Der grüne Rhein und Dinos Cappuccino

Wo andere die Lockerung(en) nutzen, um aus dem Dickicht der Städte zu fliehen, wird das strahlende Wetter mir helfen, die Schauplätze unseres Bruttosozialprodukts besser auszuleuchten. Aus der Alltagsidylle in den Sonntag der Gewerbegebiete. Zwei Tage Kilometer machen, zwei Tage dem Rhein folgen.

a02Mit dem Merckx von den grünen Hügeln hinunter an den großen Strom. Einmal stromabwärts bis zu Dinos Cappuccino in Meerbusch, dann wieder zurück

Neuwied, Bonn, Köln, Neuss, das ist eine Linie von Nord nach Süd, von den Weinbergen zu den Crackern, vom kühlen Weißwein zu den Distillen des Erdöls. Das Rad schafft einen Erfahrungsvorteil: die schärfere, dichtere Wahrnehmung von Zeit und Raum. Man spürt, wie sich die Temperatur der Straße verändert, man riecht alles, ob man will oder nicht, hört den Klang der Natur und gleichzeitig den der Maschinen. Alles strömt zu, während die Kurbel kreist und das Kreislaufsystem sich auf Puls 120 einrichtet.

a03Ich nehme mein Merckx um die Wirklichkeit zu erkennen, die Substanz unter der Elektronenwolke aus Propaganda, die omnimedial über uns liegt und wabert.

Ich verlasse einen Garten, in dem die Rosen gerade zu blühen beginnen, ziehe an den Wiesen vorbei, die Sanft nach Heu duften.  Hinunter in den Maschinenraum; Stahl, Öl, Chemie, – Energie!

a01Das Schild der Inveloveritas am Rahmen bringt mit den ersten Metern Erinnerungen an die Fahrt von Berlin nach Wien zurück. Schon die Grundposition auf dem Rad, die gestreckte Haltung. Das zentriert – . Dein Rad als Pädagoge.

Die ersten Hügel liegen hinter mir, Robinien duften am Weg. Sehe ich eine Viehherde grasen, ziehe ich die Kappe tiefer: gleich prasseln die Insekten auf mich ein. Die Natur hat ihre Gesetze.

a0640km, definitiv warmgefahren; ein schneller Stop für einen kleinen Schuß Koffein mit Zucker. Schon ahne ich den Rhein, der sich hinter Wällen von Holunder und Heckenrosen versteckt.

Ein erster Hinweis

Hinter Neuwied entfalten sich die Anlagen der ThyssenKrupp Rasselstein auf der Gegenseite, ein Walzwerk für Feinbleche, das unmehr größte der Welt. Vor hundert Jahren lieh man der Reichsregierung Geld, heute steht es zur Disposition. Andernach und sein alter Dom machen sich klein aus neben dem Gelände. Sie werden es überleben.

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Jetzt, wo das Tal wieder enger wird kommen Weinberge. Winzerdörfer reihen sich aneinander-  später Linz, Remagen, Unkel, Bonn. Es ist ein gutes, schnelles Gleiten an so einem Morgen – die besten Stunden des Tages.

a09Ein altes Straßenschild mit echten Kilometerangaben. Warum die überall verschwunden sind? Eine EU Norm vielleicht?  Der Strom der Radtouristen wird dichter, manchmal schlägt die Strecke einen Haken fort vom Rhein und ich sehe den lahmen Kahn wieder, den ich eben noch locker überholt habe.

Aus Winzerdörfern werden kleine Städte. Villen und Parks am Weg als Vorzeichen. Die Reste wilhelminischer Pracht überstehen die Zeit. Das Erbe der Fabrikanten, Generaldirektoren und der Ära Adenauer.

a10Schon kommt Bonn. Sauber und gepflegt ist hier die Radstrecke, die sich Joseph Schumpeter Weg nennt, weil irgendwo hier im Grünen der Wirtschafts-Campus liegt. Der Satz von der schöpferischen Zerstörung  – im Grunde ein Nihilist.

Riesige Platanen säumen das Ufer. Wünsche ihnen ein langes Leben. Familien beim workout – Bonn ist Residenzstadt, Bonn hat seit jeher Promenaden, das macht es Radfahrern leicht, sie bekommen wunderbar glatten Asphalt unter Bäumen.

c12Ein Sprungturm wartet auf seine Eröffnung. Liegewiesen werden erprobt, der Sommer ist schon da, der Pool noch leer. Die Denkmäler kommunaler Größe warten .

a12Dann die Tiefebene zwischen Rhein und der Ville-Faltung im Westen, das Reich der Plantagenbauern. Es wird ein großes Jahr für die Erdbeere. Schlag zwölf in Uedorf,  bald kommt Köln, die alte B9 erlaubt Tempo. Sie ist wenig befahren, gut geteert, flach und gerade.

