Ende Dezember, nach dem Fest
Landliebe, Landfriede, Landlust, Landleben. Wenn ich so ins verdünnte Zeitschriftenregal meiner Tankstelle sehe, halten sich Titel für das Leben abseits der Städte wacker. Endlich im warmen, genieße ich meinen zweiten Cappuccino und kann erzählen, was es draußen im Grünen zu entdecken gibt. LandLiebe (TM) – die Sehnsucht nach der grünen Weite, den sommerlich kühlen Wipfeln und den rauschenden Bächen ist stark.
Städte ( hört man) werden immer teurer und die Lebensqualität läßt nach. Die einen lassen die Preise steigen, die anderen deckeln sie, irgendwo dazwischen wird wohl eine graue Zone entstehen, in der es keine Gewinner gibt. Sagen wir – : mehr Nebenkosten für alle. Selbst Siedlungen am Rande der Stadt erfüllen mit angrenzenden Gewerbeflächen nicht immer den Traum der Stadtflucht. Es ist aber nicht alles Party, was mitten im Grünen steht. Ein paar Dinge sollte man besser kennen, bevor man sich für immer über eine Stunde vom nächsten Autobahnzubringer entfernt.
Für heute sind ab Mittag Schaue angesagt, böige Winde, die Temperaturen bleiben zeropositiv. Allzuweit werde ich mich nicht hinauswagen, nur ein paar Stunden in den Westerwald hinauf. Die Straßen sind gut gestreut, ich kann die Salzkristalle an meinen Reifen hören.
Ich will wieder an diesen stillgelegten Eisenbahnviadukt, der auf der Radwanderkarte nicht einmal verzeichnet ist; die alte Bahnlinie ist nur ein kümmerlicher brauner Faden ohne Legende. Diesemal von der Gegenseite inspizieren. Hoch in den Westerwald, hinter dem Horizont.
Die ersten leichten Schauer über Westerburg ignoriere ich, sind der Rede nicht wert, solange mich der Wind hinauftreibt, immer weiter hinauf und dann ins Tal der Nister hinunter. Idyll, da bin ich!
Da war der Viadukt – weiter hinten fährt die kleine bunte Bahn. durchs Tal
Der Verkehr ist so spärlich an diesem Sonntag, den 27ten Dezember, daß ich sogar ein Stück Bundesstraße nehme. Auch wenn niemand hupt: unweit von Hachenburg verlasse ich sie, um eine wildere Variante zu prüfen , die mir von grünen Pfeilen empfohlen wird.
5km bis zur großen Stadt auf dem Berg sollten es noch sein, so die grüne Schrift. Das wären nur 3 mehr, als über Landstraße. Ein Abenteuer lockt.
Ich streife die ersten Opfer des Borkenkäfers und unterquere die Bahnlinie. Hier ist das Hirzbachtal, wild und schön höre ich den Bach rauschen, die Bäume stehen dicht, der Weg ist fest und führt hinauf. Vom Wind höre ich nur das Rauschen über mir. Niemand kann ahnen, daß der Traum vom Eigenheim in greifbarer Nähe liegt, mitten im Idyll. LandLust hat recht gehabt.
Bald aber wird die grobe Steinstrecke schlammig – die Rückefahrzeuge haben ihre Spuren beim Abtransport von Fichten hinterlassen .
Der Wald weicht allmählich einer gigantischen Rodung. Mich umgibt nur noch das Bild entblößter Hänge, während der Wind frontal entgegenschlägt. Ich denke an den amerikanischen Bildband von Robert Adams : turning back; nur ist es hier kein Raubbau, sondern ein GAU der Forstwirtschaft.
Wieder ein kleines Schild . Ich folge einfach weiter dem Weg, der jetzt geteert ist. Doch mit der Rodung wurden nicht nur die Hänge ringsum freigelegt, sondern auch Häuser am Wegrand, kleine, geduckte Hütten, umgeben von Gebrauchsgegenständen, Sperrmüll und Fahrradleichen.
Hier beginnt das Leben im Grünen, eigentlich. Das Eigenheim in windgeschützter Lage – eine winzige Hütte. Nach hundert Metern künden Strommasten vom Anschluß an alle Netze. Je weiter ich vorwärtskomme, umso proportionierter die Häuschen. Dahinter der kahle Hang, auf dem ein gigantischer Holzstapel liegt. Dann noch ein großer Gastank und schließlich das erste massive Steinhaus an der Straße. Dehlingen. Ein kleiner Dorfplatz, die Schindeln an einigen Fassaden müssten mal erneuert werden. Es pfeift kalt- weiter, wenigstens gut, daß es nicht regnet.
Die Reifen ziehen den Waldschlamm als feine Spur über die Dorfstraße. Hachenburg ist das hier nicht. Immer noch 5 Kilometer. Ich muß einen Abzweig übersehen haben; deshalb: weiter, den ganzen Berg hinauf, wieder durch den Wald, wieder über Schotter und grobe Wege.
Weit unter mir liegt jetzt der kahle Hang , noch kleiner wirken die Hütten. Endlich eine Schranke, ein Forsthaus, ein Ortsschild.
In einem Vorgarten zerrt der Wind heftig an einer kleinen Europafahne, Böen peitschen den Nadelbaum. Europa wird 2020 von ein paar löchrigen Verträgen zusammengehalten, der Rest wackelt beim kleinsten Sturm. Man hofft und weiß nicht, was es noch taugt. Aber sie werden sich noch ein paar Jahre Diäten genehmigen für ihr machtloses Parlament
Dann, als kleine Erinnerung an das gute Europa die alte britische Telefonzelle, solche gab es gern bei Städtepartnerschaften dazu. Jetzt legen Hachenburger ihre überflüssigen Bücher hinein – 40 jahre mittelprächtige Literatur und einige Lichtblicke. Das eiskalte Paradies, meine Kindheit bei den Zeugen Jehovas.
Die königliche Post hat uns beschert – dreitausend Seiten hat ihr Weihnachtsgeschenk: der Vertrag , den sie mit den Krümeln des Empires geschlossen haben. London ist weit, Brüssel irgendwie auch. Hier in Hachenburg weiß kein Mensch , was drinsteht. Die Telefonzelle wird bleiben.
Dann hat es angefangen zu schneien und ich hatte wirklich eine Stunde lang keine Zeit, an etwas anderes als an den Wind, die Straße und mein Rad zu denken. In der Hoffnung auf ein paar schützende Bäume.