Die vergessene Kurbel

Erster Dezember 2019.

Die Tage werden kürzer, die Ausfahrten auch. Mancher Infekt steckt noch irgendwo im Körper, da ist Vorsicht angebracht – sagen Gesundheitsexperten. sagt aber auch das Körpergefühl: warm verpackt und mit leichtem Tritt, so ist es besser, damit die 100km nicht mehr schaden als nutzen.

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Für das Training im Winter wurden Starrgänge propagiert. Dabei ging es bei mittelkleinen Übersetzungen (je nach Fähigkeit) darum, immer im Tritt zu bleiben, die Muskeln immer in Aktion zu halten und ordentlich durchblutet. Meine Absichten sind ähnlich, mein Weg ein anderer.

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Er führt über den Westen Richtung Rhein,  um vielleich ein paar mehr Grad Celsius zu bekommen. Denn Rückweg später an der Lahn entlang, der gleichmäßig und eben verläuft. Das Mittel der Wahl ist nicht der starre Gang, sondern die verpönte DreifachKurbel.

Sie ist an einem klassischen Rennrad eine wunderbare Möglichkeit, nicht nur leichte, sondern auch eng gestufte Gänge zu fahren. Hier: 50/40/30 und 13-26 auf 6 Ritzeln. Mit dem kleinen Kettenblatt von 30 sind sehr angenehme Frequenzen bergauf möglich, die den Körper wärmen und nicht zu stark schlauchen.

ak5Und wenn es durch den Wald geht, weil dem grünen Radwegschild gefolgt wird, dann macht sie sich auf heiklen Passagen im Schrittempo nützlich. Klare Empfehlung und Kauftipp. Aber warum sich den Kopf einer Firma für Radkomponenten zerbrechen ? – ich erinnere  nur an Vorzüge alter Lösungen aus d. letzten Jahrtsd.

Denn leider sind diese schönen Stücke schon lange aus den Katalogen verschwunden.

Eine Weile ging es nach Westen, über den Limes hinaus, dessen Türme hier und da nachgebaut sind. Dann beginnt der Abstieg zum Rhein und meistens steigen auch die Temperaturen spürbar an. Heute ist es genau umgekehrt. Immer tiefer dringe ich in eine dichte Watte ein .

ak7Über dem Rhein ist  eine kalte Nebelsuppe aufgezogen, die sich in feinen Tröpfchen durch Handschuhe und Trikots zieht. Eine kurze Partie an der Uferpromenade mit einem Fahrtgenossen, dem es ebenso geht. Ganz kurze Pause.

ak6In der Tankstelle: Menschen aus wohlgeheizten Autos strömen hinein. Auf dem Bildschirm kurvt ein betont lässiger Reporter mit roten Cabrios über Küstenstraßen, auf denen er völlig allein unterwegs ist. Draußen steht ein junger Mann an seinem Wagen und raucht eine, der Adventssamstagsverkehr am Rheinuferrollt an ihm vorbei, Familien schieben Kinderwagen auf ein unsichtbares Ziel hin. Niemand sieht dem strahlenden Reporter in seinem roten Cabrio zu, während er die verchromten Schalthebel streichelt.Was ich hier brauche, sind viele Kalorien.

ak9Hier sind sie. Ich bin froh, noch einen Platz im weihnachtlich dekorierten Palazzo gefunden zu haben. Von den praktischen Tischen an der Bar habe ich gleichzeitig einen Blick auf den geschmückten Platz und das Krautscheid. Zugunsten von Kalorien verzichte ich heute auf die geliebte Pizza. Nach dem dritten oder vierten saftigen Biß beginnt es in meinen Fingern zu kribbeln. Dazu ein schönes, herbes Pils. 300g Energie wollen verdünnt werden. Frittierte Kartoffeln (keine Pommes!) könnte man öfter sehen.

Der Tag geht schnell zu Neige. Ohne eine Sehenswürdigkeit zu streifen, muß ich schon zur Stadt hinaus.

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Koblenz, Lahnstein, das Lahntal. Menschen mit Laubbläsern auf dem Gehweg. Plötzlich ein Streifen blau.

al2 Der Turner Moment ist da und gibt den Blick auf die eindrucksvolle Lahnbrücke frei. Sie führt die lahntalbahn seit über 150 Jahren an den Rhein. Preußen finanzierte diese knifflige Strecke durch Hessen Nassau (viele Tunnel, viele Kurven), damit Erz, Kohle und Holz an Rhein kamen. Noch 50km, jetzt noch soviel von der Sonne mitnehmen wie möglich, soweit es die tief eingekerbte Lahn zuläßt.

