Paniktürme im Weiltal
Dritter Advent. In etwa 3 Grad positiv, feuchte Luft, Wolkendecke bei 300 Metern – plusminus – , auf den Hügeln sieht man nur noch die Säulen der Windrotoren. Wenig Wind, also wenig Bewegung da oben. Die Wolken werden bleiben.
Darum nach Süden, Richtung Lahn und Hintertaunus, die Hügel zwischen Lahn und Taunuskamm. Der Weg ist bekannt, sein Wendepunkt soll Weilmünster sein, größere Siedlungen und Innenstädte werden gemieden. Man will den Teufel nicht beim Barte packen. Es kommt der dritte Advent und der Lockdown liegt nun ganz entschieden in der Luft.
Die Materialien unserer Zeit sind gegen feuchte Kälte gut wirksam, schnell habe ich mich in meinem leuchtfarbigen Kokon warm eingesponnen. Radfahren in diesem Klima ist nur fünf Minuten unangenehm.
Weiter über die Hochebene, die Lahn und Westerwald trennt .
Heiligenbilder an der Landstraße markieren die Konfessionsgrenze zum Weilburger Fürstentum protestantischen Bekenntnisses. Nach der Überquerung der Fernstraße 49 (recht leer) geht es hinunter in die engen, waldigen Täler des Fürstentums, auf Nummernschildern lebt der alte Landkreis als WEL weiter. Dort gibt es Dörfer, die einen Lockdown überhaupt nicht spüren werden.
Hier bin ich so gut wie allein, nur ein paar Jugendliche, die Zeitungen austragen oder Kinder, die im Garten vor unverputzten Häusern spielen. Eschenau – ein sehr kleines, sehr hübsches Dorf in einem kleinen, engen Tal. Das Einzige was man hier kaufen kann, sind Kaugummis aus dem Automaten. An der alten Mühle vorbei, hinauf in den Wald. Es könnte ein Bullerbü sein – die Kinder auf der Schaukel sehen das vermutlich anders. Die Steigung ist frisch geteert und führt zur Höhenstraße, die quer durch den Wald mit der großen Stadt verbindet.
Die Luft ist feucht, nur schemenhaft sind Häuser auszumachen.
Durch dichten Wald hinunter an die Lahn. Ich bin ungestört auf meiner Abfahrt durch die Wälder, die Bremsen jaulen und lande mitten im kleinen Dorf am Ufer der Lahnschleife.
Am Kraft-Zentrum des Ortes werden auf einer Holztafel die anerkannten Stände ausgewiesen.. Der Campingplatz dahinter liegt still, in den Löchern des Minigolf steht das Wasser. Wir schreiben Samstag den 12ten Dezember, das Land steht vor einer Schließung der Geschäfte, der Konmsumzwang ist teilweise gelockert worden. Wird es das Ende einer Welt sein, wie wir sie kannten? Hier wohl nicht –
Einige machen sich auf, ihr Glück am dritten Advent zu finden. Meines liegt im Weiltal mit seiner guten und stillen Straße durch die Wiesen und an den Hängen vorbei. Nur noch wenige Kilometer sind es durch das einsame Stück bis nach Weilmünster, dem nächsten Knotenpunkt mit Grundversorgung.
Ich fädele mich zwischen dem Blätterkrokant der Felsen durch, von oben wachen leere Augen aus alten Schloßmauern.
Kurzer Stop bei alten Bekannten, den Sauriern der Mobilität, die schon seit Jahren an dieser Stelle auf Besucher warten. Das Geräusch von Rolläden ist vernehmbar, die kleine Kirchturmuhr schlägt halb drei. Ich steige wieder auf, Rolläden rasseln hinunter.
Der Linienbus kommt vorbei, eine Handvoll maskierter Passagiere darin verstreut. Frühlingsgrün zieht er weiter. Ein Mädchen mit rosa Roller an der Bushaltestelle erwartet ihn, eine kleine Merinoscharfherde blickt mir nach und
In einer Wegbiegung blickt uns stumm der Trafoturm an. Auf zwei Seiten steht die Parole des Tages: Panik. Panikstarre wäre das bessere Wort. Endlich das Leuchten der Tankstelle, die rote Leuchtschrift des Rossmann: das Paradies ist in greifbarer Nähe, das Zentrum des Weiltals mit weichem Hinterrad erreicht. Panne.
Keine Panik, der neue Schlauch wartet unter dem Sattel auf seine Stunde. Während ich den Tausch vollziehe, lassen Autofahrer ihrer Motoren in Wartestellung laufen. Das Geschäft mit Sprit und Alkohol läuft. Mein kurzer Blick durchs Fenster fällt auf die üppig bestückte Theke voller Croissant, Brötchen und Baguette – Total Express gibt sich die gewohnte kulinarische Mühe. Ich taste das Innere des Mantels ab, – nichts auffälliges; manchmal reicht ein winziger Splitter. Noch ein kleiner Kraftakt bis 5 bar, dann kann ich mich stärken.
