„Die Menschheit hat sich so vermehrt und verdichtet, daß atomare Gesetze sie zu lenken beginnen. Jedes Gasatom bewegt sich chaotisch, aber ebendieses Chaos gebiert die Ordnung als Stabilität des Drucks.“[3Stanisław Lem: Der Schnupfen. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, ISBN 3-518-37070-7, S. 198.
Auch in Zeiten der Lockerung ( Euphemismus für „geht bitte, bitte alle einkaufen“) ist es mit dem internationalen Strandhopping nicht wieder soweit. Ein Rad bietet sich immer an, den Aktionsradius zu prüfen, den die Pandemie gestattet. Auch wenn es nur hinter vorgehaltener Hand weitergesagt wird : in Deutschland gibt es großartige Panoramen, einsame Wälder und unendlich viel frische, virenfreie Luft, die darauf wartet, in den Volkskörper zu strömen. Gasatome können sich ohne Druck frei bewegen.
Das Gebiet zwischen Dill, Lahn und Eder ist auf Landkarten ein unentwirrbarer grüner Fleck mit tausend Höhenmarken und Nebenstraßen. Mit dem Super Randonneur Fafnir und dem Marschall geht es 12h durch die Wälder. Als ortskundiger Tourguide wird er verhindern, daß wir in einem Bachtal oder einem Hexenhäuschen verlorengehen.
Aber das alles ahnte ich nicht so genau, als ich mich in den Sonntagmorgen stürzte. Die Luft war windstill und leicht feucht, es hatte zum ersten mal seit Wochen geregnet. Eine milde Sonne dringt durch Wolkenstreifen. Überall ein Geruch nach Frühling, bald würde ich die Windjacke abstreifen….
Am „Knoten“ habe ich die Höhenlinie des Westerwalds nach 20km erreicht, dahinter liegt die Krombachtalsperre, der mein Helm gewidmet ist. Die Luft ist plötzlich kühler, die Straße sogar naß, meine Schutzbleche bekommen zu tun. Von hier an geht es abwärts, über Driedorf zur Lahn nach Herborn hin. Mutig wähle ich den Radfernweg und gerate auf Holzwege –
Nun stehe ich mitten im Wald, einem sehr schönen Wald, aber der Radfernweg R8 ist eine Basaltschotterpiste . Die Planer hatten das Marschall wohl nicht auf der Rechnung. Das Idyll wird eine hübsche Rüttelprobe für die Aluminiumbleche und die Dauerverzögerung der Cantileverbremse. Alles hält. Test 1 bestanden.
Nun die verlorene Zeit wiederfinden und den rechten Weg nach Herborn. Auch hier ist die Beschilderung doppeldeutig. Zwei Schilder führen zum Ziel. Ich wähle falsch, die Provinz ist tief , dennoch hat sie Tankstellen. Von weitem leuchtet es blau – endlich am Treffpunkt.
Und so haben wir uns getroffen und aufgemacht, mit frischem Cappucino + NußNougat geht es durch einsame Straßen an einsamen Bahnhöfen (Dillenburg) vorbei, die einen stilistischen Rest expressiver Werkbund-Ästhetik verbreiten.
Wir bewegen uns weiter in die unkontaminierte Zone hinauf, tief ins Grüne. Die Natur veranstaltet zur Zeit ein großes Experiment mit der Welt. Gesetzmäßig entwickelt sie neue Erreger-Varianten, die wir gratis verbreiten, um unsere Resistenz zu testen. Und also setzen wir uns der frischen Luft aus, erhöhen so unsere Resistenz und fahren bis ans Ende der Kräfte.
Östlich vom Westerwald am Gegenhang der Dill, zieht sich ein waldiges Bergland nach Nordosten, das schließlich wieder auf das Tal der Lahn trifft, deren Lauf die Hügelketten wie eine Klammer umfaßt. Man findet hier wesentlich älteres Lavagestein als in der Westerwälder Gegenseite, den sogenannten Diabas. 300 Millionen Jahre zählt die erkaltete Schlackenkruste, über die wir uns gegen aufkommenden Ostwind vorarbeiten.
