Man kann viel über Erschöpfung, Verausgabung, Pulsrasen und Wahnvorstellungen in der Lebensmitte sinnieren. Irgendwas muß am Ende dabei herausspringen.
Irgendwann fiel mir bei den Radtouristikern Menschen mit Wertungskarten auf. Das waren Leute, die mit befestigten, fünfstelligen Nummern am Rad auf den Veranstaltungen des Landes auftauchten und dann beim Start Wertungspunkte eintragen liessen. Für wen? Für was? für gefahrene Kilometer. Eine Art Payback für Radler, ein Treue- und Bonus system. Die goldene Ananas – meinetwegen.
Gänsen hing man im Märchen eine Möhre vor die Nase, uns reicht (manchmal) eine Medaille, ein kleiner gelber BRM Karton in der Schublade, eine schwere Uhr nach erfolgreicher Ausschreibung. Den Mount Everest am Horizont.
Und Du ? Wofür fährst Du? Der Radsport kennt eine alte Tradition: Naturalien. In Italien (aber auch anderswo) gewann man in den Rennen nach dem Krieg Schinken, Weinflaschen, es gab auch schonmal ein ganzes Huhn: die Dinge halt, die man in einer Turiner Vorstadt manchmal weder für Geld noch gute Worte bekam. Die Freunde Asterix und Obelix machen es in ihrer „Tour de France genauso…“
Es ist in den letzten Tagen sehr klar gewesen. Morgens vom Fenster aus übersehe ich die Pyrenäen und versuche, die Schneegrenze auszumachen. Die entscheidet über offene oder geschlossene Pässe. Ab morgen ein neues Tiefdruckgebiet – also nichts wie hin. Ich nähere mich der Bergkette
Der Aubisque wird es nicht sein, aber der Soulor wartet 300m tiefer. Und dann mache ich auf der Karte noch einen Nachbarn aus: col de Spandelles. Dieser liegt einen Bergrücken nördlich in unmittelbarer Nachbarschaft. Ein Paß mit weißer Straße, also noch schlanker, ein Hirtenweg, nur 1300m hoch. Die Premiere wäre möglich.
Hinter Pau die erste Wolkenformationen über dem Panorama. Temps variable, – schnell, bevor die Sonne es sich anders überlegt..
Über die Umgehung vorbei an der Hauptstadt des Béarn, die zahllosen Kreisverkehren mit ihren Wellblechkisten an der Abzweigung : die Killer der Bäcker und Fleischer auf en Dörfern. Dorfe liegt hier, .
In Arthez d’Assons – ein kleines Dorf im Val d’Assons – packe ich das SNEL aus. Direkt vor einem kürzlich geschlossenen Einzelhandel mit Café und Schreibwaren. Meine Sachen hängen an einem noch angeketteten Postkartenständer, bis zur Mairie sind es 350m. Bis zum Spandelles sind es 18km, wenns klappt. Der ehrgeizige Plan sieht gleich zwei Pässe vor: dzunächst den Neuen, dann große Pause in Argelès und schließlich den Soulor. Soweit der Ehrgeiz im Fiat Punto-Cup.
Der Weg ist bekannt; das Auge genießt die Glyzinen und blühenden Bäume, das Ohr hört das rauschende Wasser. Ferrières, der winzige, letzte Ort im Tal kommt näher, eine Kleinbahn brachte früher Erz aus der Grube nach Pau. Heute sind hier nur noch abgeschiedene Wochenendhäuser, noch keine Radfahrer, keine Wohnmobile und kaum Motorräder. Gleich sollte ich das Schild zum Spandelles sehen. Und da ist es auch.
Geschlossen. Es dennoch versuchen? Um den Preis irgendwann ungekrönt kehrtzumachen?
Der Soulor ist dagegen offen, ich nehme die Herausforderung an. Das Tal schützt mich vor den Böen, die die frischen Blätter der Bäume noch heller leuchten lassen und ich mache mich an die Arbeit.
Es ist natürlich gut, einen Paß zu kennen. Gut, weil er sich besser einteilen läßt, der Fahrer – the rider! – nicht so leicht der Versuchung erliegt, an einer flacheren Passage zu überziehen. Aber 13km Anstieg sind 13km und das ist hier die Aufgabe. Im Gegenhang muß es gebrannt haben, eine eigenartige Mischung aus frischem Grün und totem braun. Der Rhythmus stimmt, Geduld ist die Tugend, denn es ist ein zähes Ringen.
In einem (kleinen ) Mittelgebirge sind es meist 3 bis 4km die man bis zu den höchsten Punkten hat, mehr aber nicht. Das macht dann den Unterschied: hier geht es immer weiter und höher. Ab 1000m ändert sich die Luft, es ist spürbar, wenn der Sauerstoff im gleichen Verhältnis wie die Kräfte abnimmt.
Jetzt die letzten versprengten Höfe und ihr phantastischer Blick über den Cirque du Litor. ich erkenne den Aubisque und seine Herberge. Wolken ziehen rasch und strähnig über die Zacken hinweg. Da ist Schnee drin und der Wind kommt von Ost.
Er wird mich also gleich erwischen, wenn ich die letzten blühenden Kirschen unter mir habe. Mein Rücken zieht, ich wechsle in den Wiegetritt. Zurück in den Sattel, an den Bremshörnern ziehen, eine Bö von links hangabwärts abfangen. Vom Nacken bis in die Zehen ist der Körper in Dauerspannung. Deshalb kann Radfahren so weh tun.
Und gleich bin ich an der Ecke. Da, wo keine Bäume mehr wachsen weitet sich das Tal zu einem kargen Halbrund, einem Trichter von 400m Tiefe. Die letzten 5 km. Die Ecke der Wahrheit, denn dort schützt mich nichts mehr vor den Böen. Seit 90 minuten sitze ich auf dem Rad, seit 40 Minuten kämpfe ich mit dem Soulor. Aber gerade eben ist etwas in mir vorgegangen, gerade, als ich diese gemeine Rampe hinter Arbeost bezwinge, da, wo die kleine Quelle aus dem Berg in einen Trog fließt.
Es ist, als würde sich da etwas öffnen, als fände der Körper einen Schlüssel wieder: der Tritt wird runder, die Anstrengung kann gezähmt werden, sie hat nicht mehr dieses uferlose Wüten, gegen das sich der Körper anstemmt. Die Bö kann um die Ecke kommen, sie wird mich nicht umwerfen.
Teil 2 folgt