Hennef Cito – das war vor vier Jahren der erste Radmarathon. Dieser heute im September 2019 wird der letzte der Saison und es wird ein Solo. Ein Blick auf die Homepage des Cito genügt: die Strecke wurde wenig geändert – und führt Luftlinie 5km an der Haustüre vorbei. Download erfolgreich, das Abenteuerchen „unsupported“ kann beginnen.
Es ist eine Strecke rund um die Westhälfte vom Westerwald: im Norden bis an die Sieg im Süden an der Haustür vorbei . Viele kleine Täler und Anstiege. Dank GPS mit openstreetmap findet sich die Strecke leicht. Völlig unabhängig von Kontrollpunkten, Startzeiten und Formalitäten kann ich mir den Tag und die Verpflegung einteilen.
Ich führe ein Experiment durch. Meine Form stimmt, das schillernde Merckx ist in Schuß, das Wetter windig aber nicht zu sehr- alle Bedingungen sind gegeben. Heute fahre ich einmal TCR Modus. Selbstversorgt, kurze Pausen, flott, aber nie am Anschlag. 220km so, als lägen 2200km vor mir. Die Werte der Besten dieser Zunft kenne ich: 25kmh als Etappendurchschnitt über 10 Tage hinweg. Das bedeutet auch höhere Konzentration, keine Umwege, kurze Pausen. Photographieren aber geht immer. Hier ein sehr seltener Fendt 108s!
25er Schnitt: klingt absolut lächerlich, wenn man der Illusion des Rennsports unterliegt. Rennen – das Publikum weiß es – gehen allerdings selten über 5 Stunden und finden zu 99% in vollversorgten Gruppen statt. Radrennen der Eurosportklasse sind etwas völlig anderes als ein Langsreckenwettbewerb.
Deshalb eine kleine Vorbemerkung zu Distanzrennen:
Nach meiner ParisBrest Analyse 2019 (die Diagramme mit den Buntstiften) beginnt ab km 300 bei allen Beteiligten sichtbare Ermüdung. Die Geschwindigkeiten sinken stetig bis zur Schlafpause. Und danach geht es nie wieder über die 30er Grenze hinaus. Auch bei den Besten. Darum fahren die Teilnehmer Ultradistanzrennen unter ihrer (anaeroben) Schwelle: keine Sprints, kein überpacen, aber unablässig weiter ohne nachzulassen.
Quer durch Deutschland , 1911
So war es lange auch im Berufsradsport. Der Deutsche Rennkalender 1922 verzeichnet ein halbes dutzend Distanzrennen. München-Berlin, Berlin-Wien, Köln-Berlin, Breslau-Dresden usw. Bei Etappenrennen sind es selten unter 300km pro Teilstück, ganz gleich ob flach oder hügelig.
Der Bruder eines Tour-Siegers ist es, der mich auf die Spur brachte. Jean Bobet verzeichnet den Umschwung gegen 1950. Die Attraktivität von (Massen)Sprintankünften verlangte kürzere Strecken, desgleichen Bonifikationssprints innerhalb der Rennen. Das erforderte laut Bobet einen „neuen Typ“ des Rennfahrers und gleichzeitig eine Spezialisierung, die bis heute andauert, wenn sie nicht noch extremer geworden ist.
Nur in den Brevets sind die Urformen noch erhalten, wenn auch nicht kompetitiv. Aus diesen entwickeln sich in den letzten Jahren diverse autonome Langstreckenrennen, von denen es mittlerweile eine Handvoll in Europa gibt.
Bei Langstreckenrennen ist der „alte Radsport“ wieder gefragt. Und da zählt Maximalgeschwindigkeit wenig, die Dauergeschwindigkeit über Stunden und Stunden entscheidet, die Fähigkeit sich schnell zu erholen, am Berg nicht zu langsam zu sein und Nahrung perfekt zu resorbieren. Und natürlich jedem Tag 14+ Stunden im Sattel zu sitzen.
Hier auf der Strecke des Hennef-Marathons also der Versuch im HO Maßstab. Es ist ein großer Morgen, die Dörfer liegen ruhig , die wenigen Autos die mir begegnen sind nicht selten Kleinwagen von Pflegediensten mit Phantasienamen. Erste Sportsfreunde treffe ich nach 2 Stunden , die Gruppe eines Radvereins aus Altenkirchen.
Dann wieder nichts als Umgebung und Idyll, bis zum Anstieg aus dem Wiedtal, dort wo ICE, A3 und Radstrecke kreuzen. Eine beeindruckende Konstruktion, bei der die alten Fundamente der A3 Brücke von 1935 einbezogen wurden.
Ganz oben am Hügel Fahrer in Bonner Trikot beim selfie, sie springen eilig wieder auf ihre Räder. Ich grüße artig und hebe später unter einem Straßenbaum Mirabellen auf. Sonnig verstreicht die 11. Tagesstunde, als ich Start und Ziel passiere und ins Siegtal biege.
