Der grüne Himmel

Der Lindwurm wälzt sich durchs Tal: Val dAzun, Juli 2019, die Tour der France stürmt auf den Col de Soulor zu. Auf dem Bildschirm verfolge ich, wie die bekannten kleinen Orte Asson,  Arthez d’Asson und Ferrières im Zeitraffer durchrollt werden.

Unten rechts im Bild erkenne ich den kleinen Hof, in dem ich Schafskäse kaufte. Das Team Movistar reitet seine scharfe Attacke und testet nach Ferrières die Gegner am Soulor. Wartet nur. Wenn sich die Karawane verzogen hat, wenn der Müll eingesammelt ist und die majestätische Ruhe der Berge wieder einkehrt,  werde ich kommen.

Im Frühjahr gab es einen ersten Vorgeschmack auf das Kleinod neben dem Soulor. Einige Serpentinen, die schon einen bleibenden Eindruck machten.

Drei Kilometer vor dem Tour de France  Anstieg hinter Ferrières geht eine kleine unscheinbare Straße links ab,  die man für einen Versorgungsweg halten könnte, der die letzte Höfe erreicht. Es ist die Paßstraße.

Das kleine Schild „col de spandelles“ beweist es. Mitten in einem Grün, das die Sommerglut über dem europäischen (Rest)Kontinent verleugnet,  beginnt einer der Pässe, die alles bietet, was  den Himmel des Radfahrers ausmacht.

Es gibt längere, steilere, höhere Pässe in den Pyrenäen. Dieser ist schwer, vor allem aber abwechslungsreich und schön. Und nur wenige liegen so günstig , doch gleichzeitig so verborgen. nach wenigen Metern scheint die Welt weit, weit weg und die Zeit wie angehalten.

 

Noch in den 1990ern war diese schmale Weg auf Karten als „nicht befestigt“ bezeichnet. Der große Tourmalet war es auf seinen letzten Kilometern bis ca 1983 auch nicht, allein, der Spandelles ist  kein durchgehender Paß gewesen. Noch heute ist er eine Privatstraße, die vor allem von Hirten, Eremiten und der Post genutzt wird. Und von Schafen, aber die kommen erst später.

Erst einmal den richtigen Rhythmus finden,  in den Berg kommen, jedesmal von neuem. Nie ist sicher, ob es Himmel oder Hölle wird. Auf jeden Fall aber wird der kleine Paß in den Pyrenäen eine Erlösung für alle, die ihre Tage in Dagenham, Poissy oder Niehl fristen müssen. „Freiheit, “ sagte ein wallisischer Radfahrer, “ ist für mich, allein auf einem Pyrenäenpaß unterwegs sein. “

Das erste Geräusch, das ich außer dem Bach höre ist ein eher klagendes Quietschen, das Jammern von geschundenem Metall – ich denke kurz an einen Lieferwagen der mit dem Fading kämpft. Ja, der Spandelles ist schmal, bucklig und steil: gerade am Anfang. Der Teer scheint ein patchwork aus  Generationen privater Initiativen zu sein, die Regen- und Frostschäden von Jahrzehnten ausbessern mußten.

Da kommt das Quietschen näher:  zwei Kollegen, die ihre Scheibenbremsen zur Weißglut bringen. Es ist in der Tat sehr unangenehm, hier schneller als 30 bergab zu fahren (oder mit mehr als 10 hinauf) . Das sehen Fahrer der Movistar heute vielleicht anders, nicht aber in 25 Jahren.

Prozentangaben am Weg gibt es nicht: der Staat betreut nur eigene Straßen. Aber Prozentangaben bedeuten nichts, wichtiger ist, ein Auge für den Anstieg zu entwickeln. Mittelsteil, steil, unerwartet steil. Die Geraden an der grünen Bergflanke haben es in sich, hier nicht mehr tun als nötig. Ein Renault in ausgeblichenem Gelb überholt mich – die Post will hinauf.

