferer der Aeronautik. Damit war der Anfang vom Ende gemacht. Der Meister und magische Monteur mit dem klangvollen Namen, dessen auratische Lötkunst bis dahin nur den Besten (und Wohlhabenden) zugute kam, lebte aus einem anderen Geschäftsmodell. Seine Existenz war über kurz oder lang zur Nische verdammt, zum Kunsthandwerk. Ein vitus wurde nach einem bestimmten prozeß verklebt – keine Lötkunst, keine befeilten Muffen und geheimen Legierungen. Industrial proceedings.
Mit dem vitus war man den Schritt gegangen, den die Fertigung aktueller Carbonrahmen fortsetzt. Es räumte auch mit dem Mythos auf, allein ein persönlich und auf Maß gefertiger Rahmen könne das Optimum aus dem Athleten herausholen. Auch Spitzenathleten haben einen Körperbau, der mit Stangenware harmoniert. Nicht alle, aber die meisten, so auch ich. Nur ein Brevet ist mal eine neue Erfahrung.
Der Himmel ist klar. Es sind eher Windrichtung und Kälte, die heute Fragen aufwerfen. Vermummt treffen sich an die Hundert Randonneure unter der großen Platane vor dem stayokay Hotel in Maastricht, gelegen am schönen, sanften Fluß . Jetzt „hat“ es knapp über 0, für Mittags sind optimistische 15 gemeldet. Kleiner Rucksack ist bereit für Ballast.
Der 200km Parcours führt erst über die wichtigsten Hügel Hollands, dann in den Niederrhein nach Norden, bis er am Wendepunkt Venlo bei km 110 eng dem Lauf der Maas nach Süden folgt. Keine dramatische Strecke, aber eine Strecke voller Erinnerungen, in dieser Gegend bin ich geboren und aufgewachsen. Die ersten hundert Kilometer auf dem Rad – vor über 30 jahren. . .
Paris Brest Paris (im folgenden PBP) im August ist das Ziel, dieser 200er die erste Stufe der Qualifikation. Das erklärt den Zulauf dieser sonst eher intimen Veranstaltung.
9 Uhr – In mehreren Gruppen brechen wir aus der verträumten Stadt auf, ein Ort an dem Europa noch ein glaubwürdiges Projekt ist.
Bald ist die alte Brücke überquert, die ersten Anstiege aus dem Maastal wärmen : der Tag ist jung und das Jahr auch.
Auf den Anstiegen betrachte ich einen der fliegenden Fische, diese sonderbaren Maschinen, die uns bald entfliehen werden. Ihre Domäne ist die Ebene und der widrige Wind, den sie lässig unterqueren.
Die Reviere des Amstel GoldRace liegen bald hinter uns, die Lunge ist richtig frei , und es geht – nach diesem von Herbergen und Gasthäusern bevölkerten Idyll – in ein ganz anderes Revier.
Das Aachener Kohlebecken überspannt einen kleinen Landstreifen beiderseits der Grenze. Von Heerlen bis kurz vor Aachen wurde Kohle gefördert – die Städte ringsum (Würselen) bekamen ein industrielles Gesicht.
Was wir heute noch sehen, sind die Schuttberge, die man gern Abraumkegel nennt. und Siedlungen. Dazwischen findet sich ein Bachtal, die idyllische Falte im grauen Alltag. Wind macht sich bemerkbar – der kühle Gegner aus Ost.
Im Zeichen der Schildkröte bittet der Veranstalter zur Geheimkontrolle, – mit Zuckerimbiß aus dem Kofferraum. Ein Snickers jetzt, ein Mars später. Eine Schildkröte dient beiderseits als Brückenwächter und Durchfahrtssperre, ein Traktor rauscht lässig darüber hinweg. Kurzer Plausch, Fahrer finden zusammen und zerstreuen sich. Bevor uns kalt wird, geht es weiter.
Und jetzt sind wir im Landkreis meiner Kindheit. Nach windigen Ackerflächen (Unterlenker) durchfahren wir die Relikte des Kohlebergbaus, der ein halbes Jahrhundert lang üppigen Verdienst in ein kleinagrarisches Gebiet brachte. Gefüllte Stadtkassen waren das Positive, Bergschäden und Folgen sah man erst später, alles übrige sind weiche Fakten.
Am Ende bleibt Zersiedelung, Stückwerk und ein Monument aus Schutt, eine enorme Halde, die von Funkmasten gekrönt wird. Und es war nicht schöner, als diese Siedlungen noch im Wechsel von Tag- und Nachtschicht lebten, wie ein unsichtbares Schwungwerk, das alles in Takt hielt.
