„Die Flachheit der Gegend erlaubt keine Ausflüchte. Von Limburg bis Brabant liefert sie ihre Böden dem göttlichen Urteilsspruch aus und akzeptiert ihn. Die Bäume bleiben nach dem Sturm stehen. . . Radfahrer entschlüpfen Häusern, die allein Kamin und Wintergarten behaglich machen. Sie treffen sich morgens – trotz des Regens – und pedalieren bis zum Abend. Es sind gepanzerte Horden, die von Kälte durchdrungen sind. Grau vor Anstrengung durchfahren sie die Siedlungen ohne einen Laut .
So sind die Flamen.“ (Philppe Bordas)
Namur liegt unter mir. Das Bistro „le 500“ auf der anderen Seite der Maas wird immer kleiner, während die Pflastersteine zur Zitadelle unter meinen 25ern durchrollen . Der Café hat geschmeckt und gewirkt wie Dynamit.
Immer neue Randonneure drängten in die Wärme des „500“, um ihre Karten stempeln zu lassen. Vorher sah ich noch den Benotto Mann davonziehen – er wird sich nicht lang aufgehalten haben. Zwei Quiche (plus baguette) als Wegzehrung aus der Einkaufsstraße. Die Flasche ist gefüllt. Der Himmel bleibt grau, nachdem die Sonne ganz kurz über Lüttich aufging.
Zweiter Teil des Brevets in dem die Zitadelle nur eine kleine, hübsche Arabesque war, denn es geht gleich wieder hinunter zur Maas und zur Stadt hinaus – genau wie 2014, als es mich den Ravel nach Norden blies. Flandern zeigt sich in seinem kargen Kleid.
Der Ravel ist eine gerade Linie, die langsam aufwärts führt, ohne daß es gleich zu spüren ist. Ein ‚Olländer mit einem Rad in dark purple und bunten geometrischen Mustern auf dem Trikot begleitet mich erst – und dann zieht ein Zug vorbei. Ich passe; mein Magen ist schwer, die erste Quiche liegt quer wie ein Stein und saugt das Blut aus den Muskeln.
Ich lasse also ziehen, denke, sie wieder einzuholen, wenn die Beine wieder wollen. Nur die lächerliche Steigung verweigert mir den Gehorsam, denn sie erlaubt kein Tempo. Weiter in der Hoffnung irgendwann wieder, ganz hinten, wenn die Asphaltlinie 500m lang ist, einen bunten Punkt am Horizont zu sehen.
Ein leiser Fluch liegt über der Strecke, dieser Wind bläst von vorn, ganz unmerklich und bösartig zwingt er mich in den Unterlenker. Ich lege einen Zahn zu und bereue sehr bald.
Alles ist grau, die Schlehen, Pflaumen und wilden Kirschen tragen noch nicht ihre weißen Punkte, kein Duft dringt aus den Hecken. Alles ist grau und ich bin grau. Es ist dumm, einen Zug zu verpassen. Doppelt so dumm, wenn man sich stark wähnt.
Irgendwann sehe ich den bunten Punkt. Mal kommter er näher, mal zieht er fort. Immer wieder Kreuzungen, immer wieder bremsen, schauen, antreten. Dann sind es mehrere Punkte, ganz nah.
Um die Ecke und weg – und ein Schild: deviation – Folgen oder nicht?. Ich folge den sieben,acht feuchten Spuren , aber niemand zu sehen. Dieses kleine Rennen habe ich verloren – jetzt navigiere ich auf Sicht – habe noch meinen magentafarbenen Track, aber seit Lüttich Süd liegt darunter nur eine bernsteinfarbene Fläche, die Basiskarte von Garmin mit ihren zwei drei Strichen. Die Erde ist nackt und namenlos.
Dann aber der bunte Holländer mit schwarzen Begleitern von hinten. Sie sind flott, aber kennen Sie den Weg? Keine Zeit für Fragen, ich gebe mich den Hinterrädern und den verschiedenen Waschmitteln hin, die die karge Ebene mit synthetischen Molekülen überziehen.
Es bleibt oben hellgrau und irgendwann stehen wir an einer Dorfkreuzung. Verfahren. Der Kurs liegt irgendwo westlich. Eine baumlose Landstraße steigert des flandrische Gefühl. „Die Flamen rollen im endlosen Verschleiß voran, zwischen Kanälen und Gehöften voller Mélancholie…“.
Wir sind wieder auf dem track, 7 oder 8km Umleitung. In Tienen verabschiede ich mich vom Trio. Für ein Bild: Brauerei und Abtei reimen sich oft in Flandern.
Auch die erhoffte Pause ist nicht mehr weit, Oplinter, Neerlinter, Drieslinter heißt der kleine Dreisprung zur Oase: einer friture mit Bier
Geschlossen, Aber nebenan bei Robby kann eingekehrt werden – er hat eine Küche, aber keine Friture und auf dem großen Bildschirm läuft kein Sport sondern Flamen singen deutsche Schlager nach.
Bei Quiche und gezapften Leffe geht das in Ordnung. Ein volles dutzend Randonneure aus Deutschland wartet auf Kalorien. Manche sehen verstohlen auf mein Bier. Es schmeckt süffig. Ich entdecke eine andere Flasche im Kühlregal mit unbekanntem Namen; diese Trophähe landet im zweiten Flaschenhalter. In der ersten Flasche ist jetzt frisches Wasser und der Teebeutel aus dem Bistro, der die nächsten Stunden weiterziehen darf. Draußen blüht eine Allee von Zierkirschen.
