Was ein Tag zu bieten hat, wird nach wenigen Kilometern klar. Die Windrichtung steht fest, die Sonne steigt an und mit ihr die Temperatur. Auf dem Weg von Berlin nach Bautzen erwartet uns ein heißer Tag in der Ebene, durch Kiefernwälder, am Spreewald entlang und über die Lausitz. Lausitz, Hitzekessel des Ostens.
Kurz vor sechs Uhr morgens beginnen wir zu viert die erste Etappe nach Poysdorf, hinter den Sieben Bergen über 600km entfernt im Weinviertel gelegen. Ziel ist die Inveloveritas, kurz IVV, eine der schönsten Veranstaltungen klassischer Rennräder.
Zunächst Berlin, die südlichen Vororte, die letzten Ampeln, Großklärwerke und die Busse, in denen um diese Zeit nur Arbeiter sitzen, die aus ihren „Ankerzentren“ an die Felder gebracht werden. http://www.oeffis steht auf dem Bus.
Landebahn, Tower, Hangars. Mit Umrundung dieses großen technischen Denkmals haben wir das Berliner Gebiet verlassen. Der Flughafen Schönefeld/BER sollte schon seit vielen Jahren bereit sein, Drehkreuz der Welt zu werden. Das war der Plan. . .
Die Kapazitäten, für die er entworfen wurde, werden
möglicherweise nie erreicht werden.
Erinnert dies alles nicht bestürzend an sogenannte Cargo-Kulte?
Wir eilen weiter, der steigenden Sonne entgegen. Einziges Heil wird in den Schattenpartien liegen, der Rest ist gestrecktes Rollen gegen den Wind. Die ersten zwei Stunden sind nichts, so seltsam es immer klingt. Der Körper richtet sich ein, die Muskeln fordern den Stoffwechsel zur Mitwirkung auf.
Gut also, daß zwei selbstlose Kaderfahrer sich als Geleitschutz bereit erklärt haben. So sparen wir wertvolle Körner, die hinten heraus immer fehlen und haben gleichzeitig Abwechslung:
Exkurse in den Radsport. Als der Name Armstrong fällt, horche ich auf. Den Respekt, den der Ex-Toursieger und organisierte Doper immer noch genießt. Er hatte Fans, seine Rivalen achten ihn. Nicht nur, weil sie im selben Boot saßen. Armstrong hatte mehr als nur gewonnen, Armstrong hatte als Fahrer den Schritt geschafft, von dem die anderen Fahrer noch träumten. Den Sprung gemacht :vom besseren Prostituierten zum Zuhälter. Nicht erst auf das Gnadenbrot des sportlichen Direktors hoffen. Schon als Fahrer das Geld der Sponsoren organisieren, Leute kaufen oder mundtot machen, das große Spiel spielen.
Wir glücklichen Touristen aber, wir reisen weiter. Alles Gespenster der Vergangenheit.
An der Grenze zum Spreewald verläßt uns der erste Begleiter, seine sprudelnde Erzählfreude hat den Morgenstunden die Schwere genommen. Die Schwere der ungefahrenen Kilometer.
Langsam bin ich „im Polster“ wie der junge Pacer auf dem Pinarello sagt. Eine Erleichterung ist es , viele Teile der Strecke zu kennen und wiederzuerkennen, das verkürzt die Akkordarbeit auf den Geraden. Ab Lübbenau mischen sich viele neue Vogelstimmen ins Gegenwindrauschen, Radreisegruppen ruhen im Schatten.
Es kommt die Lausitz.
Neben Dörfern, die oft mit kurzen, schmerzhaften Kopfsteinen aufwarten („historisch“) sind mir Viehbetriebe in Erinnerung, Tino erzählt von 1000er Milchviehaltung und weist später auf eine Schweinemastanlage titanischen Ausmaßes.
Schön weit vom Schuß: für solches Fleisch stehen viele gerade Schlange, um es heute Abend auf ihre Grills zu legen. Weiter an den rekultivierten Zonen vorbei, über die Trasse der neuen Gas-Pipeline.
Öfter als gedacht müssen wir Flaschen füllen. In der Ebene vor und hinter Hoyerswerdea quält der Wind uns spürbar. Dann wird es ländlicher und sittlicher, die Landschaft wellt sich ganz mählich. Unsere Lokomotive zieht.
Jetzt kreuzen wir schon das kleine Dorf, in dem ich Berlin-Wien 2018 beschloß. Was für eine Erleichterung – damals. Heute geht es weiter, weiter nach Süden, die Kraft ist da.
Nun heißt es Abschied nehmen vom Mitstreiter, der sich den Rückzug nach Berlin ersprintet. 200km reichen ihm – kraftvoll sprintet er uns davon.