Denn die 70er (und auch noch die 80er) waren hier definitv nicht cool. Sie rochen nach Kohleöfen, Autos hatten unter 70PS , stanken, und Menschen liefen in Klamotten rum, die weder richtig passten noch angenehm zu tragen waren. Greko Kleiderfabriken Mönchengladbach. Bei Aldi gab es keine Regale und keine Vollmilch und schon gar keine italienische Feinkost. Fahrräder hatten ausgeschlagene Keilkurbeln und maximal drei Gänge. So für die Allermeisten, bevor der Videorecorder kam. Vorbei.
Eine Pause in zwei Bildern. Brüggen liegt bei km 85. Es ist ein hübsches kleines Städtchen mitten im Grünen kurz vor der niederländischen Grenze . Der Ruhrgraben – 40hm- (and all that) ist überwunden. Hier tanken wir schon vor der Halbzeit in Venlo Kalorien. Denn auch bei einem so kleinen Brevet ist es klug, sich außerhalb der Kontrolle zu verpflegen.Auch für Paris Brest gilt die Empfehlung – Zeit, die man an Kontrollen in einer Schlange vor einem Nudeltopf verliert, holt man nicht wieder auf.
Weiter Richtung Holland, gemeinsam mit Chris, der heute sein BobJackson Super Tourist für das große Abenteuer im August probefährt: selbstgenähte Taschen inklusive. Wir prüfen hier die Kohlernte und nach ein paar weiteren, windigen Kilometern im Grenzgebiet stoßen wir auf die Kontrolle, eine Gastwirtschaft alter Machart.
Schnell die Karten gestempelt, bevor der nächste Schwung Mitfahrer eintrifft und sich um den letzten Streusel balgt. Die meisjes rotieren fröhlich, die Kasse stimmt, die Sonne scheint gleißend vormärzig und es geht weiter.
Venlo hat sich ins Narrenkostüm geschmissen und zeigt, wie eine fahrradfreundliche Stadt in Realität aussieht. Wir balancieren uns vorwärts.
Mehrspurige Radstraßen mit Ampeln, eine Verkehrsdichte fast wie in Hanoi – nur ohne Mundschutz. Ruhig und gesittet bewegen sich Holländer in ihrer gepflegten Umgebung. Überhaupt wirkt alles backsteinig-sauber und gut strukturiert. Schon immer wirkte die Verkehrsführung durchdacht. Vom Bahnhofsgebäude grüßt eine große Analoguhr auf Stele.
Dank einer Ampelphase fahren wir auf einen Schwung weiterer Randonneure auf – eine gute Gelegenheit, zügig nach Süden zu kommen.
Auf dem Maasdeich mischen sich noch einige Hobbyracer mit Trillerpfeife dazu. Sehr sehr schönes Material. Man rangelt ein wenig um Windschatten (gibt es nicht gratis) und dann ertönt die Trillerpfeife. Sportgruppe rechts ab.
Hier an der Maas wirkt Holland gar nicht wie ein Land mit hoher Siedlungsdichte. Der breite Strom hat weite Rückhaltebecken und Altarme, alle Viertelstunde taucht ein Kirchturm auf, manchmal ein kleines Wäldchen. Die Streckenführung lotst uns geschickt durch das Hinterland von Roermond – von dem wir nur den großen Fernsehturm sehen, der einer Interkontinentalrakete ähnelt. Wir bleiben am Hinterrad, denn der Wind kommt oft von schräg vorn.
Hier ein eigenartiges Denkmal „für Kirche und Vaderland“
Dort ein flotter Capucco
Dort wieder Wind, Alleen, Gehöfte. Wir machen Meile um Meile.
Und plötzlich sind wir in Thorn, der weißen Stadt mit den getünchten Häusern und Natursteinstraßen.
Es ist kurz nach 4, das Vitus hält und der Rijder genießt seinen Motivator. Noch 40kmchen. Läßt der Wind nach? Auf!
Immer wieder pendeln wir zwischen Stom und Kanal und unbemerkt besuchen wir kurz Belgien. Die Sonne sinkt allmählich tiefer, aber es wird bei Tageslicht möglich sein.
Das flämische Licht: die Wolle der Schafe leuchtet im Zaundraht, noch 15 kleine Kilometer, nur mein Tank ist plötzlich leer. Good Company needed.
Und hier ist der Treibstoff: danke Chris! – man glaubt nicht, wie gut solche Zuckersachen einem tun können. Es kribbelt in den Oberschenkeln und die Hände werden warm: da ist schon Maastricht, Maastricht am Samstagabend.
Kids bringen ihre Boards nach Hause
Alte Herren ihre Räder.
BRM Maastricht 200, 23 Februar 2019