Das heimlich lodernde Feuer der B9

Und sie führt mitten durch ein Universum der Petrochemie. Riesige Anlagen, die schon vor dem Krieg Destillierung und Raffinierung von Erdöl betrieben. Ein Geflecht von Rohren, Leitungen und Edelmetallschornsteinen. Werktore nummeriert, Parkhäuser aus Waschbeton dazu .

b25Mit dem Rad erlebt man die Dimension solcher Anlagen stärker, ihre Ausdehnung und  Präsenz. Die schiere Größe. Nicht daß man es schön finden solle, es darf einmal einen Platz bekommen, dieses schwarze Loch der Klimadebatten, der stille Teilhaber in Debatten der Energie- oder Verkehrswende. Im Geflecht von  Vorschlägen „zur Ankurbelung der Wirtschaft“.

Kraftwerk : schon sie nutzen die Ambivalenz großer Energieproduktion.

b21Hier ist zu sehen, was der Fall ist. Die Realität, die wir täglich in Rechnung stellen, unser unsichtbar loderndes Herdfeuer. Die Anlagen sind alle gewartet, gesteuert und sicher. Daneben blühen die Linden voll, Straßen mit grünen summenden Kuppeln. Hier und da Geißblattspitzen und dann fast narkotisch der Duft der Ölweide.

Ölweide in Brückensenke vor Raffinerie.

a11Allseits kommen Radfahrer mir aus der nahen Stadt entgegen. Unterwegs ins Grüne oder ans Wasser. Wandervögel der Lockerung.

Köln: eine Parenthese

Köln beginnt im Süden sehr gepflegt. Die Vororte Hahnwald und Rodenkirchen, der Hahnwald als Äquivalent zum Münchner Grünwald : ein Luxusprojekt des Nachkriegs, ein jäher Aufstieg, unvermittelt nach den Raffinerien und Gewerbehallen von Godorf.

Jenseits des Verteilerkreises –  die südliche Landmarke der Stadt –  beginnt der Stadtteil Marienburg.  Wer Berlin Dahlem und den Grunewald kennt, wird die frappierende Ähnlichkeit feststellen. Und beide Viertel vom Kriege recht verschont. Nur daß der Grunewald fast 50 Jahre seinen Dornröschenschlaf pflegte.

b23In gerader Linie den Rhein hinauf, die Hafenanlagen zu Promenade und Esplanade umgestaltet. Eine Brücke, zwei Brücken, Dom, HBf.

b24Nördlich des Bahnhofs die Verdichtung der Stadt. Hier entstand vor über 1958 ein völlig neuartiges Porträt Kölns im Nachkrieg.  An den Antipoden der Marienburg.

Chargesheimer war der Photograph, mit Böll als Texter gelingt die historisch einmalige Synthese – wie schon beim Titel „Im Ruhrgebiet“.  Aber von der damaligen Atmosphäre – dem Leben auf der Straße – ist heute nichts zu spüren. Es sind fast leblose Mauern. Wie ein Sperrgebiet begrenzt sie die Verkehrsführung rund um den Ebertplatz.

a15Plötzlich, Neusser Straße, das pralle Leben. Cafes, Menschen, Geschäfte ohne Franchisenamen. Als würde hier eine neue Stadt beginnen, unter dem Titel: „Leben in einer Stadt“.

a16Nach dem stattlichen Doppel/Espresso/Eis gleite ich flanierend hindurch, die Alleebäume decken alles in eine sanfte Farbe, ich muß nur noch weiter nach Norden.

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Eine Bahnlinie beendet die Klammer – die Stadt läuft nach letzten Tankstellen in grüne Alleen aus, zuerst werden die Gebäude billiger, dann gerwerblicher, dann ländlich. Das Haus an der Chaussee – Die Neusser Straße führt nach Neuss, Straßennamen die noch lange bestehen.

Die zweite Strophe der B9

b4Der Asphalt der Bundesstraße ist solide, kaum vom Verkehr ausgewalzt,der Untergrund muß gut sein. Der weiße Streifen läßt mir sogar Spielraum nach rechts. So reicht es mir und meiner 44cm breiten Silhouette. Eine gute Straße sieht nach Jahren noch so aus wie hier die B9, die die gesamte chemischen Industrie durchmißt. Fast spiegelbildlich zum Süden der Norden Kölns. Der Fluß rechts, Anlagen links, die Schornsteine, Rohre, Einfahrten, Drehgitter, Parkdecks

b3Ab und zu ein Warenlager.

