Bild: Roy D. J317
Wenn man so die Eckdaten hört 1200, 4000 km auf dem Rad, ohne größere Pausen, dann ragt man sich doch nur: wie machen die das eigentlich? Gehts mit rechten Dingen zu? Aus der Sicht des rechtschaffenen Radlers, der so in der Woche seine 30km rollt (wenn es hoch kommt) sind das berechtigte Fragen. Die schiere Größe der Zahl läßt Teilnehmer des transcontionantal race als bewohner einer anderen Galaxie erscheinen.
Es geht über die Vorstellungskraft hinaus, weil der Alltag eines homo faber dafür so wenig Anhaltspunkte gibt. Das liegt aber vor allem daran, daß der Alltag der Allermeisten ein Rad nur als Nebensache, als Wochenendheroismus zuläßt. Das kann jeder für sich entscheiden. Schon ein Pendelpensum von 30km täglich würde diese Sicht modifizieren.
Paris Brest steht vor der Tür. Diesmal bin ich nicht dabei, auch wenn die Qualifikation möglich war: ich habe nicht gemeldet. Ohne weit in diesem Logbuch nachzuforschen, (was ohnehin kaum vorkommt), kann ich mich doch sehr genau an sehr vieles erinnern. Paris Brest 2015 ist wie ein großer Film auf der internen Festplatte abgelegt, den ich nicht überspielen will.
Was auch dort eingeschrieben steht, ist der Weg nach Brest. Der beginnt Jahre vorher, dutzende Brevets und Radmarathons früher. Die ausschlaggebende Zahl ist die 200. Für einen auch nur durchschnittlich begabten Radsportler sind 200km bei einem Stundenschnitt von 20kmh eben 10 Stunden – ein schöner (langer) Sommertag auf dem Rad. Diese 200km sind eigentlich die Landmarke, mit der die lange Fahrt, die große Distanz beginnt.
Zwei Dinge sind entscheidend: Muskulatur und Stoffwechsel. Unser Vorrat an „schneller“ Energie steckt in den Kohlehydraten, den Zuckerkombinationen. Mit vollen Speichern fühlen wir uns stark und schnell, nehmen eine Welle nach der anderen und sprinten um die Ecken. Nach 90 Minuten allerdings ist damit Schluß, und wer es auf die Spitze treibt und jegliche Form von Kalorienzufuhr verweigert, der wird schon nach 2 Stunden keinen Maulwurfshügel mehr bewältigen. Der Hungerast hat gesprochen.
Wahrscheinlich gibt es grobe Anhaltspunkte, Trainingspläne und Eckdaten, die den Fortschritt markieren. Nur läßt sich das so schlecht verallgemeinern . Jeder beschreitet seinen eigenen Weg, umso mehr, wenn es um die Bewältigung der längeren Strecken geht. Daher kann ich hier nur in der ersten Person sprechen, an mir selbst klar machen, was die benchmarks waren, die Momente, in denen Erkenntnisse wuchsen.
Denn Kalorien nachführen ist längst nicht alles. Bei mir als spätem Neu-Anfänger hat es ein, zwei Jahre gedauert, dann erst war die Muskulatur da, um 50km nicht zur Folter für Hände , Rücken und Nacken zu machen – ganz unabhängig vom Tempo. Reden wir gar nicht über 200, sondern darüber, daß nicht nur Beine lernen, sondern der ganze Körper. 150km in Weinstadt/Schwaben, ca. AD 2011. Eine feine Radtouristik, viele Leute, ich habe das Gefühl, gut mitzuschwimmen. 100km geht alles gut, dank des kleinen dritten Kettenblatts kann ich auf 30×23 zurückgreifen, nach 120km ist mir noch warm; doch nur einen kleinen Anstieg später klebe ich wie Kaugummi an einem Hang und versuche, einen simultanen Krampf in beiden Oberschenkeln wegzudehnen – ich bin gerade noch vom Rad geklickt.
Der Krampf verzieht sich, aber die Beine sind auf einmal weich wie Pudding, da konnte ich herunterschalten wie ich wollte. Ein rettender Engel kam vorüber, eine Dame vom Werksteam Festo muß meinen hilflosen Schlingerkurs bemerkt haben – ich erinnere genau das Trikot des schwäbischen Mittelständlers. Sie gab mir ein Gel und fortan folgte ich lammfromm ihrem Hinterrad. Nach zehn Minuten fühlte ich mich wie neu geboren.