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Lahninseln und Siedlungen wechseln sich ab. Ich grüße sie als alte Bekannte aus sommerlicher Zeit :Bad Ems, Nassau, und noch eine Persönlichkeit im letzten Licht:

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Der schiefe Turm von Obernhof. Mit dem Licht wird es knapp werden, schon bilden sich über der Lahn erste, feine Nebelstreifen. Mit dem Verkehr gibt es keine Probleme, sehr wenige stören meine fahrt durch einss der schönsten Flußtäler Deutschlands. Struppige Wälder auf Schieferfelsen, die als stenerne Schraffur die Vegetation durchbrechen. Dann verlase ich das lahntal und biege nach Norden in das noch kleinere, noch wildere Gelbachtal ein.

ak91Im Büchsenlicht bewege ich mich durch das dichte Gestrüpp am Bach entlang, seit über einer Stunde auf dem großen Blatt. Nur eine Heckleuchte und die Leuchtweste schützen mich ,  aber es kommt nur alle 5Kilometer jemand. Meine reflektoren entfalten ihre volle Macht, das kleine rote Rücklicht läßt die verchromte Kettenstrebe wie eine Weihnachtskugel leuchten. die Kräfte werden reichen, aber mehr sollte es nicht sein. Einen ganzen tag werde ich brauchen, um mich von dem Ritt zu erholen, da nutzt auch die vergessene Kurbel nichts.

ak99Weihnachten kommt näher.

 

 

 

 

 

 

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7 Antworten zu Die vergessene Kurbel

  1. Twobeers schreibt:

    Die Dreifachkurbel! Ich liebe sie an meinem Geländerad, wo ich ob des Maiskolbens belächelt und ob der Kurbel ausgelacht werde. Mein Lachen beim Anblick einer 10-50 Kassette für über 300 Euro ist allerdings viel lauter….

  2. crispinus schreibt:

    Wer rechnen kann ist eben klar im Vorteil.
    Man hört auch, daß elektrische Schaltungen gerne 1fach Kurbeln mögen, weil dann kein Umwerfer angesteuert werden muß. . . der Fortschritt ist nicht aufzuhalten.

  3. monnemer schreibt:

    Beim Anblick von 10-50 denk ich immer: das muss was Religiöses sein.
    Buddhistischen Tempeln nachempfunden. Borobodur, Wat Pho, Ayutthaya usw.
    Und wenn das ins Spirituelle abdriftet, spielt der Preis halt keine Rolle mehr.

    3×6, bzw. 3×7 jetzt an 2 Rädern – ich mag das immer mehr.

  4. crispinus schreibt:

    Trotz allem sei nicht vergessen: die 3×7 MTB Welle lief so richtig in Ballungsräumen heiß, wo es ein 3Gang immer schon tat. Das waren die 90er.
    Und jetzt probieren wir in Hamburg halt das nächste krasse Teil aus.
    Es ist ein wenig wie in der Amateurphotographie: die knipsenden Opfer haben das gute und notwendige Material für Profis finanziert.

    Um dann puristisch zu den basics zurückzufinden . . . . .

  5. mark793 schreibt:

    Ich erinnere mich noch gut an meine Runden in der Gegend. Da ich zum Schluss immer noch hinauf nach Welschneudorf kurbeln musste, war ich um die Dreifachkurbel vom Koga auch froh, wenngleich ich mit 23 hinten nur unwesentlich leichter unterwegs war als mit 39×28. Was beweist, dass die Dreifachkurbel auch als psychologische Stütze durchaus taugt. 😉

  6. crispinus schreibt:

    Das war ein Ultegra Modell, wenn ich mich entsinne. Sehr hübsche, letzte Option, bevor die „Kompakt“ Kurbel in großem Stil über den Rennradmarkt fegte. Die 3fach Ultegra wurde in ihrer Zeit sehr häufig verbaut. Und 30-23 ist sportlicher als mancher denkt.

  7. mark793 schreibt:

    Richtig, die 6500er-Gruppe mit 3×9. Nicht ganz einfach einzustellen, 3×7 ist irgendwie idiotensicherer. Dass das 9-fach-Zeugs schneller verschleißt (schmalere Kette und schmalere Ritzel als 7- und 8-fach), kann ich indes nicht bestätigen.

    Es gab von der Dura Ace jener Generation (oder war das schon 3×10?) übrigens auch eine Dreifachkurbel mit passendem Schremshebel. Hätte ich nicht gewusst, wenn ich für unseren radverrückten Bekannten in Bayern nicht einen ziemlich runtergekommen Aluhobel mit ebendieser Ausstattung abgeholt hätte.

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