Wir stehen geduldig in gemessenem Abstand an, alle tragen ihre Masken, auch in den Autos tragen sie ihre Masken, die als weiße Punkte aus dem Innern leuchten. Niemand wirkt besonders glücklich, niemand besonders unglücklich. Niemand so, als sehe er mit Schrecken das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Vielleicht nehmen starke Veränderungen eher undramatisch ihren Lauf, nur in der Rüpckschau werden sie zu Dramen verdichtet. Egal. Ich denke über den schnellsten Rückweg nach, in einer Stunde wird es dunkel . Mit der Zeit weiß ich auch in dieser Gegend, welcher Hügel mit welchem Tal korrespondiert, die Karte muß im Kopf sein. Einsam geht es aus dem Weiltal wieder zurück, das Marschall rollt ruhig und geschmeidig.
In den Fenstern brennen schon die Lichter, für Solarstrom ist es ein sehr schlechter Tag, die Straßen sind feuchtnaß von der Wolkensuppe, aber die Hügel hier halten einen spielend warm. Bei Gräveneck geht es von der Hochebene wieder auf die Lahn hinunter und ich begegne dem ersten und einzigen Radfahrer des Tages. Dann über den Fluß und die Gleise, der letzte Teil beginnt.
Große Stille über der Lahn; es sind die letzten Stunden von John le Carré, aber das weiß ich noch nicht. Diese Fahrt fände ein schönes Ende, die letzten 20km wären ein munteres Liedchen, wäre da nicht plötzlich im Anstieg durch den Grävenecker Forst, dort, wo man wieder ins Freie kommt, kurz vor Wirbelau das flaue Gefühl, hinten wieder Luft zu verlieren. Der neue Schlauch? Wenn es nicht der Mantel ist.
Einen Schlauch habe ich jetzt nicht mehr, nur noch das kleine tiptop Flickenstück.Vulkanisierflüssigkeit, Reifenheber, alles trocken im Filz des Geldbeutels.
Ich schaffe es noch bis zum Ortseingang, dann schiebe ich, um die Karkasse nicht zu zerstören. Wer wird mir nun helfen, hier in Wirbelau, 790 Einwohner , Samstags gegen 16h bei beginnender Dunkelheit? Ich kenne den Ort – im Kopf habe ich die Schuppen, unter denen ich Traktoren entdeckte. Zur Not überrasche ich den Besitzer des Porsche „Standard“ mit einer Wertanfrage, oder klopfe etwas weiter beim sicher untergestellten Hanomag „Granit“. Ich blicke nach links und blicke nach rechts, während ich über die Dorfstraße schlendere, die verlassener als Nothing Gulch vor mir liegt. Die Mehrfamilienheime werden mir kein Hilfe bringen.
Links ein Haus, eine Einfahrt, ein Mercedes C-Kombi. Die Heckklappe ist geöffnet, unter dem Rückspiegel hängt der Wimpel der freiwilligen Feuerwehr.Dahinter erkenne ich einen ausgebauten Holzschuppen. Ich lasse meine Klingel anschlagen, wie ein Hausierer,der die letzte Gelegenheit sucht, vor dem Lockdown noch Knöpfe zu verkaufen.
Er trägt eine Arbeitsjacke in Leuchtfarben, so, wie man sie hier im Wald braucht. Ob er staunt, weiß ich nicht, aber er versteht meine Lage ; sogleich führt er mich in seinen voll ausgebauten Holzschuppen, wo ein Stehtisch bei einem Heizpilz steht, daneben noch eine Bierbank und das selbstgefertigte Schild einer Karnevalsgesellschaft. Er holt sogar eigenes Flickzeug aus dem Haus, während ich ihn über die Traktoren seiner Nachbarschaft befrage. Der Mann ist eindeutig vom Fach und bestens unterrichtet.
Während ich den eben noch neuen Schlauch mit seinem frischen neuen Loch aus dem Mantel ziehe, höre ich mir gern seinen Vortrag über den Fendt Geräteträger, das Einmannsystem und die drehzahlunabängige Zapfwelle an. Geschwindigkeitsabhängig! Man merkt sich in so einer Situation die irrsten Sachen, auch, daß ein Sieb für den Filter aus Messing ist, fingerhutgroß und 36 Euro kostet . . . . . ich kann immer noch keinen eingedrungenen Fremdkörper finden, der Einstich ist sehr klein. Sehr zuversichtlich macht mich die Wärme, mit der der Heizpilz schnell den Schlauch vulkanisiert. Schön warm faßt es sich an; dann mit dem Hammer auf der Biergartenbank den Flicken aufgeklopft und wieder hinein. Es hält die Luft.
Die Dörfer liegen im Dunkeln, die Straße ist naß, und so leuchten die vereinzelten Xenondampflampen unmso strahlender. Der Gegenverkehr sagt mir mehr über den Straßenbelag als das kleine Licht – sie kehren heim vom letzten Adventseinkauf…..
Es sind die kleinen Dinge, die manchmal zählen. Der warme Teller ist nicht mehr weit, die Kerzen brennen.