19 Dezember 2020 / Eine Westerwälder Adventsrunde

Karte und Gebiet – was heute an Information für die abgelegenste Gegend zu finden ist, hilft schon weiter. Für jeden Winkel des Erdballs läßt sich vom Schreibtisch aus eine Strecke detailliert entwerfen und aufs Navigationsgerät eingespeisen. Vielleicht ist der zentrale Westerwald jetzt nicht so unerforscht wie Jakutien – es ist dennoch nicht verkehrt, auch eine auf den Meter vorgezeichnete Radrunde selbst nachzufahren, bevor man ungeprüft Angaben anonymer Dienstleister folgt. Draufsetzen und losfahren stimmt, böse Überraschungen will der Randonneur auf der geplanten Westerwaldrunde den Frankfurter Freunden der wilden Wälder lieber ersparen.
Der vierte Advent 2020 bietet ein gutes Zeitloch dafür, eine Art Wetterloch auch. Nach eher trübsinnigen letzten Wochen kam gestern erst unvermutete Himmelsheiterkeit auf ; und als am Tag selbst gegen 8 Uhr der Himmel rosa einfärbte, war das außergewöhnliche Schicksal dieses Tages vorgezeichnet: maximale Solarisation. Wer im Winter nur auf der Rolle fährt, weiß nicht, was echter Sauerstoff ist.
Die Tagesetappe–
führt an den Nordpol der geplanten Runde, den Beulskopf oberhalb von Altenkirchen.

Diesen Punkt werde ich in einem weiten Bogen von südöstlich anfahren. Zuerst peile ich die Krombachtalsperre an. Sie liegt auf einem Plateau und sammelt unterhalb eines sanften Höhenzugs namens Fuchskaute die abströmenden Wasserläufe der Hügel, die den Horizont nach Osten abschließen. Hier ist auch der östlichste Punkt meiner Fahrt erreicht. Am Zulauf zeigt sich: die Speicher sind noch lange nicht voll.
Der große Rotor –
Höhenkämme lassen sich leicht dank der großen Rotoren sogenannter Windparks bestimmen. Dort weht der (sprichwörtliche) kalte Wind mit größter Wahrscheinlichkeit, liefert also die maximale Energiemenge. Einige Diskussionen darum gibt es immer wieder – besonders von esoterischen Anwohnern. Solange der Energiehunger- und bedarf auch nur ungefähr bleibt wie er ist, wäre ich nicht ganz so kritisch – schließlich sitzt man an der Quelle der eigenen Wärme. Energie soll eben unsichtbar bleiben, schon gilt sie als sauber.
Denn hinter Rennerod weht der Wind kalt und ungebremst aus jeder Richtung: schützende Wälder, die den Radfahrer aus dem Wind nehmen, gibt es nur noch selten. Die ganze Hochfläche rund um die Verkehrsader B255, der ich nach Rennerod folge, ist bis auf kleine Waldstücke exponiert. Den Grund finde ich bald heraus.
Der Förderturm –
Was aussieht wie die Spielzeugausgabe eines Förderturms, ist ein Relikt des Höhner Braunkohlereviers. Die Gegend hätte gern mit Steinkohle vorlieb genommen, es fand sich aber nichts besseres als Braunkohle in 50 Metern Tiefe rund um den Ort Höhn. Immerhin hundert Jahre lang konnte so bis 1961 ein kleines Kraftwerk betrieben werden. Damit waren die Menschen unabhängig geworden von der Holzverbrennung, die sämtliche umliegenden Wälder über Jahrhunderte aufgezehrt hatte. Dem windigen Heimatlied ging also eine Umweltzerstörung aus Not voraus – je höher die Orte liegen, je magerer die Wiesen, desto kälter wird es im Winter. Zur Erinnerung.
Von Rennerod aus geht es westwärts, gegen die Hauptwindrichtung. Die große Fernstraße ist für Radfahrer manchmal die einzige Lösung. Wenn möglich, meidet er Trampelpfade wie diesen kürzesten Weg zwischen Siegerland und Eifel. Die Kennzeichen bezeugen – es ist ein Highway. Eines merke ich vor für die zukünftige Fahrt: Höhn hat eine lockdownsichere Aral Tankstelle.
Der tote Viadukt –
Von der großen Straße fort. Steil geht es hinunter zur Nister – hinüber in den Gegenhang. Dort streife ich auf halber Höhe Bad Marienberg, folge parallel der großen Straße, die oberhalb verläuft und sehe im Dunst der Wälder ein Bauwerk schimmern. Nur schwach zeichnet sich ab, was die beiden Täler verbindet: ein großer, schlichter Viadukt.
