Tag 2. : „500 millions de chinois, j’y pense et puis j’oublie . .“
Jacques Dutronc
Eigentlich ist das ein schönes Geschäftshaus in einer historischen Altstadt. Eigentlich ist es aber dem Strukturwandel zum Opfer gefallen, den die kleine Garnisonstadt seit Jahren bewältigt.
Niemand freut sich darüber, auch wenn alle das unsanierte, ungedämmte alte Haus ganz dekorativ finden, wenn sie mit dem Rad durch die Altstadt flanieren, die sich von ihren Siedlungen doch so unterscheidet. Nur ein Vorgeschmack von shutdown.
Mein kleiner Radladen liegt nur wenige Meter entfernt, schräg gegenüber. Besser gesagt: lag, denn seitdem der einzige Fachmann Altersdiabetes bekam – ein Fahrradmechanikermeister als Aufstocker – ist das hoffnungsvolle Startup nach 5 Jahren geschlossen. Kein Azubi, kein Geselle in Sicht – der Inhaber ist nicht vom Fach. In den letzten 5 Jahren hat er sicher etwas beiseitelegen können, aber Systemrelevanz kann er nicht behaupten.
Als ich mein KogaMiyata 2015 für Paris-Brest in Frankfurt abholte, stand ich wenig später im Stau. Es war ein schöner Tag, man lustwandelte unter stehenden Blechreihen und kam ins Gespräch. Der Hintermann war Ladenbauer. Er wollte in eine Mittelstadt des Westerwaldes. Eine Stadt mit historischem Kern und ICE Anschluß.
Über die alte Stadt sprachen wir nicht, allenfalls dient sie als Kulisse.
Denn vor Ihren Toren entstand parallel zu Bahntrasse und Autobahn ein neues Einkaufszentrum, für das Bäche begradigt und Wäldchen (1Eiche = 150 Jahre) gerodet wurden. Der Zufallsbekannte der A3 fragte nach den Aussichten eines so großen Projekts auf halbem Weg zwischen Frankfurt und Köln, auch wenn es auf der anderen Seite der Autobahn schon ein Gewerbegebiet gebe; und ich sagte: gut. Sie wollten es FOC nennen.
Er kannte nicht das Lied vom goldenen Reiter ,es ist schon 40 jahre alt.
Und so kam es. Late Night Shopping und Fußgängerbrücke. Sie hatten einen Parkplatz für 2000. Dann wurden es 3000 neue Plätze und nun, 5 Jahre später – wollen sie 2000 mehr.
Denn so lief das Millenium. Kleinkaufhäuser, Einzelhändler und Fachgeschäfte für die happy few unter den Kunden und den Überzeugungstätern. Kunden stimmen mit dem Auto ab, auch wenn viele den Verfall der beschaulichen Innenstädte mit verheucheltem Wehklagen bejammern. Sie sind es, die den Verfall verursacht haben. Sie, mit ihren 10 Euro Sneakern.
Nun der shutdown der Geschäfte und dazu vielleicht ein lockdown, also die Bewegungs- und Handlungsbeschränkung wegen Coronavirus. Das italienische Haus schließt, Das deutsche Haus schließt.
Meine Wege kenne ich, die kleinen Haken des Alltags. Meine Routinen, ich fahre sie oft genug, um jede Veränderung zu erkennen. Sie werden kommen.
Die Lerche steigt in den Himmel und verteidigt singend die unsichtbaren Grenzen ihres Reviers. Wir bereiten uns auf den shutdown vor.
Eine Problem dabei, Versammlungen über 100 Personen sind verboten – nur Märkte für weniger als 100 Kunden existieren faktisch nirgends. Wie sollen die Menschen dann ihr Essen kaufen? Werden die Kaufländer und Globus- und Realpaläste den Zutritt kontingentieren? Werden sie sich anstellen, wie früher beim Berghain, auf Gnade der Türsteher hoffend ?
Jahrelang wurden wir immer wieder von entsetzlichen Beschreibungen verseuchter, kollabierter und verbrannter sweatshops am Sonntagstisch erschüttert, in denen tausende, anonyme Textil- und Spielzeugproduktionssklaven ihr Leben ließen. Dazu detaillierte Informationen zu Umweltverbrechen aller Art. Wir machten uns unsere Gedanken und vergaßen sie am nächsten Samstag.
„J’y pense et puis j’oublie . ..“
Die angedrohte Katastrophe aber ist: Franchiseketten, in denen Hasi und Mausi das 5 Euro T-Shirt finden, bekommen einen lockdown verpaßt.
