Der King of Mercia blickt auf den Fulda Gap

Der Backsteinturm ragt massiv in den zartfarbenen Morgenhimmel über Frankfurt, –  kein neuer Zinsturm sondern nur ein früher Versuch, die architektonische Moderne an einer Kirche umzusetzen: St.Bonifatius, Thorwaldsenstraße. Seit 5h30 bin ich unterwegs. Es hat geklappt, ich werde pünktlich eintreffen.

a02Die Uhr der expressionistischen Kirche schlägt 8 und schon bin ich am Südbahnhof . Rosige Wolken über dem Bahnhofsdach, durch die ein Dreamliner langsam auf den Flughafen zugleitet.

Vor dem Bahnhof stehen schon die ersten Randonneure , die sich hier zu einer informellen Runde zusammentreffen. 200km hinauf in den Vogelsberg  hat der Streckenplaner und Koordinator „Olaf King of Mercia“ ausgearbeitet. Bei sonnigen Prognosen für das letzte Oktoberwochenende werden sich ein dutzend Randonneure auf den Weg machen.

Wie bei Randonneuren üblich, gibt es immer eine bunte Palette vom klassischen Randonneur mit  glänzenden Schutzblechen über das Liegerad bis zu den aktuellen Carbon-Disc Lösungen, die sich als Gravel Bikes in den letzten Jahren in die Welt der Zweiräder eingeführt haben.

Die Fahrt beginnt mit einem Mainspaziergang. Den Uferweg nutzen morgens überwiegend Läufer, die sich für den Wechsel an der Spitze der EZB fit halten. Man weiß nie, was der Anstieg des Leitzinses demnächst für Opfer verlangen könnte. Daneben ziehen Ruderer auf dem Main ihre schlanke Spur durchs stille Wasser. Die nächste Brücke führt uns hinaus, die Gebäude werden schlichter, unsanierter, eine Reise zurück. Vom Schalenbau zum Fachwerk in 10 Minuten.

Schon sind wir vor den Toren der Stadt am Treffpunkt „Hohe Straße.“ Dort stößt noch ein Sportsfreund mit  lilagelbem Basso zu uns. Die Sonne hat endlich genug Kraft den Morgenschleier zu durchbrechen und öffnet die Sicht auf die Wetterau. Schnurgerade führt die hohe Straße übers Land Richtung Vogelsberg einem Massiv, das aus einem einzigen, riesigen Vulkan gebildet wurde (heute erloschen).

Schnurgerade über die Felder. In der jungen Sonne glänzen die schönen Randonneurs-Schutzbleche. Das Rennen um den besten Breitreifen endet schon nach 20km, als ein „compass“ seine wertvolle Luft verliert. 1:0 für Pasela. Meine auf 7bar geblockten, alten 23er „Aksion“ mäntel mögen mich bitte nicht im Stich lassen.

Ganz allmählich gewinnen wir über sanfte Wellen an Höhe, werden die Dörfer kleiner und nehmen die Waldstücke zu. Die Rübenhaufen deuten auf gute Bodenpunkte, das Fachwerk auf alte Struktur. Keine 50km vom Ballungsgebiet entfernt.

Süßlich duftet der Senf (oder ist es Winterraps?) als der Gipfel erklommen ist. Die Gruppendynamik stimmt, an den Höhen und Wendepunkten wird gewartet, kleine Gruppen formieren sich jeweils neu, gesprächsfäden werden weitergsponnen.

Dem Liegerad in einer Abfahrt folgen macht Spaß, diese Dinger werden abwärts immer schneller; eine Rollenverteilung, die sich an Steigungen umkehrt. Brestfahrer W009 zeigt uns wieder und wieder, was in der recumbent Position steckt.

Das Durchschnittsalter der Traktoren zwischen den Mauern verrät zwei Dinge: Betriebsgröße und Alter der Hofwirtschaft. Der Traktor – Fachdeutsch: Schlepper –  steht am Beginn einer Erlösung von täglicher, jahrhundertelanger Schinderei.

ab6Seine Boomjahre reichen von 1950 bis in die 70er. Harmlose 30 PS reichten für viele Arbeiten eines kleinen Hofes vollauf. Seitdem wuchsen die die Betriebe unaufhörlich, die Kleinen gaben auf, das Gesetz der Skaleneffekte griff. Traktoren blieben.

Die Höfe schwanden, die Maschinen jedoch führen ein zweites oder drittes Leben als preiswerte Universalgeräte. Sie sind langlebig, wartungsarm und nur unter hohen Kosten ersetzbar. Eine Wiese mähen, Holz holen oder Baumaterial transportieren – gerade in größeren Mengen – das geht nur so. Und wer weiß – vielleicht lohnt sich schon bald wieder das eigene Vieh?  . . . .