Wir sehen bald die Stadtkrone und suchen Kalorien. Es ist Samstagnachmittag, es herrscht Ruhe, einige wenige Läden sind offen. Wir wählen eine Metzgerei, die kein Brot (nebenan!) , dafür aber Salate und Wurst bereit hält. Man kann geteilter Meinung sein. Der Bioladen ggü. war bis auf die Kasse ebenfalls menschenleer. Ein ausgezeichneter Filterkaffee und eine Schale Erdbeeren zum Nachtisch.
Während Tino immer wieder Pulver anmischt, habe ich vor allem auf feste Nahrung gesetzt. Riegel und Bananen, Studentenfutter und Traubenzucker bilden meine Vorräte. Eine Nektarine reift in der Musette heran. Wie weit auch immer das reicht, denn auf die 200km Hitze folgen jetzt Höhenmeter.
Der Wind läßt nicht spüren, wieviel Schweiß fließt, wieviel Substanz der Körper verliert.
Das Land ist wie verändert. Stattliche Gebäude, herausgeputzte Kirchtürme, eine Goetheschule, an deren Ecke die Skulptur des Rattenfängers eingefügt ist. Ab jetzt haben die Häuser oft heitere Pastellfarben – und wir gewöhnen uns an die Anstiege. Und Autos, die jetzt eine Spur aggressiver unterwegs sind. Sie müssen schnell noch rüber, billiger tanken fürs Wochenende. Wir werden jetzt von Kurort zu Kurort kommen, eingenistet in Ausläufer der grünen Hügel ringsum. Eine Frau mäht den Rasen vor einem verfallenden Gutshof.
Dann über die grüne Grenze, neben unzähligen Nippesbuden eine riesige Zahl an Topfblumen. Irgendwo läuft ein vietnamesischer Hut herum. Die Sonne neigt sich schon, doch immer wieder brauchen wir frisches Wasser. Pap heißt die Tankstelle, ein grüner Papagei als Emblem.
Nach dem ersten Höhezug geht gleich auf den nächsten zu. Davor liegt das Städtchen Rymburk. Mir fällt auf, wieviele Menschen auf der Straße sind. Sie gehen vor die Tür, treffen sich, schauen sich ihre Stadt an. Das Leben genießen.
Den Bergkamm umfahren wir gekonnt, indem wir Richtung Oybin (Zittauer Gebirge) wieder in Deutschland eintauchen, vorbei an den Bechstein Klavierfabriken. Bechstein Flügel sind neben dem Wiener Bösendorfer die einzig namhaften Konkurrenten der übermächtigen Steinways. Die Berliner Firma saß sehr präsent in Kreuzberg am Mariannenplatz, die Produktion läuft nun seit fast 20 Jahren an diesem Grenzort.
An einer sehr grünen Grenze kehren wir wieder nach Tschechein ein. Die Temperaturen sind angenehm geworden und ich gönne meinem Rückteil eine kleine Pause. Hitze mögen wir nicht, 150ml Spezialcreme führe ich mit, die bei jedem Absteigen angewandt wird. Der Sonnenuntergang ist gegen 21h15, wir sputen uns.
Der waldige Kamm erinnert an den Schwarzwald, es ist eine kleine Verbindungsstraße die uns endgültig in die Tiefe des Landes führt, vorbei noch an den Preciosa Glasperlenwerken. Bald kommt eine Landstraße in Sicht und hinter Wiesen und Wäldern erwartet uns Jablonne, eine hübsche kleine Stadt am Hügel, die mit Kirchen vollgestellt wirkt. Zusammen mit ein paar Gästen entspannen wir auf der Terasse des Resturant Venezia und lassen erst einmal Kozel Bier kommen. Leicht und fein, nicht zu süffig nicht zu bitter, etwas besseres kann es in diesem Augenblick nicht geben. Tino bestätigt. Was sich nicht bestätigt ist die italienische Namensgebung. Pasta gibt es nicht. Also Wurst, Suppe und Brot. Gut, nur nachher frage ich mich, ob es für einen kalorienverbrennenden, verwöhnten Gourmand wie mich reicht. Nur drängt die Zeit, die uns der Wind (und das Suchen) gekostet hat. Ganz Tschechien liegt noch vor uns und auch die Nacht.
Im letzten Tageslicht verlassen wir Jablonne und dringen in die dichte Nacht ein. Die Navis funktionieren auf Knopfdruck, nach einigen Minuten sind auch die Körper wieder bereit. Es geht immer weiter aufwärts, der Wind hat sich gelegt und der volle Mond wartet auf zwei einsame Pilger.