Die Strecke ist seit dem Frühjahr üppig zugewachsen: alles ist rundum grün überwuchert, Farn, Gestrüpp und Bäume. Dann hinter der Kurve

wird der Blick doch einmal frei auf einen kleinen Talkessel, an den sich Gehöfte schmiegen. Der erste Teil ist geschafft. Die Schafe weiden direkt an der Straße, der Hirte sitzt in seinem Wagen und blickt mir hinterher. Ich durchquere eine ersten Teppich brauner Bällchen. Der Weg beschreibt einen weiten Halbkreis und setzt den Anstieg in kleinen Serpentinen fort, durch die weder ein Laster noch die Tour-Karawane hindurch können. Und das ist doch gut so.

Links und rechts verstreut weitere kleine Hütten. Eremitagen, Sommerhäuser. Giftige Abschnitte, einfach so. Und plötzlich der erste Blick auf ein Straßenstück hoch oben, weit oben am Gegenhang. Es ist heute ideal: leichte Wolkendecke, allemal 25 Grad. Die Luft ist leicht, kein bisschen schwül; das erspart mir die zweiflügeligen Bremsen, deretwegen ich Shirts übereinander trage. Die 29 ist mein größtes Ritzel, rechts unter mir verschwindet das schmale Tal, in das der Bach unten eine Kerbe gesägt hat. Viele tausend Jahre lang.

Ich greife zur Flasche und als ich sie hochreiße, zerschmettere ich damit das kostbare Plastikschild des Raid Pyrénéen. Die Reste sammle ich ein und stecke sie in die kleine Lenkertasche –  Jetzt aber der Linie folgen, nicht aus dem Tritt kommen.

Alle Kraft geht in die Kehren die eng sind und scharf ansteigen , der Spandelles erlaubt nicht den Rhythmus sorgfältig geplanter Paßstraßen. Er ist ungleichmäßig, wild und völlig unübersichtlich. Nur noch fettes, krautiges Grün mit einem ganz bestimmten Aroma aus Farn, Minze und Heu. Hier, wo die Berghänge zusammenrücken nimmt die Steigung ab – ich kann einen Zahn runter.

Links eine Hütte mit rudimentären Stallungen – dorthin werden die Schafe getrieben und gemolken.  Die Straße geht in den Gegenhang, ich kann den Kopf hochnehmen mich umsehen. Die große Erleichterung – tief Luft holen, aus dem Sattel gehen, die Sekunde genießen.

Der Körper vergißt augenblicklich die Pein der letzten Minuten.

Das Wasser kommt direkt aus dem Berg in die Zinkwannen, Tränken für Schafe, die von weiter oben her blöken. Bergwiese und Tannen: alle Gerüche zählen doppelt.  Längst schon kommt der Lohn der Mühe näher, erkenne ich die Schafherde an dem letzten, freiliegenden Abschnitt über mir.

Das ist der Moment, an dem das Ende des Passes erahnt, das Rätsel der Serpentinen entziffert, der Moment an dem klar wird, daß das härteste geschafft ist und noch genug Körner bleiben, um über den Soulor zurückzukommen . . . .

Die Schafe läuten meinen letzten Kilometer ein. Hinter dem Knick wartet die Herde auf mich .

Jetzt trabt sie mir bimmelnd entgegen, lässig passieren die Tiere mich im zentimeterabstand, die Hunde haben die Situation im Griff und traben locker hintendrein . Meine schönen blauen 23mm reifen pflügen durch die nachgelassenen Bollen. Wieder jaulen Scheibenbremsen von vorn. Auf Zehenspitzen beginnen sie die Abfahrt.

Noch eine letzte Kehre – das Ende des Passes ist gnädig. Eine angenehm flache Gerade führt zum Schild. Eine Gruppe Motorradfahrer trifft ein, hier und da Automobilisten, Wanderer und  Radfahrer . Ein Paß gerade unter der Baumgrenze, auf der anderen Seite nichts als Tannen.  Die Pyrenäen schenken nichts, doch sie geben viel mehr.

Schön, wenn der Spandelles bleibt wie er ist. Die Hunde bellen, die Tourkarawane möge über andere Pässe weiterziehen . Mit eingelenkigen 600er Bremsen (gut eingestellt) schieße ich 14km ins Tal –  nichts quietscht, das Snel bügelt härtesten Rüttelasphalt weg. Der Soulor ist daneben ein Boulevard.

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