Hier oben – wo Felder immer größer und Dürfer immer kleiner werden – keine unrealistische Vorstellung. Minimal beladen ziehen Randonneure höher und weiter – genießen immer neue Aussichten und Abfahrten, entdecken entlegene Dörfer

und ungewöhnliche Sportarten. Denn der Winter naht, die örtliche Bevölkerung stellt sich auf verschneite Straßen ein.

Rechtzeitig wird vor Ladenschluß der letzte Supermarkt erreicht; über unser unangekündigtes Kommen ist man erfreut. Und dann geht es schon weiter über weitere  Höhenkämme. Einer nach dem anderen, einer schöner als der nächste.

Wir sind jetzt allmählich oben im track . Eben noch tat sich nach rechts der Blick auf die Höhenzüge der Rhön auf. Gleich wird nach Norden hin das Marburger Bergland deutlich, dahinter das Rothaargebirge schwach sichtbar. Eine Bühne für Märchen der Kindheit – erst recht, wenn man sich den Winter dazudenkt. Nur überblicken wir an diesen Punkten nichts weniger als die strategische Lücke, die vom US Generalstab in ihren Planspielen als Fulda Gap bezeichnet wurde.

Gerade in diesem unfaßbar sonnigen, unfaßbar friedlichen Dahinrollen, das bildlich gesprochen schon seit einem 9. November vor 30 Jahren währt, kann eine Erinnerung an die Prekarität des Zustands nicht schaden, der langsam seinen Weg in die Geschichtsbücher findet.

Fulda Gap

Gemeint sind die nördlich und südlich des Vogelsberg verlaufenden Talsenken, durch die eine angenommene Panzerüberlegenheit des Warschauer Paktes in einem Blitzangriff vordringen konnte, um die Bundesrepublik in einen nördlichen und südlichen Teil zu spalten. Das war in den Augen des kalten Krieges die einzige nicht-nukleare Option, Westdeutschland in wenigen Tagen zurückzuerobern. Verkherstechnisch führte sie über die A45 im Norden und die A5 im Süden.

Grund für diese Annahme war das Vogelsbergmassiv .  Außer einer schwachen Infrastruktur behinderten die mannigfachen Täler und Wälder, die uns hier gerade zu schaffen machen eine brauchbare Verteidigung. Anstieg um Anstieg, Welle um Welle.  Im Winter oder Frühjahr kein leichtes Gelände, um anrückende Panzerdivisionen zu kontrollieren. Unter der

Ob es tatsächlich Planspiele des Warschauer Pakts für eine solche Offensive gab, will mir das Netz nicht direkt verraten, es gibt nur journalistische Berichte und die nackten Zahlen von Panzern und Munition darüber. Wenn man denn in der Logik militärischer Taktik denken will: nur ein schneller, konventioneller Schlag hätte (von beiden Seiten gesehen) ein zivilisationsfähiges Deutschland hinterlassen. Pervers aber folgerichtig. Nach Abschluß des kalten Krieges jedoch sind diese Planungen Geschichte, die Truppen abgezogen und die (meisten) Nuklearsprengköpfe mit ihnen ….

ab5Definitv zivilisationsfährig ist unsere kleine Gruppe – wir kommen nicht-invasiv und in friedlicher Absicht und kennen unser Glück. Ein funktionierendes Rad und eine gute Schaltung ist unsere Rüstung.

Hierdurch also führte uns Olaf, King of Mercia. (Ich habe ihm einfach den Titel seines Rades übertragen).

Für mich ist es an einer kleinen Kreuzung Zeit, Abschied zu nehmen. Ich mache biege in Höhe des kleinen Fiat Seicento Richtung Gießen via B49, fast hundert Kilometer warten noch bis an den Herd. Die übrigen werden gemeinsam noch ein paar Letzte Wellen nehmen und durch das Niddatal nach Süden rollen.

Farewell  und Bonne Route liebe Mitfahrer, kommt gut an den Main!

DSCF5395Ein Tag ohne Kondensstreifen wird man ihn später nennen.

 

 

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2 Antworten zu Der King of Mercia blickt auf den Fulda Gap

  1. monnemer schreibt:

    Ein glücklicher Tag und ich bin froh, dass ich einen ersten Eindruck dieser wunderschönen Gegend erradeln konnte.

    Bündnisgrenzen sind verschoben, die Planungen sind andere. „Defender 2020“ lässt grüßen.

    • crispsanders schreibt:

      Eine rundum gelungene Landpartie in die grünen Reserven, ja!

      Und die „Verteidigung“ ist möglicherweise unbestimmt nach nach Osten gerückt. man weiß das ja nicht so genau. Die Äußerungen und Absichtserklärungen sind unklar und widersprüchlich. Wurde präsidial unlängst bestätigt.

      Im übrigen ist der unerwähnte 11.November (heute) im Nachbarland ein Feiertag.

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