Der Untergeher ist eine Erzählung, ein spätes Werk Thomas Bernhards, das ganz charakteristisch in einer Art absatzlosem Monolog gehalten ist. Wenn man sich darauf eingelassen hat, macht es richtig Spaß, da es wirkt, als habe man am Gedankenfluß des Erzählers wie in Echtzeit teil.
So hat mich dieses Buch sehr schnell eingenommen, weil es sich zudem konkret auf eine Schallplatte des Pianisten Glenn Gould bezieht, die in ihrer Art schon ein Hit war: die Goldberg Variationen von JS Bach, gespielt in einer digitalen zweiten Fassung veröffentlicht um 1981. Um den Musiker Glenn Gould geht es nicht direkt, eher um seine überragende Position als einer von drei Meisterschülern eines weiteren, überragenden Pianisten – , Horowitz.
Nicht die Goldberg-Variationen selbst sind Thema des Buchs, sondern das plötzliche, überwältigende Talent Glenn Goulds, dessen Größe auf die Ambitionen seiner Mitschüler (und Freunde) niederschmetternd wirkt. Der Eine, der uns die Geschichte erzählt, gibt fast augenblicklich alle Aspirationen auf seine musikalischen Karriere auf, während der andere sich nach dilettierenden Versuchen in der Wissenschaft schließlich umbringt. Beide ziehen ihre Konsequenz daraus, der Kunst nicht in der Weise gerecht werden zu können, wie es Gould es konnte, beide im Wissen um ihre Unzulänglichkeit, aber auch im Bewußtsein, nicht nur leidliche Konzertpianisten sein zu wollen.
Es geht um Vollkommenheit, Virtuosität, das Absolute in der Kunst. Symbolisiert durch die technisch hoch anspruchsvollen Klavierwerke JS Bachs ,speziell eben in diesen Goldberg Variationen, setzt Gould (so der Erzähler) einen künstlerischen und spirituellen Maßstab. Nebenher bezeichnet Gould, so der Autor, diesen als „einen Untergeher“. Daher der Titel der Erzählung, die uns der untergeher selbst erzählt.
Dieses Buch ist überhaupt kein Angriff oder eine Kritik an der Person Goulds, die vor allem als beispielhaft für die erfolgreiche, gelungene künstlerische Existenz angeführt wird. Es ist gerade so, daß der Tod Goulds (hier durch Herzschlag) zudem als nicht zu verwindender Verlust empfunden wird, der (unter anderem) den Suizid des Freundes zur Folge hat. Was gerne als groteskes Motiv gedeutet werden kann, aber es passt schon.
Wer aber das unzweifelhaft verschrobene Erscheinungsbild des literarisch gehimmelten Gould auf dem Cover dieser letzten Einspielungen sieht, hat natürlich eine gewisse Mühe, in dieser Gestalt etwas Erfülltes, Vollendetes, geschweige denn Glückliches zu finden. Ganz im Gegenteil machen die Abbildungen eines jüngeren Gould im Innenteil der Schallplatte uns zum Zeugen eines offenbaren körperlichen Verfalls.
Aber das hieße die Romanfigur Gould mit der historischen Person verwechseln. Bernhard, darauf kommt man dann doch, nimmt sie nur als Anlaß für einen weiteren Bernhard. Es spielt im Grunde keine Rolle, ob wir die Einspielung nicht als teilweise übertrieben, manieriert und streckenweise viel zu hastig empfinden. Den die Frage lautet dann eher: was hätte Bach zu Gould gesagt- wahrscheinlich hätte er sich über einen derart monomanischen Charakter nur unschlüssig die Perücke geschüttelt und dessen Fingerfertigkeit gelobt.
Nein, es weist über das vollendete Kunstwerk, Talent und Genie hinaus. Verhandelt wird wiederum die bürgerliche Existenz (alle Protagonisten stammen aus wohlhabenden Elternhäusern), die Unerfülltheit und die Unmöglichkeit eines erfolglosen Lebens . Da ist Bernhard in seinem Element, ganz ähnlich, wie in dem kurze Zeit später erschienenen „Wittgensteins Neffe“, Größe und Wahn und Niedergang einer Existenz vor Großbürgerlichem Hintergrund. Auch dort beschreibt Bernhard mit der ihm eigenen Verve das Scheitern einer bürgerlichen Existenz in großem Stil.
Für diese Qualitäten würde ich jedem beide Bücher empfehlen. Der „ Untergeher“ gewinnt einen zusätzlichen Reiz durch sein Täuschungsspiel mit der reell existierenden Figur und dem reell existierenden Werk der Goldberg Variationen. Der so mitgelieferte Soundtrack macht daraus ein einzigartiges Werk.
Der Untergeher, Thomas Bernhard, Suhrkamp Verlag 1983