Das Schöne Simulakrum – erster Teil – InVeloVeritas 2020

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Was eine Simulation ist, wissen wir: wir haben einen Bildschirm, laden das Programm, greifen zum Controller und schön können wir fliegen. Wir können auch Autorennen fahren oder auf der Tour de France unterwegs sein und wenn wir es geschickt anstellen, überqueren wir die Linie auf Platz 1.
Natürlich wissen wir, daß wir nie auf Platz 1 landen werden und alles nur ein Spuk ist, genauso wie wir wissen, daß unser schöner Sessel nie die Erde verlassen hat. Aber die Simulation kann uns immerhin eine schöne kleine Illusion verschaffen, einen Wachtraum in dem kein Tropfen Schweiß geflossen ist, oder ein Absturz überlebt wurde. Das Problem der Simulation ist: es mangelt ihr an mehreren Dimensionen.


Aber um den schalen Beigeschmack der reinen Illusion und die ihr folgende Leere zu kompensieren, gibt es Wege. Man kann die Illusion in die Realität heben, sie nachleben. Es sind sehr alte Wege, auch wenn der Kulturphilosoph Baudrillard ihnen erst vor etwas 30 jahren einen Namen gab. Er nannte diese diversen Techniken zur Überhöhung unseres modernen Alltags Simulakren. Sie finden auf vielen Feldern statt, doch ihre Muster bleiben gleich. Was eine Simulation ist ist klar, ein Simulant ebenfalls ; Aber was sind Simulakren?


Das Simulakrum.

Ich habe lange gegrübelt und nachgeforscht , was eigentlich genau gemeint sei, doch als gelerntem Katholik hätte es mir früher einfallen können! Jede heilige Messe zelebriert ein fundamentales Simulakrum. Es ist so essentiell, daß sich darüber die christliche Religion aufgespalten hat. Gemeint ist die Wandlung  – samt heiliger Kommunion. Der Priester weiht die Hostie, hebt sie hinauf und nach einem Moment nennt er dies Stück trocken Brot den Leib Christi. Dieser wird sodann an die Gläubigen verteilt und verzehrt. Somit hat der Gläubige durch den physischen Verzehr seines Gottes auch die innere Vereinigung mit ihm vollzogen.

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Genau das ist ein Simulakrum: auch die Ungläubigsten werden nicht abstreiten, daß es etwas gegessen wird, sei es nun nur Brot, oder eben der Leib Christi. Jeder wird den zelebratorischen Aufwand, die Inszenierung, das Personal das Bauwerk etc. erkennen. Nichts ist daran simuliert – es findet wirklich etwas statt. Doch nur der Gläubige vollzieht das Simulakrum, der Nichtgläubige wird allenfalls Zuschauer, nie Teilnehmer. Den Rest wird er als ungeheuren Aufwand um ein kleines Stück Brot sehen Und möglicherweise einen gigantischen Schwindel, den er als Anlaß zu einem 30-Jährigen, sehr reellen Krieg nimmt . . .

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Das aber sind alte Fragen, wir Radfahrer haben es nicht mehr so schwer, unsere Glaubensdifferenzen können leicht bei einem Glas, einem Schoppen oder Humpen beigelegt werden.  

Baudrillard sah in unserer Zeit eine Epoche der Simulakren. Abseits der an Bedeutung verlierenden Kirchen (wir bewundern die Bauwerke, nicht aber den Sinn), haben sich in unseren Gesellschaften eine ganze reiher paganer Kulte entwickelt, die ihren Mitgliedern eine riesige Palette an Simulakren bereitstellen, weil sie ermöglichen Trapper, Expeditionsteilnehmer, Profifotografen oder eben Radrennfahrer alter Schule zu sein. Eine der schönsten Varianten des Radrenn-Simulakrums lohnt die Reise nach Österreich:

Die schöne Variante des Simulakrums – IVV

Und damit bin ich im Thema: die IVV ist die österreichische Spielart einer Reihe ähnlicher Veranstaltungen, die Simulakren alter Radrennen sind. Es gibt Trikots, Startgruppen, Startnummern und Stempelstellen, wie bei der Tour der France und dem Giro vor der Radioübertragung. Es gibt einen Start, einen Parcours und eine Ziellinie und Straßen ohne Teer . . . alles Elemente eines Rennens.

