Böhmische Ballade

 

Prag nach Hollabrunn, August 2020 – Reiseveranstalter: ESK, Tino, Eddy Merckx Cycles

ap01Von Prag nach Wien. 30 jahre später stehe ich wieder vor dem großen Bahnhof, durch dessen Scheiben Licht auf den Parkplatz fällt. Damals, um eine private Pension zu finden: ein kleines Büro im Bahnhof, ein hornbebrillter alter Mann und eine Kladde mit Bleistifteinträgen.  Das genügte.

Jetzt ist es 5 und die nautische Dämmerung hat begonnen.

apa2 . .  . mit Rad und Begleiter. Team Stuttgart macht sich gleich auf Richtung Hollabrunn. Der Flixbus zeiht weiter nach Wien und die Fahrer fragen uns  erstaunt, warum wir schon aussteigen – sie zeigen auf die Tickets: „Vienna ! Vienna!“ Nein, hier ist Prag , und es ist schön. Fahrt weiter mit eurer großen grünen Quetschkommode. .  .

ap2Die große Stadt schläft noch und ein rosiges Licht bringt die Mauersteine zum Leuchten. Wir müßten hinauf, aber wir zunächst fahren wir hinab, in die alte Stadt, die sonst den Massen gehört. Die Stadt schläft, alles ist geschlossen, nur die Notbeleuchtungen sind in den Lokalen an.

ap3Das Morgengedeck in dem Café Paris ist schon gerichtet, in einem dieser Häuser, die hier das mittelalterliche und habsburgische Prag mit einem Schuß Art Deco würzen.

Schönheit ringsum und Leere. Nur gibt es hier keine Bäcker mehr, deren Teig wir riechen könnten.

IMG_1218Nur ein paar wenige Frühaufsteher oder Durchzecher. Die verschiedenen kleinen Geschäfte sind von Passagen abgelöst worden, deren Franchiseadressen genauso lauten wie im Rest der Welt. Vielleicht soll sich niemand fremd fühlen –  es nimmt der Stadt nichts von der Magie, die uns still umgibt wie ein edler alter Anzug, der die Modemarken hat kommen und gehen sehen .

ap5Zurück und hinauf über den Wenzelsplatz,  dann rechts auf die Magistrale, die über einen hohen Viadukt aus der Kernstadt hinausführt, letzter Blick auf Palastsilhouetten und Kirchen.

ap6Dann streichen die Sonnenstrahlen vom Horizont über die  höher liegenden, immer jünger werdenden Gebäude. Das Staatsfernsehen, die Polikliniken und Universitäten. Die Versuche der Moderne.

ap8Und Plattenbauten Typ G40 haben oben links auch Namen. Unter Zubringern hindurch, kleine StadtwaldPfade hinauf parallel zu den großen Adern, die Prag versorgen. Eine Sirene von weitem, eine Tankstelle, eine kleine sozialistische Musterstadt und dann kommt das Land. Vorher eine Tankstelle: erster Café, ich wähle das Modell Americano und gehe schnell zum doppelten Espresso über . . .

ap9Nach neuen Golf Resorts im erweiterten Speckgürtel sind wir schnell draußen auf dem Land, spüren am Asphalt, am Verkehr, an den Bewegungen der Menschen auf  dem Weg in die Läden, wie die Uhren wieder langsamer ticken. Die Böhmische Ballade nimmt ihren Lauf.

IMG_1234Endlich : entrollt sich allmählich das Land, und wir haben zu arbeiten an immer neuen kleinen Anstiegen. Im Wellenprofil geht es ganz sachte hinauf, jeder Anstieg bringt uns höher als der vorige.  Zwei Stunden sind vergangen und ein letzter Blick zurück Richtung Hauptstadt  – sie ist verschwunden. Im Unterschied zu Sysyphus sind wir also doch vorwärts gekommen.

ap03Kurs SO halten, die Wiesen sind so grün und ein Dorf, mal mit Schornstein, mal mit Burgzinne, wird auf das nächste folgen.  Komoot, so nennt sich das Routenprogramm –  leitet uns an den Städtchen vorüber, auf gewundene, kleine Nebenstrecken.

Die Sonne wärmt, aber sie brennt nicht, denn der Wind kühlt mit leichter seitlicher Brise. Fast überall steht noch der Weizen- es sollten seine letzten Tage sein. Wir kreuzen erst eine Domäne, dann ein Schloß.

ap91Jemniste, Barock mit französischem Garten. Breit und einladend öffnet sich die gelb leuchtende Fassade zwischen flankierenden Torhäusern. Wir ziehen längs am hübschen Gewächshaus vorbei (Südfrüchte für den Winter) und machen geduldig Kilometer um Kilometer, sichten Alleebäume und ferne Kuppen, mit dunklen zackigen Linien von Nadelholz. Wir pendeln zwischen 400 und 600 Metern über Null, es wird angenehm frisch; überall Felder und späte Blumen am Wegrand. Die Äpfel sind noch nicht reif.

ap93Unsere Weggefährten sind ältere und neuere Traktoren, kaum Automobile, noch weniger Menschen.  Es ist die Tiefe des Landes, es sind böhmische Dörfer. Man spürt auf einmal, wieviel Platz Werbeflächen in unseren Landschaften beanspruchen – hier fehlen sie.  Wir sehen Wolken, aber keine dunklen. Wir hoffen hinunter durchzutauchen, bevor sie sich zum algorhythmisch angekündigten Gewitter ballen. Höhenzüge liegen hinter uns, die Vorräte schrumpfen. 1,5 liter Wasser halten keine Ewigkeit.