Da ist auch die Strecke gefunden, die zu ihm führt. Das Asphaltband der stillgelegten Bahnlinie, dem ich sofort folge – eine interessante Abweichung von der Strecke. Sie endet jedoch bald schon an der Absperrung vor der großen Brücke. Zu Fuß könnte man noch hin, aber die Zeit fehlt jetzt. Vorgemerkt.
Ein Bild aus der Zeit vor 1971, dem Jahr der Stillegung. Unrentabel.
Im Tann –
Der Forst zeigt sich von einer guten Seite. Die virtuelle Karte wieß nicht, wie gut ein Waldweg ist und die Prüfung hier beruhigt mich. Alle Wege sind eben und mit festem Basaltschotter bedeckt – daran herrscht hier kein Mangel. Es rollt also auch auf 25er Reifen sicher und schnell. Solange kein Schnee liegt, oder der Regen alles durchweicht, bleibt es eine gute Alternative zur Straße. Durchaus anstrengender ist aber das Fahren im Wald, auch wegen Spurwechseln: Wanderer und Hunde. Irgendwann ist die Improvisation zuende und die geplante Strecke taucht auf dem kleinen Display auf.
Atzelgift –
Mit diesem merkwürdigen Ortsnamen beginnt die Kroppacher Schweiz, die schöne Landschaft rund um die Zusammenflüsse der Nisterbäche. Die Täler sind schmal und die Hänge haben alpine Züge. Die Nister windet sich um die Kuppen, spielt verstecken, bevor sie Richtung Sieg davonläuft.
Auch wenn jetzt viele Fichtenschonungen gerodet sind immer noch ein Genuß; – aus dem ich mich wieder emporarbeiten muß. Eine gute Stunde ist seit Rennerod vergangen.Das kleine Croissant vom Bäcker hat seine Wirkung lange schon getan: jetzt muß dringend Nachschub her. Der kleine Riegel und die Banane aus dem Beutel tun Not, denn hier wird sich so schnell nichts anderes finden.
Langsam gehen mir die Körner aus ,während es aus dem Tal zum Dorf Kroppach hinaufgeht. Drei Stunden ist für kohlehydrate ein maximum, diese Regel steht in Stein gemeißelt.
Hinter Kroppach –
Führt eine gerade Steigung auf den letzten Höhenkamm und gibt den Blick weit in den Westen frei. An klaren Tagen wie heute ist hier das Siebengebirge sichtbar – dort hinten liegt der Rhein und hier schon beginnt die Sprachverschiebung . Im Kreis Altenkirchen färbt sich die Rede langsam rheinisch.
Der Flug auf den Beulskopf –
Ganz sanft steigt die Strecke nun wieder durch Wiesen aufwärts. Weil kaum ein Gehölz die Sicht verperrt, wird der Beulskopf mit seinem Holzturm von weitem sichtbar. Dieser Punkt erlaubt einen Rundumblick über den gesamten Westerwald und schon vorher erkenne ich als ganz schwache Marke im graublauem Dunst die Silhouette des Feldbergs. Hinter mir die Waldkämme der Nister und nach Westen die Sicht bis zu den ersten Moselgebirgen bei Koblenz. Das große Panorama liegt vor mir.
Hier am Beulskopf scheidet sich das Wasser: alles jenseits strömt zur Sieg ab und diesseits laufen die Bäche zur Wied hinunter, die Altenkirchen durchquert .
Zielfoto –
Das Marschall ruht am Beulskopf, die Straße am Ende war noch weißlich vom Streusalz überzogen. Die erprobte Route ist gut, es wird genug Relaisstationen geben . Aber sie ist nicht ohne.
Jetzt verlasse ich sie Richtung Altenkrichen, der Stadt im Tal. Hier kreuzen sich die großen Wege über den Westerwald: Die Frankfurter Straße zwischen Köln und Frankfurt, Die Leipziger Straße von Ost nach West, Richtung Siegen und Marburg. Dort unten sind die Parkplätze des großen Rewe Markts längst überfüllt, die letzten Einkaufswagen schubsen sich mit fester Hand auf Suche nach Mindestabstand durch den Supermarkt. Der einzige Mensch, der ihn betritt, weil er wirklich Hunger hat, wird vermutlich ein Radfahrer sein.
Wuthering Heights –
Während die Sonne untergeht, kämpfe ich gegen den Wind auf der B8, die Kalorien kommen langsam an. Die Wälder rund um den Windpark sind kahlgeschlagen – der Borkenkäfer hat sein Werk vollbracht. Die Natur spielt nach eigenen Gesetzen, die Windanlagen sind ihr völlig gleich. Don Quichotte des Rades : die Rotoren drehen sich immer schneller.