Doch der Staat wird helfen, auf daß 10 Fußballfelder, die das Warenlager von KIK Textil bei Unna in die Landschaft fräst, nicht zur wirtschaftlichen Ruine wird. Der Standort muß gesichert werden. Waren wollen gekauft werden, Sklaven beschäftigt.
Ich kenne die Schleichwege rund um den shutdown, ich besuche die Supermärkte im Schatten der Bilanz und letzte Einzelhändler, die eine lokale Bevölkerung versorgen, die am Monatsende meist zuhause bleibt. Rundum werden die Klagegesänge anschwellen, nachdem das Naturrecht auf Urlaub am Korallenriff gekippt wurde und die Weltreise auf einem Plattenbau der Meere ins Wasser fiel. Denken Sie darüber nach.
Dieses Virus hat einen interessanten Nebeneffekt: es macht jedem klar, in welcher Spirale von Komfortgewinn bei schrumpfender Marge die „entwickelten“ Gesellschaften des zweiten Jahrtausends gefangen sind. Welch labilen Fließgleichgewichten der großen Zahl, steigender Containerumschläge und Wachstumszwängen sie ausgesetzt sind. Wenn ich Tulpen gieße, wachsen sie endlos weiter und kollabieren.
Um im physikalischen Bild zu bleiben: Diese Unterbrechung einer fortgesetzt wachsenden Zahl von Kettenreaktionen aus Verschuldung, Investition und Konsum würde bei Andauer zum meltdown in Teilbereichen degenerieren, und den Zentralreaktor in Gefahr bringen. Ein Wirtschaftsfukushima, dessen Zentrum eine chinesische Provinz ist.
Das System Weltwirtschaft implodiert jedoch nicht von allein, erst zerfällt in dysfunktionale Teile, die kein Ganzes mehr bilden können. Und dazu reicht eine Unterbrechung der Brennstoffnachfuhr (Consumare: verbrennen!) von nur wenigen Wochen.
Die Wirtschaftsingeniöre weltweit sind viel zu beschäftigt damit, exponentielle Effekte von Ketteninsolvenzen mit Helikoptergeld und anderen Hilfsinstrumenten (der Instrumentenkasten!) gegenzusteuern, um noch über das eingebaute Paradox ihres Gebildes nachzudenken. Wir übrigen sind in den von uns geschaffenen Strukturen gefangen.
Denn tausende müssen ununterbrochen in ein outlet strömen, damit es sich rechnet. Produktionen laufen im Dreischichtbetrieb – es gibt keine stop taste, kein reset, diese Dinge sind Realität, wenn auch nur der kleine Ausschnitt für Endverbraucher.
Look how they run like pigs from a gun sangen die Alten. Sie fahren immer dichter an mir vorbei, sie hupen mich weg – vielleicht war ihr Nachbar schneller. Ich bin ihnen im Weg, denn die elementare Freiheit ist bedroht: nicht mehr einkaufen können.
Tulpen stehen in Mengen vor den Läden und verblühen. Der Frühling beginnt unaufhaltsam.
Im hiesigen Edeka war es gestern so weit, dass der Einlass kontingentiert wurde, dabei waren auf dem Parkplatz freie Lücken wie selten. Ich bin dann zum anderen Edeka in der Dorfmitte geradelt, dort normaler Betrieb, bis auf die Aufkleber mit „Abstand halten“ vor den Kassen.
Ach ja, der Radschrauber meines Vertrauens hat seinen Laden schon im Februar dichtgemacht, er ist jetzt wieder bei seiner früheren Wirkungsstätte, dem etwas größeren Radladen in der Durchgangsstraße. Fraglich, wie lange dieser den Shutdown durchhalten kann. Ich wäre ja dafür, Radläden als systemrelevant zu deklarieren (gerade auch mit Blick auf den Klimawandel).
Die Situation in den Radläden wird wohl eher kontrollierbar sein und qua Freistellungsverfügung mit Einzeleinlaß (für die Inhabergeführten Läden) zu machen. Die Großfilialisten wie Stadler sind möglicherweise in einer unangenehmeren Situation. Ihre schönen Indoor Pisten werden für Massenstarts geschlossen.
Der neue Begriff „Versammlungen von mehr als zwei Personen“ entstammt dem englischen Dictum Two is Company – Three is a Crowd.
Mehr als ein Angestellter mithin ein no go. Hmm.
?
Hat man da wirklich gründlich überlegt – ich bin mir nicht sicher.