Immer noch Wälder, kleine Steinbrüche und das kleine graue Band unter dem Reifen.

IMG_1242 Zhor (Schorsch)

heißt das kleine verborgene Dorf mit der Wasserpumpe. Nach heftigem Pumpen am Schwengel kommt das Wasser aus dem Berg. Flasche gefüllt, Mittagszeit :weiter gehts mit der Suche nach Kalorien. Leute stehen hier und da vor ihren Häusern – mit kleinen Behältern. Ich grüße und die Blicke sind eigenartig verlegen. Wenig später kommt ein kleiner Kombi von der Caritas uns entgegen: es sind alte Leute, die auf ihr Essen warten oder für Angehörige anstehen. Die nächste Stadt ist über 10 Kilometer entfernt,  es gibt keine Läden. Kurz nach einem großen Stallgebäude („2000 Milchkühe“ sagt der Experte an meiner Seite), kurz nach einer holprigen Abfahrt durch eine schöne Allee die Panne des Tages. Hinterrad.

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Mein Schlauch ist schnell getauscht, die Mittagssonne heiter, die goldene Lezyne Pumpe ein kleines Meisterstück. Unter einer Art Thermometerskala sehe ich, wie der Druck allmählich knapp unter  7 steigt – das schaffen nicht alle kleinen Pumpen. Gleich kommt die Stadt und das ersehnte Mittagessen.

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13 Uhr.  Essen und trinken – irgendwann ist die Musette leer. Man muß entscheiden, und wir können nicht immer auf die Dorfpumpe bauen. Pacov (Patzau) heißt diese Stadt, deren weißer Kirchturm weithin das Zentrum mit dem schönen Markt überragt. Dort ein Restaurant, die Leute sitzen davor unter Bäumen, bestellen ihr essen.

Die lokalen Rivalen vom Schnellessen (grelle Preisschilder aus dem Billigdrucker) lassen wir links liegen, lieber hier die altmodischen Kronenscheine mit ihren aufwendigen Gravuren verkleinern. Wo kein M-cD ist, werden Länder kulinarisch interessant. Gutes und ordentliches Hamburger Menu, der Pizzaofen ist stattlich, der Laden voll. Wir  nehmen den einzigen Tisch, der frei ist.

ati5Wer noch einmal ein richtig herbes Pils trinken will, sollte Budweiser in Tschechien probieren. Stolz lehnen unsere Teamräder an den kleinen Bäumen die den Platz säumen, während Fleisch gegrillt und Kartofeln geröstet werden. Nach einer guten halben Stunde verläßt Team Stuttgart wieder die kleine, friedliche Stadt von  gerade 5000 Einwohnern.

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Patzau markiert ungefähr die Hälfte der Distanz, aber nicht in Höhenmetern. Alleen und Anstiege, mein Stolz weigert sich, auf die 28 Zähne zu gehen. Hinter jeder Kuppe ein neues Tal und dann wieder gerade hinauf, dieses Land ist voller Bäche. Ein ewig langes Intervalltraining, viel anstrengender als der lange Paß, an dem man sich auf dem richtigen Ritzel schön einrichtet. (und am Ende 15 Min abrollt). 

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Nicht, daß wir es nicht genießen – diese sehr spezielle Schwierigkeit sollte nur erwähnt werden, genau wie die kleine Bahnline, die sich um uns schlängelt. Hallo, da bist Du wieder, kleiner, holpriger Bahnübergang.

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Aber dann ist der Rhythmus gefunden, die Essenz der langen Strecke, der Rhythmus, der Kilometer spurlos vorüberzeihen lässt.  Es wird schwüler und schon macht es ein schöner dichter Tannenwald angenehm. Die Wolken drängeln sich langsam vor und quellen auf, sie wollen die Prognosen unserer Apps erfüllen. So wälzen sie sich nordwärts, über uns hinweg oder an uns vorbei, dorthin, wo wir eigentlich in 10 Stunden (gewesen) wären. Doch das war der alte Plan, wir folgen einem besseren.

Bushaltestellen, davor Wartende. Nicht jeder besitzt ein Auto, andererseits wirken die kleinen Dörfer nirgends verlassen oder aufgegeben, wie in Brandenburg oder den Tiefen Frankreichs. Wir wissen zuwenig, aber Tino und ich sind uns sicher, daß Tschechen nie auf der Stufe des Trabants waren.