Immer wieder passieren wir vom Borkenkäfer dezimierte Fichtenbestände. Die Kulturen werden wegen ihres schnellen Wachstums bevorzugt – jetzt sind sie ein wirtschaftlicher Totalschaden; um die Verbreitung des auf Nadelholz spezialisierten Käfers zu beenden, muss das Holz verbrannt werden. Hirzenhain stand auf einem Schild. Die Jacken behalten wir an. Weiter nach Norden.
Das Gladenbacher Bergland ist windig, sogar bergab fahren wir Unterlenker. Dann wird die Lahn überquert, im Tal hinter Breidenstein grüße ich eine große Blutbuche, eine Wegmarke nach Biedenkopf. Der Höhenzug zwischen Lahn und Eder ist ein wilder Wald. Wir wählen einen einsamen Anstieg, den ich vom Mittelhessen Brevet 2017 noch gut erinnere. Dort erwartet uns ein seltener Gast.
Wegen der niedrigen Temperatur, es dürften hier allenfalls 10 Grad sein, bewegt sich das kleine Tier nur in Zeitlupe davon, nachdem wir es genau in Augenschein genommen hatten. Es fällt besonders der Glanz und das intensive Gelb seiner Haut auf. Mit seinem Tempo wird er den Bach weiter unten erst in Stunden erreicht haben. Ein Glücksfall, Salamander kannte ich nur aus Büchern – er ist kaum länger als eine Kinderhand.
Die Täler werden immer enger, wirken abgeschieden und verschlossen. Tief atmen wir die Terpene ein, die aus dem gefällten Holz am Straßenrand strömen – es könnte ein Heilmittel sein. Der Wald ist ein großer Inhalator.
Im Edertal dann gibt es alte Industrie, ein gemauerter Schornstein ist immer ein sicheres Zeichen. Ohne es zu ahnen sind wir näher an der Pandemie, als wir denken. In dieser Papiermühle – in Betrieb seit 1800 – werden heute Filtervliese für Atemmasken hergestellt. „Nie waren sie so wertvoll wie heute-“ ab Montag ist Maskenpflicht.
Wenig später geht es aus dem Edertal hinaus, zurück in die Wälder. Mein kleinstes Kettenblatt hat zu tun, vor mir rollt es mit dem 32er Ritzel den Forstweg hinauf. Der Schotter ist fein, beinahe gemahlen, die Forstfahrzeuge, die die gestapelten Stämme transportieren hinterlassen keine Abdrücke, unsere Reifen haben nicht die geringste Mühe. Diabas ist möglicherweise hochwertiger als Basalt.
Ein Land, in dem Grimms Märchen auf der Stelle lebendig werden könnten.
Auf der Höhe wächst wilder Ginster, das Panorama zeigt eine Abfolge rundlicher Kuppen, eine vulkanische Topographie in jede Himmelsrichtung.
Rothaargebirge – das klingt allzusehr nach Rentnern in Bussen oder dem ersten Urlaub nach dem Krieg. Ein Erholungsmuster von Industrie 1.0, als es darum ging, aus den Feueröfen oder Gruben schnell zu Ruhe und Einsamkeit zu finden. Menschen waren müde, Menschen waren erschöpft.
Nur eine Illusion anzunehmen, diese Qualitäten würden plötzlich wieder nachgefragt. Die Pandemie ist allenfalls eine Pause, eine Fastenzeit für den Unterhaltungstourismus. (Ich wünschte schon es wäre anders, kann aber keine Anzeichen erkennen).
In Bad Laasphe haben wir die Lahn wieder erreicht, sind rund 100km unterwegs. Wir nutzen eine weitere blaue Tankstelle für die Mittagsrast. Es sind die Oasen der Pandemie, sie spenden Energie, Getränke und feste Nahrung.