Überall ist es grün, gepflegt geht es kilometerlang an Maschendrahtzaun entlang, Verladekräne gegenüber, industrielle Aktivität bis an den Horizont. Und noch viele Kilometer stromabwärts. Bunte Punkte auf Fahrrädern, die ein lustiges, unsichtbares Band in der Landschaft bilden.

b2Millionen sind auf dem Asphalt gerollt, den meine 25mm Reifen jetzt berühren. Gegenüber erkennt man noch alten Untergrund, das Pflaster. Nur ein paar Ampeln unterbrechen den Rhythmus und ein allerletzter Tankstopp für Wasser, 1Banane, Laugenback. Der Moment, an dem man noch einmal das Tempo anziehen kann. Das Merckx läuft absolut ruhig, ganz leise höre ich die Kette, ganz gerade läuft sie über das große Blatt. Gleich bin ich in Neuss.

b7 Lohnt es sich, in Neuss Zeit zu verlieren? Eine verkehrsberuhigte Innenstadt voller Menschen, die maskiert den Monatsanfang feiern. Einkaufen jetzt, Corona war gestern, wie es scheint.

Die Straßenbahnschienen sind eine ungewohnte Herausforderung, die an den Nerven zerrt. Zum Ziel sind es nur wenige Kilometer, ein Stadtring, eine Ausfallstraße und schon sieht man Meerbusch downtown – den kantigen Eckturm aus Klinkern, der das kleine Einkaufszentrum abschließt. GLEICH DAHINTER mein Ziel nach 160km:

c91der Sportsfreund und sein Cappuccino.

b10Aber auf Dinos kleiner Terrasse unter der blühenden Linde ist er nicht zu finden . Nur andere Sportsfreunde . Im Partnerlook, mit italienischer Mimik und Neo-Retro Trikots.es war ein zu schöner Tag , aber er . . . .

b8Er sollte nicht kommen. Die Straßenbahnschienen hatten ihn erwischt.. .

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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5 Antworten zu Der grüne Rhein und Dinos Cappuccino

  1. Hölkerather schreibt:

    Ah, Chargesheimer! Habe Romanik am Rhein – absolut sehenswerter Bildband in s/w, und keines der Fotos würde so einen Hobbyfotowettbewerb bestehen, weil überstrahlte Lichter, absaufende Tiefen… Aber: „Nature contents the elements in colour and form of all pictures, as the keyboard contains the notes of all music. But the artist is born to pick and choose.“ James Mc Neill Whistler. Das hat Chargesheimer gemacht! Guter Hinweis, sich mit solchen Werken doch wieder einmal auseinanderzusetzen. Mal sehen, ob der Ruhrgebietsbildband antiq. zu bekommen ist ;-).

  2. crispsanders schreibt:

    Bekommen kann man fast alles, ganz billig wird es nicht sein, also dreistellig. Krahnenbäumen ist 1998 neu aufgelegt worden, das ist sicher die leichteste Variante. An Chargesheimer ist noch interessant, daß er Bilder als Elemente eines Buchs machte, nicht als Vorstufe von (musealen) Werken.
    Das schenkt uns einen sehr direkten Zugriff auf eine Realität, die mehr als ein Jahrhundert entfernt scheint – vielleicht auch, weil er sich souverän über die seinerzeit gültigen formalen Kriterien für „das gute Bild“ hinwegsetzt.

  3. Hölkerather schreibt:

    Nein billig ist es nicht, Schon geschaut.

    Im Regal steht bei mir als direkter Vergleich Claasens „Kirmes UKB“. „Unter Krahnenbäumen“. war für beide ein Thema. Chargesheimer wirkt auf mich, mal platt ausgedrückt, „künstlerischer“. Interessant ist auch ein Vergleich mit A. Renger-Patsch als Vertreter der „Neuen Sachlichtkeit“, eigentlich ja auch ein Zeitgenosse Chargesheimers. Renger-Patsch ist in Buchform teils günstig zu bekommen, da er auch für die Reihe „Die Blauen Bücher“ gearbeitet hat (jedenfalls. der Band zu Wasserburgen), die doch recht verbreitet waren.

  4. Hölkerather schreibt:

    Au weh, lese gerade den mutmaßlichen Gegenbericht zu Deinem Bericht: Gute Besserung dem Unfallopfer! (schreibe das mal neutral, da ich nicht weiß, ob meine Vermutung richtig liegt und ob ich das hier verknüpfen darf)

  5. crispsanders schreibt:

    Der Betroffene mag sich äußern – – aber am Gerücht ist schon was dran.

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