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Anders aber als weiland, als man um einen Schinken oder einen Kühlschrak fuhr, herrscht bei den Teilnehmern keine Not und sie werden reich versorgt für ihr Nenngeld. Es gibt auch keine Siegerehrung, jeder ist ein Sieger, der sich und die Strecke besiegt hat – eine durchaus reelle Erfahrung, die auch Tage später zu spüren ist. Und darum hat die nervöse Erwartung auch nichts von einer Simulation.

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Die IVV, zu der nun wir als „Team Stuttgart“ angereist sind (ein Team, das es tatsächlich gab und deren Räder unseren weitgehend glichen) blickt auf ein Jahrzehnt Tradition zurück und für seine Rekordteilnahme erhält Mannschaftskamerad  Tino an seinem Rad an diesem denkwürdigen Tag die Nummer 1 in schwarz .


Es ist zwar kein Rennen, wie gesagt, aber die Nummer1 in schwarz bedeutet, der Teilnehmer wird die längste Strecke von 205 Kilometern zurücklegen. Damit schon einmal klar ist, auf welcher Stufe des Simulakrums sich Team Stuttgart bewegt.

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Von der Länge ist es dann nicht mehr ganz soweit zu einem sportlichen Wettbewerb. Es verlangt Vorbereitung, das Material muß stimmen, die Hose schon richtig sitzen, oder wie Jan U einst sagte: man fährt das nicht mal so eben aus der kalten Hose. Meine Merckx- Hose mit gefettetem Ledereinsatz saugt sich perfekt an die wichtigen Körperteile. Für viele ist diese alte, durchaus übliche Renndistanz schon extrem zu nennen. . .

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Das Rahmenprogramm und die üppig gepriesenen kulinarischen Stopps sollten darüber nicht hinwegtäuschen; bis zur höchsten Heiligkeit ist es halt ein langer, steiniger Weg – auch wenn niemand den Märtyrertod sterben muß.

Und ob es nicht doch auch etwas von einem Rennen hat, das zeigt sich definitiv auf der Strecke. Die Wahrheit des Simulakrums liegt auf dem Schotter.


Erste Stufe der Konsekration

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: frühes Aufstehen. Gut, daß auch im August die Sonne noch gegen 5 Uhr aufgeht. Wir treffen im Morgengrauen ein und sehen die ersten Vorreiter schon Hollabrunn verlassen. Uns wird noch ein wenig Koffein helfen, ein letzter prüfender Blick – der capitaine de route ruft .

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Kein geringerer als Daniel Ehrl wird heute im Trikot der Kalkhoff Werke die Gruppe ins Weinviertel führen, wo Anstieg um Anstieg unsre Kräfte verschleißt. Als Bewältiger von (Ultra)Langstreckenmonumenten, die da heißen TPR, TCR, TPBR usw, hat er uns allen wahre Auszeichnungen voraus.

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Aber zunächst in Es Dur auf die aufgehende Sonne zu: das ehrfürchtige Staunen, die Freude auf einen gelingenden Tag, der Genuß frischer, guter Luft. Als kleine Gruppe bewegen wir uns locker im Gespräch über den guten Asphalt. Aller Anfang ist leicht.

Bald schon biegen wir in Feldwege und

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bald schon werden die ersten dieser kleinen Hütten, die Kellergassenhäuser sichtbar. Wir sind bis zum Horizont in einer Weinlandschaft. Sie wogt um uns herum, wir schlängeln uns hindurch und blicken rundum auf grüne Rebenfelder.