Eine kleine Urkunde erinnert an diese Fahrt, als bleibende Lehre: ein Amateur mit unzureichend trainierter Beinmuskulatur und schlechtem Fettstoffwechsel hat sich brutal übernommen. Er wird langsam lernen.
Ähnlich die Premiere über 200km. Oktober 2013, Zeitfahren Hamburg-Berlin. Ein Regentief mit Gegenwind aus Nordost war die segensreiche Herbstkombination. Das SNEL mt Schutzblechen ist meine Wahl. Kurz vor Halbzeit, bei Wittenberge, gingen mir wieder die Lichter aus inklusive Krampf. Mein Wille, so lange im Windschatten meiner Gruppe zu bleiben wie möglich, hatte mich letzte Körner gekostet. Der Regen hatte aufgehört, das Wasser stand in den Winterstiefeln und ich kullerte auf dem kleinen Blatt die Kilometer Richtung Wittenberge. Eine Truppe gutgelaunter Leute rollte mich auf, denen das Tempo um die 25 kmh nicht die geringste Mühe zu machen schien. Komm mit rief mir der weißhaarige Häuptling zu, ein etwas älterer, lustiger Knabe. ich aberkonnte einfach nicht folgen, nichtmal geborgen im Pulk. Geduldig kaute ich Nüsse, Rosinen, Schwarzbrot und wartete auf ein Wunder. Und das Wunder,( das keines war) trat ein. nach ungefähr 40 Minuten waren die neuen Kalorien angekommen und erkannt worden. Irgendwann ging der Umwerfer ganz von allein aufs große Blatt. Bei km 200 – recht genau bei Stölln – gab es noch einen GelBooster und das Ziel war kein Traum mehr.
Und das sind diese 200km, die der Auslöser sind, der Grundbaustein, auf dem alles weitere aufbaut, wie früher in den Fischer-Technik Kästen. Eine Art Tagesschicht des Brevets, die den Körper zum Fettverbrenner domestiziert und ihm die natürlichen Schranken zeigt. Dabei wird klar, mit welchen Dauergeschwindigkeiten zu rechnen ist. Wer über 25/kmh im Schnitt schafft, ist schon schnell, wer es in 10 Stunden schafft, ohne die Stempelkarte auf dem Zahnfleisch abzugeben, kann auch die doppelte Distanz bewältigen . Der Körper hat gelernt.
Wer jetzt an die erheblich höheren Geschwindigkeiten von Amateurrennen denkt, muß im Hinterkopf haben, daß dort im Pulk – also Windschatten – über kürzere Distanzen von Athleten im Höhepunkt ihrer Lebensfitness gefahren wird. Kein ganz brauchbarer vergleich, wenn es um Soloabenteuer über 200km geht.
Nicht daß man nun wie von selbst zum Paris-Brest Finisher würde. Klugerweise haben die Organisatoren eine entsprechende Qualifikations-Serie eingeführt. Das Muster ist vorgegeben: 200, 300, 400, 600 – die wachsenden Hürden sind Nachtfahrten und der Umgang mit Schlafmangel.
Da ist wirklich nur noch die individuelle Erfahrung, der eigene Biorhythmus und vielleicht die Tagesform entscheidend. Müdigkeit läßt sich nicht wirklich messen, allenfalls vermeiden.
Die Finisher von Paris Brest, die Abenteurer des Transcontinental Race sind keine Übermenschen, keine Außerirdischen – irgendwo Extremsportler, doch nicht im gesundheitsgefährdenden Sinne. Sie gehen an körperliche Grenzen, aber eher konstruktiv. Es das Ergebnis von Übung und Erfahrung, das Ergebnis tausender Kilometer: gnothi se auton sagt der Grieche.
Und : G288, J117, J126, J317, U060, X146 – das sind die Nummern denen wir folgen.
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Ich denke ja auch, dass 200 km eine ganz entscheidende Wegmarke sind, und ich bin froh, dass es mir noch vergönnt war, diese Strecke zumindest einmal zu bewältigen, bevor die Krankheit weiteres verhinderte.
Du hast den Zipfel gelüftet!