Ganz feiner Regen setzt ein: regenjacke und Leuchtweste in einem. Zwei Stunden bis Sonnenuntergang, noch 120km. Die Kalorien tun ihre Wirkung, diesmal ohne Bauchschmerzen. Langsam verdichtet sich das Land wieder.
Noch eine Ansichtskarte von schlüsselfertigen Wohneinheiten. Holland ist auf einmal nicht mehr weit, der Gedanke an Lüttichs Vorstädte erfüllt mich mit paradoxer Nostalgie. Dann gehen die Xenondampflampen an. Die merkwürdige Ähnlichkeit mit der untergehenden Sonne – ein Farbschauspiel das ebenfalls nur einige Minuten dauert, bevor sie in fahlem Orange die nacht durchleuchten.
Zwei Randonneure beim Pannendienst: alles ok, der mantel ist entfaltet. Vorsicht also, Nässe und Split sind keine Freunde des Gummis. Hinten 25, vorne ein uralter Blizzard in 23mm – etwas dünn für die Betonfugen und gepflasterten Randstreifen, durch die sich Radfahrer in Flandern und Holland bewegen dürfen. Ihr Reservat sind mediokre Randstreifen, auf denen sich alles sammelt, der Split,die geborstenen Rückspiegel und zermahlene Reste von Radzuierblenden; manchmal auch Bierflaschen.
Es ist dunkel und Beringen erreicht. Der kleine Tankstellencontainer nennt sich popup store, die Auswahl an guten Kalorien ist gering, dafür wird mein Snickers mit einem schönen Lächeln quittiert. Die Straße glänzt, Autos rauschen vorbei.
In der nacht sehe ich zwei Fördertürme im Scheinwerferlicht. Dann gehts es wieder über einen Ravel – weiter vorne tanzt ein rotes Lämpchen ohne näherzukommen. Hier und da ein kleiner Schlenker zuviel: ich muß an Kreuzungen besser aufpassen. Alles sehr odentlich hier. Bin ich wieder in Holland? Die Nummernschilder sind belgisch und wieder regnet es und hinter mir kommt ein Licht näher. Gut. Das kleine Navi hat wieder eine vollwertige Karte – Deutschland nur 50km Luftlinie entfernt.
Wir schließen uns zusammen kurz bevor es durch einen dichten Wald geht. Das gibt mir einen Ruck und zwei Lichter sehen mehr als eines. Der Mitfahrer ist jung, wir unterhalten uns auf englisch und ich verstehe: er hat einen Schleicher und ich habe eine Pumpe, eine kleine goldene Pumpe. Sie funktioniert. Weiter zu zweit. Dann eine ganze Gruppe hinter uns sie saugt uns auf, die Wärme tut gut , alles geht plötzlich wunderbar leicht in unserem Laternenzug. KM 271. Wieder der Schleicher, die Gruppe zieht weiter. …
Kurz vor der großen Autobahnbrücke über die Maas habe ich ihm meinen Ersatzschlauch gegeben. Ich will nicht mehr stehenbleiben und frieren, auf dem Deich bläst der Wind und ich muß nach Hause. Der Zuckerspiegel sinkt. Da, wo dieser Kurs auf den Kurs des 200ers trifft, gleich am Maaskanal ist es laut Kirchturm 22 Uhr. Ich muß an die Gummibärchen vom letzten mal denken und daran, daß eine schöne volle Tüte tropischen Fruchtzuckers sicher im Auto liegt. jetzt ist es nicht mehr grau, sondern schwarz. Keine Englein,die da von den Lichtmasten singen.
Die letzte Stunde auf dem Rad ist namenlos. Die Schmerzen sind da – nicht in den Beinen: in den Handgelenken, dem Nacken, den Schultern. Beim Schalten blitzt es vom Hals hinunter in den Rücken. Bergab lasse ich freihändig rollen und richte mich auf. Dehnübungen, Lockerungen, Drehungen. Der Tritt ist leer. Immer wieder zwinge ich mir den guten Rhythmus auf. Jetzt kommen die schwarzen Erinnerungen. Auch an Paris Brest, als die Hände langsam taub wurden. Dinge, die man verdrängt, Erlebnisse, die von anderen Erlebnissen überschrieben wurden, in den Keller des Bewußtseins verschoben.
Dies ist ein kleiner 300er, aber gefeit ist man nie. Fringale, Hungerast, das schwarze Loch. Ich schreibe das, weil es so gern vergessen wird und weil ich es bald vergessen muß. Distanz und Befinden sind nicht miteinander verbunden, es kann einen immer erwischen. Bei einem Brevet spielt man auch mit dem eigenen Abgrund.
Es geht um nichts, keine Gefahr im Verzug. Nichts steht auf dem Spiel – eigentlich ist es ein Spiel. Aber verlieren tut weh. Ich steige nicht ab, auch nicht am letzten Anstieg, dem Wilhelminaberg, dem Anstieg, an dem zum ersten mal heute das 28er Ritzel meines frischen Schraubkranzes aufliegt. Flandern hat mich gestraft.
Wie fürs Weihnachtsfest sind die Bäume illuminiert, drinnen in der Halle warten abgestellte Räder auf den Nächsten, der von der Strecke kommt. Es sind noch einige.
23.März 2019
wunderbar poetisch – Flandern – Melancholie, Kultur, gewesene Industrie… und herrliche Biere und Menschen. So mag ich das. Und zu guter Letzt: Ich schick Dir demnächst ne schöne OSM Karte für Dein Garmin, damit Du nicht auf ein so unbedrucktes Display schauen musst.
ach! seufz! – jemand der meine Probleme versteht. Danke Didier. Die Gruppe der ich vergeblich nachsezte war aus Neheim Hüsten…. (to whom it may concern).
Danke nochmals