Am Rad stimmt alles, Sitzposition, Sattel und Übersetzungen erlauben die gewünschte Spannweite an Strecken. Die Stabilität ist sehr gut, der Rahmen gleitet schön über stellenweise geflickte Kreisstraßen, aber auch enge Kurven in wilden Abfahrten bringen ihn nicht aus der Ruhe. Test2 bestanden. Einen letzter Test mit leichtem Randonneurgepäck wird eine andere Tour erfordern. Immer faszinierend, wie vielseitig ein Rad ist, es öffnet die Welt.
Wir verausgaben uns – die Räder aber machen es uns leicht: eine Symbiose.
Immer noch Bad Laasphe: Sehr verhaltenes Publikum an diesem Sonntag, es ist ja auch nicht mehr so schmetternd hell und warm. Der Mann mit der Einkaufstasche bewegt sich auf die Stadt zu, hoch darüber erkennt er ein großes gelbes Gebäude, Schloß Wittgenstein, Internat seit 1954.
Weiter unten in der Stadt wird ihm vielleicht dies hier auffallen: ein seit einiger Zeit leerstehende Gebäude. Es ist Ebenfalls ein Schulgebäude, ganz wie das Internat, doch keine 50 Jahre alt. Darauf zu lesen ist, was nun daraus werden soll: Seniorenheime.
Demographie und Pandemie.Vergeßt es einfach.
Der Spaß, den wir haben, immer neue einsame Steigungen und wilde Abfahrten zu meistern ist ungebrochen. Jedem steht er frei, absolut frei….
Stunde um Stunde rollen wir so, kämpfen weiter gegen Wind und Anstiege. Kleine Korrekturen am Schutzblech, eine Abfahrt hier oder dort übersehen. Die Sonne leuchtet fast abendlich, als wir uns trennen und gute Fahrt wünschen.
Eine salamandergelb gebänderte Tankstelle nimmt mich auf, leicht verblichen. Der Waschanlage entströmt ein leicht süßlicher Geruch, der auf die Tropifruttis in meiner Hand abgestimmt ist. Mit einer Büchse Malzbrause, die ich in einem Zug leere, spüle ich die Gummigelee hinunter. Der Zucker schießt ins Blut und prickelt überall.
Ich werde fahren, bis die Sonne verschwindet. 12 Stunden auf dem Marschall.
Erfreuliche Nachricht, dass alles passt am Marschall. Dass Randonneurgepäck dem Rahmen nur ein müdes Lächeln abringt, davon bin ich überzeugt.
„Der Schnupfen“ ist ein großartiges Werk. Eines der wenigen Bücher, die ich in jüngeren Jahren zig-Mal gelesen habe.
Ebenso „Die Untersuchung“. Wenn ich mich recht erinnere, könnten die Anmerkungen zur Statistik darin für die momentan in dieser Disziplin eher unbeholfen erscheinenden Institute ganz hilfreich sein.
Institute tun was sie sollen. Wir leben in einer neuen Epoche der Partialinformation. Es werden auch in der Informationsgesellschaft gerne Suchkosten gemieden. Was nutzt einem schon besseres Wissen – lasst sie mehr Fertigpizza kaufen
oh wie herrlich! Herrlich zu lesen über Rothaargebirge, Eder , Biedenkopf, alte Heimat. Und dann der Salamander. Nie ist mir einer zu Gesicht gekommen. Und so schön ist der! Mach weiter so, schreib weiter so! Bitte!
ich werde mir alle Mühe geben und danke zurück für die Berichte aus eher ariden Steppen des Nordens.
Rothaargebirge – das gehört zu den Gegenden, die ich nur aus dem Diercke-Atlas kenne. Immerhin tröstlich zu erfahren, dasss es auch dort Aral-Tankstellen gibt. Gerade jetzt, wo aufgrund der Corona-Krise manch andere Einkehr ihre Rolläden unten lässt, ist die Tanke vielerorts ein Überlebensgarant für Fernradfahrer.
Man kann nicht von Eis und Cappuccino allein leben. Den Pächtern der Tankstellen gehts zur Zeit gut – am sinkenden Ölpreis verdienen sie übrigens nicht.
Gerade erst Deinen Bericht über unsere Runde gelesen. Schön zu lesen, tolle Bilder!
Ich weiß, wem ich diese große Runde zu verdanken habe –