Ab jetzt werde ich auf der Strecke allein sein, denn Mitfahrer sind entweder weit vor mir oder trudeln schon ins Ziel ein – nur kleine Richtungspfeile erinnern noch an den Marathon. Meilen machen. Familien gehen zum Traktorfest, Motorräder tuckern vorüber, es ist ein schöner Sonntag – und er macht hungrig.
Die Tankstellenpause inEitorf ist zu lang für ein TCR! Ein solcher Stop wäre da vorgeplant : max 5 min, Lage und Ort bekannt. Hier aber eine Viertelstunde mit der beobachtung von Kunden, den Gesprächen von Mitarbeitern und dem Genuß von Milchschaum verbummelt. Mindestens fünf Positionen verloren – Ich spüre, welche mentale Anspannung ein Ultradistanzrennen verlangt. Videoschnipsel von zitternden, scharrenden Fahrer vor Tankstellen. Mehr als nur körperliche Spannung.
Kaum Zeit zu fragen, wieviele Wollfabrikenoder Webereien noch stehen. Mit ihnen fing ja „alles“ an. Nun sind wir beim Poly-Recyclat dem Gewebe des 21ten. Shirts aus guter, waschechter Baum/wolle, die Massenware der 90er, werden immer teurer und seltener. Desgleichen Strumpf- und Wirkwaren. “ Ihr werdet euch wundern“ schwingt der Opa mahnend die Krücke und verschwindet in einer Kirche. Hungerwinter 47.
Aus dem Siegtal südlich zurück in den Westerwald. Im Wechsel der Bachtäler hinauf und hinab als Backlash kehren Bilder von vor drei Jahren ins Gedächtnis zurück. Das Auf und ab, die milde des späten Sommers und das schon etwas müde Grün.
Noch eine Streckenteilung erhascht, den letzten Mohikanern der Veranstaltung zugewunken (3136 bitte kommen) und dann gleich wieder die nächste kernige Senke. 39×28 ist notwendig – mit Gepäck ginge das übrigens auf Dauer gar nicht.
Die Kirche am August Sander Platz. Der Infokasten der SPD davor, gegenüber der Sparkasse die kleine Bäckerei in der gerade erste Sonntagskuchen gekauft werden, – seit über 50 Jahren.
Weiter über die grüne Hochebene, vielleicht mal ein Bus, vielleicht mal ein Motorrad. Tiefe Ruhe und weite Sicht bevor es wieder hinab in die Wälder geht. Der Reiz wogender Gräser, wuchernder Hecken.
Irgendwann das breitere Band einer soliden Landstraße – es ist doch die B8! Köln nach Frankfurt, eine vereinzelte Tankstelle. Noch erkenne ich die Landschaft nicht präzise, noch bin ich jenseits bekannter Strecken.
Aber plötzlich: über Altenkirchen. Der Blick geht 20km in die Ferne, die Silhouette von Hachenburg wird kenntlich, ein großer Kasten auf dem Stadtberg, man schult darin für die Bundesbank. Dort werde ich meine Lieblingstankstelle anfahren, die Bell Oil mit reichem Angebot, dem Cappuccino , der Laugenecke und vielen Magazinen. TCR Modus off.
Überraschung der heimischenWildnis, reife Brombeeren am Straßenrand. Hunderte, tausende zum greifen nah. Sie schmecken wunderbar nach 180km. Aber wer wird kommen und sie nach mir ernten? Die Traktorvereine ziehen vorbei, die Motorräder ziehen weiter, der Ford Gran Torino rollert klimatisiert vor sich hin.
Und dann ist alles schon wieder vorbei, die letzten Hügellinien liegen hinter mir, noch einmal hinunter und gleich zuhause.
Die Bilanz
220km. Der 25er Schnitt hat fast geklappt, möglich ist er, leicht war es nicht. Die Geschwindigkeit in der Ebene muß mindestens 30 betragen, Abfahrten sind konzentriert zu nehmen (und schnell). Nicht zu vergessen die Anstiege, die ein konstantes Grundtempo unter der eigenen Schwelle verlangen. Ich schätze, mehr als zehn Minuten darüber und es wäre nicht möglich, in diesem Modus über 350km an einem Tag zu fahren. von der mentalen Anforderung, möglichst wenig zu vertrödeln und keine Streckenfehler zu machen ist gar nicht die Rede, 9, 10, 11 Tage lang. . . .
Ich dagegen: das Merckx wieder in den Keller, glücklich und müde (nicht erschöpft) zuhause sitzend. Danke und Prost.
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lieber Christoph, Du beschreibst auf treffliche Weise den Unterschied von Rennradfahren und Randonnieren. Was es bedeutet, auf langen Distanzen einen 25 km/h Schnitt zu halten, wie erfüllend es sein kann, 200 km in bekannten Gefilden zu rollen und wahrzunehmen: Natur, Menschen, Kultur, sich selber. Das ist es! Wohl dem, der das kann und es danach auch noch so gut beschreibt. DANKE dafür.
Wenn die Webseite erröten könnte, würde sie es tun. Der Dichter dankt zurück….