Der späte Lohn der Geduld – Hessen 330

ab5Es beginnt mit dem Zweifel. Hundert Täler habe ich hinter mir, seit 12 Stunden sitze ich im Sattel. Ich suche einen Ort Namens Weilmünster – irgendwo hinter einer dieser grünen Horizontlinien muß er liegen. Das  kleine Display des Navigationsgeräts ist keine Hilfe: lese ich Weilmünster, sind alle Straßen verschwunden und die Namen der kleineren Dörfer auch – nur noch grüne Flecken.Die Spur meines improvisierten 300er brevets habe ich hinter Gießen verlassen, jetzt ad lib.

Wieder in einem sonnigen Tal, wieder eines der Dörfer von dem ich gerne glauben möchte, es zu kennen. Die gelben Wegweiser unserer Straßen haben schon lange aufgegeben, Kilometerangaben zu machen, oft wird nicht einmal der nächste Ort angezeigt. Das schöne französiche System einer Straßenennomenklatur hat in diesem Vielfürstenstaat nie funktioniert, also verzichten wir gleich darauf – wir haben Navigationsinstrumente.

ab3hier in Brandoberndorf liegen 50km noch vor mir, soviel ist sicher. Den Track des 300km+ Brevets rund um die Mittelgebirge habe ich längst verlassen, in irgendeinem Unterverzeichnis der kleinen Kiste auf meinem Lenker ist er verloren. Ich fahre auf Sicht, nach Sonnenstand, nach innerem Kompaß. Ich weiß nicht wo Weilmünster ist, sicher ist nur daß Wetzlar (13km) die falsche Richtung ist. Wetzlar ginge auch, wäre die leichte Variante ohne weitere Anstiege, 4000 Höhenmeter sind manchmal genug. Aber Wetzlar heißt aufgeben. Das Ortsschild sagt: Brandoberndorf, Taunus.

ab1Ich stehe an der Gabelung, ein schwerer Traktor zieht vorbei und ich höre seine Gangwechsel auf dem Weg hinauf. Die rote Linie auf dem kleinen Display zeigt, daß oben eine Bundesstraße liegt. Eine Bundesstraße die ich sicher kenne. Nochmal hinauf?  Drei kilometer Anstieg, über 200 Höhenmeter. Ich machs.

ab4Zwei Serpentinen und es kommt das freie Feld, die Wiesen und der gelbe Weizen, durch die der kühle Nordost streicht. Dazwischen der Hof  – der Traktor ist eingekehrt, das Abendbrot für den Traktoristen wartet schon. Der Schweiß tropft von der Kappe, der kühle Wind streicht über das lange Trikot, im freien Feld unter der Abendsonne ist der Anstieg wieder milder, fast ein Genuß. Dann in den Wald, das kleine rote Rücklicht  meines Rades brennt schon, der Weg wird wieder steiler und heimtückisch – eine Gerade die sich unsichtbar durch die Bäume schlängelt, verrät ihre Steigung nicht . Aber es ist nicht die erste und nicht die zehnte Steigung heute, vielleicht ist es die 49te und hier werde ich ganz bestimmt nicht absteigen. Guter 2ter Gang, und der Zweite ist der wichtigste, er sagt dem Kopf: es geht auch leichter.

Es sind nur 3 Kilometer von 330, sie sind der Schlüssel zum Ganzen. Schon höre ich die große Straße rauschen – ein letzter Aufschwung – rechts Weilburg, links Usingen. Die hohe Straße über den Taunus. Damit ist alles klar. Ich war zu weit nach Süden geraten, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Weilburg = 18.

ab8Plötzlich läuft es. Das Bauchdrücken der letzten 10 Stunden schwindet, der Tritt wird endlich leichter. Auf dem großen Blatt kurbelnd sitze ich schön weit hinten auf meinem Ghirardi Sattel und staune, währende die Kilometer abspulen. Staune, wie ein Tag erst mit dem Abend seinen Schlüssel aushändigt.

ab6Die Erntemaschinen ruhen, während der (modifizierte) Brevet in sein glückliches Finale geht. Das Edi Strobl ist alles, nur kein Brevetrad  mit seiner klassischen Renngeometrie, seiner Überhöhung und den schmalen 23mm Reifen. Aber das Rad war nie ein Problem, es paßt, sitzt und reagiert genau. Der Körper ist das Problem und er hat es gelöst, der Körper fügt sich dem Willen, man muß ihm nur Zeit lassen.

Der große Einklang mit der Maschine gelingt, die Anstrengung wandelt ihr Gesicht. Es ist nicht die Ekstase der Übermüdung, auf die der Zusammenbruch folgt. Es ist die gute Seite des Sports, die glückliche Stunde, wenn der Tritt rund ist, der Körper sich dem Ziel unterordnet. Eine Stunde, die alles auslöscht, was zuvor Zweifel und Mühsal war.

ab7Manchmal muß man es sich schwer machen, um es leicht zu haben. Wer sich auf ein Rad setzt, darf dieses Gesetz nie vergessen.

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