Kurz taucht ein Motorrad mit Sportfotografen neben uns auf, (es fehlt nur das Presseschild), und lichtet uns fürs Poesialbum ab. Einige habe ich hier verwendet. Die Strecke ist gut angelegt, böse Überraschungen (grausame Anstiege) gibts auf dem Weg zur ersten Restaurantterrasse nicht.

Ein Reparaturwagen steht bereit; während die ersten Fahrer das Frühstück genießen, gibt es Feintuning fürs Merckx am Hinterrad – sowie Hochleistungsöl für die Kette. Die Terrasse liegt in voller Morgensonne, die Laune steigt mit dem Himmelsstern. Reichlich Rührei und diverse Semmeln, wir sind nur die erste Welle – die Kaffeemaschine wird den ganzen morgen nonstop laufen…….

Weiter geht’s, noch ist die Luft mild.

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Der Beginn des schönen Leids

Es gibt auf dem Rad das schöne und das häßliche Leid. Das häßliche Leid sind Kaltstarts, brutale Anstiege auf vollen Magen, Unterzuckerung, Temperaturstürze mit Hagelschauern – also alles Dinge, die hier nicht vorkommen. Schönes Leid dagegen ist das, was man sich gern selbst antut, wenn die Muskeln geschmeidig sind, der Zuckerpegel stimmt und die Luft noch reichlich, die Sonne die Speichen zum glitzern bringt…

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Und das schönste daran sind Passagen, die man wohl nur als Lederstrumpf des Weinviertels findet, wie dieser steile, völlig überwachsene Weg – eine Kellergasse auch das – dessen sandiger Schotter so lose und weich geworden ist, daß der Wiegetrit nicht möglich ist: gleich rutscht das Hinterrad durch. Das schöne Leiden hier: man muß schon ein wenig nachdenken und (vorher!)schlau das größte Ritzel einfädeln, um die kleine Sonderprüfung gut zu meistern. Dann, oben, genießt der Fahrer den Segen glatten Asphalts und plötzlicher, weiter Weinfelder.

Das Tempo schmeckt dann doppelt schön, bis zur nächsten orangenen Pfeilmarkierung mit mehrfachem Ausrufezeichen.!!!!!! !

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eine Haarnadelkurve führt auf die nächste Sonderprüfung. Nicht unbedingt steil, aber mit tiefen Rinnen zerfurcht ist auf dem regendurchweichten, astübersäten Weg nun der Steuerkünstler gefragt. Die gestrige Gewitterzelle (nicht für uns, nicht für uns!) hat ihre Spuren hinterlassen und ich sehe mit Sorge, daß es gerade das frische Holz der Robinie gern geknickt hat. Diese Äste tragen sehr gern lange Stachel.

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Diesmal also der Vorderreifen. Mein letzter Schlauch ist nun dahin, auf meinem Inveloveritas Einkaufszettel steht nun: neuen Schlauch von der nächsten Labe mitbringen. Danke wiederum meinem geduldigen Teamkameraden für die schlanke goldene Pumpe – meine Schlauchwechselzeit klar verbessert.

Nur ist unser Trupp ist lange schon vorbeigezogen……..versprengte Husaren vor Wagram, wird es später heißen. Team Stuttgart findet sich früh schon isoliert im weit auseinandergezogenen Feld. Es wird wärmer, die Partie hat gerade erst begonnen.

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2 Antworten zu Das Schöne Simulakrum – erster Teil – InVeloVeritas 2020

  1. randonneurdidier schreibt:

    da wäre ich gerne dabeigewesen! – und endlich weiß ich, was ein Simulakrum ist. Begleitend zu der herrlichen Lektüre habe ich mir schon einmal den Bericht von bikeboard.at einverleibt. Auch sehr schmackhaft. Ich freue mich auf die Fortsetzung.

  2. crispsanders schreibt:

    Der Weg aus Berlin ist kürzer als man denkt! 2021 sehen wir uns dann hoffentlich . ..

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