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Mohnfelder, Dörfer, Weizen. Der Mohn wächst fast mannshoch, seine Stengel sind blaßbläulich, die Frucht nur ein kleines Köpfchen gleicher Farbe. Diese „Kuchenpflanze“ kannte ich nur von ihren kleinen Körnern in der Eierschecke oder auf den Brötchen – ( Semmeln) geannnt. 

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Der Track weist zuverlässig durch eine völlige Fremde; diese kleinen Navigationsmaschinen verleihen traumhafte Sicherheit  – mitten im Unbekannten aber nicht verloren. Österreich naht, aber wo liegt es? Suche nach Straßenschildern -da: Iglau  25km , das ist nördlich; wir fahren weiter, irgendwann verrät ein anderes Schild an größerer Straße uns, wie weit noch die Grenze bei Znojmo ist. Eine gute Stunde also.

Die Nachmittagssonne sinkt, bis 20h (Dämmerung) bleibt noch genug Zeit im Hellen – mein  Frontlicht liegt irgendwo auf der Autobahn hinter Dresden. . . Dörfer, Städtchen, Menschen an Bushaltestellen im Nichts . Alle drei Stunden braucht der Körper Nachschub -wo findet sich der nächste?

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Wieder ein kleiner Ort mit coop Supermarkt. Wir bekommen alles, was wir brauchen.  – draußen der tschechische Freitagabend, erste Bierchen laufen über die Straße, leicht getunte Autos bollern davon. es gibt gute Äpfel und alles Notwendige – man hilft mir, Joghurt von Biuttermilch zu unterscheiden. Ein paar unschöne Kämme sind es noch, und nach Österreich hin wird es noch einen ganz langen, aber sanften Anstieg über die Nationalstraße geben,

ap05Die Autofahrer und Lasterfahrer haben es gut mit uns gemeint, dennoch sind wir froh, uns an der Kuppe von der großen Landstraße zu verabschieden. Wer mögen diese Pokornys gewesen sein? Über einen schmalen Weg fällt es sanft Richtung Österreich ab. Gleich sind wir da ~ (gleich = < 50km)

Doch halt! Vor der Grenze noch einmal einen Ort finden, an dem Kronen gegen Kalorien getauscht werden können. Die Dorfstraße liegt in einer schönen späten Sonne, die von dem hellen Putz der Häuser zurückleuchtet.

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Der Busfahrer feiert seine Schicht mit einem Hostan Bier, wir auch. Es herrscht eine schöne Ruhe, hin und wieder ein Traktor, viel mehr nicht. Wir haben fast Mühe, uns wieder aufzumachen.

aq8Langsam verlassen wir dieses sanfte Land, bei dem ich manchmal glauben möchte, es habe in der Geschichte einen Weg zwischen den „Systemen“ gefunden, ihm sei ein Übergang gelungen, der das Erbe der sozialistischen Ära nützlich in unser Jahrhundert gerettet hat, genauso wie es das Erbe deer Jahrhunderte zuvor weiter nutzt und pflegt, wie es sie goldenen Sterne an den Heiligenscheinen und die frisch leuchtenden alten Fassaden zeigen.

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Nördlich der Staatsgrenze beginnt dann ein  Landstreifen, auf dem Bäume rar werden und die Ernte bis zum Horizont im Gange ist. Es rollt sich gut jetzt, die Sache wird gelingen, auch wenn die Wolken weiter zunehmen, hier und da eine graue Wand steht, die Barriere baut sich im Norden auf.

Unvermittelt kommt es in Sichtweite:

aq2dieses Gebäude –  und mehr noch nachfolgende Schilder machen deutlich –

aq3wir sind im Land, dessen Raffinesse schon am Detail sichtbar wird, als Landesnamen die lateinische Form zu wählen – so rückt man im diplomatischen Alphabet an die erste Stelle.

Die letzten 2 Stunden: einmal noch aus dem Thal der Thaya hinauf ein letztes, ein allerletztes mal, dann liegt es vor uns, das Weinviertel, eine weite, wellige Fläche von Weinfeldern, nur durch kleine Waldstücke durchbrochen. Die Reifen haben gehalten, auch über Buckelpisten und Baustellenschotter zwischendurch. Alles hat gehalten und jetzt darf auch alles einmal naß werden. Eine späte, kurze Taufe.

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Wolken , die sich zusammenziehen, ein Schauer, der uns erwischt – zum Glück geht’s abwärts und der Wind hat gedreht, trägt die Wolken wieder fort, die bedrohlichen grauen Streifen liegen abseits der Strecke, die Sonne bricht wieder durch.

Wir entkommen und die große Staatsstraße trägt uns die letzten Kilometer Richtung Hollabrunn.

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20h Wir kommen an.  Die IVV wartet und wir haben eine ganzen Tag gewonnen –  zur sorgfältigen Vorbereitung auf epische 200km. 

 

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2 Antworten zu Böhmische Ballade

  1. tinotoni67 schreibt:

    Sonne im Herzen und im Rücken Schmerzen! Danke für die Zeilen!

  2. crispsanders schreibt:

    Bitte bitte lieber teammate. Alles Gute an den Nerv da hinten!

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