Der Kaiser wechselte an diesem Tag angeblich dreimal das Gewand, sagen gut unterrichtete Kreise. Am häufigsten zeigen Darstellungen ihn in einer roten Husarenuniform, sein Haupt krönt eine rotgeränderte, blaue Schirmmütze. Wilhelm der Zweite war kein einfacher Mann, hatte aber Sinn für die große Geste.
Eine große Geste für die Austragung des Gordon Bennett Cups 1904 war nun auch das mindeste, was die Welt und die aufkeimende Deutsche Automobilindustrie erwarten durfte. Die weißen Mercedes Rennwagen hatten sich in Irland bei der Vorjahresausgabe behauptetet. Camille Jenatzy siegte über die Distanz von 550 km. Nun war Deutschland Gastgeber und es war kein Zufall, daß die Austragung gleich neben der Sommerresidenz Allerhöchstdesselben fiel.
Bad Homburg im Taunus. Der Stifter des Wanderpokals (ein Automobil aus massivem Silber) hatte festgelegt, das Rennen auf Rundkursen von mindestens 120km auszutragen. Ich fand diesen Kurs auf einer der zahlreichen Postkarten, die für dieses Ereignis herauskamen. Ein sehr inspirierender Fund, auch wegen der Kilometerangaben.
Damit war ich im Spiel und es war leicht, die Strecke nachzuzeichnen – sie bildete schließich die Grundlage der jetzigen Bundesstraßen. Der Gordon Bennett Cup förderte nicht nur die Verkehrswende er zeigte 1904, wie man Verkehrswende macht: von oben. Es wurde ein makelloser Straßenbelag geschaffen, wie ihn die Bewohner der kleinen Taunusstädtchen noch nie gesehen hatten. Denn der Kampf um den Cup war auch ein Kampf um die maximale Geschwindigkeit. 1904 sind Automobile die schnellesten Verkehrsmittel des Planeten, sie erreichen in der abschüssigen Fahrt nach Limburg/Lahn über 160 km/h . . . Fangzäune und Werbebanden, tribünen und Fußgängerbrücken – die Organisation war vollkommen, wie die internationale Prese beeindruckt feststellt .
Ich werde an diesem 6.Januar 2020 das Gewand nicht wechseln und trage in den Winterstiefelen ein doppeltes Paar wollener Socken, eine leicht gefütterte, lange Radhose und über drei Pulloverschichten eine in fluoreszierendem Gelb leuchtende Winterjacke: die Uniform der unverdrossenen Spähtrupps auf zwei Rädern. Sie schützt vor unvorsichtigen Automobilisten, die einen im Getriebe des Wochenend- Tourismus allzuleicht übersehen .
Es ist also kein strahlender Junitag („Kaiserwetter“), der mich auf der Strecke empfängt, sondern der feuchte und kühle Winter um den Gefrierpunkt, eine Nordostströmung sorgt seit den Weihnachtstagen für konstante Bedingungen. Es wird kein Blizzard kommen, man kann sich darauf einlassen.
An der Nordseite des Rundkurses auf Höhe Limburg steige ich bei Km 60 ins Renngeschehen ein, sehe Schnee ab 250 Metern, dunstig und mit leichten Schauern. Von Limburg an geht die Strecke nach Süden. Der Kurs folgt der sogenannten Hühnerstraße, die diesen Namen einer Anhöhe auf dem Weg nach Taunusstein verdankt. Die Steigungen sind moderat, in langen Geraden wogt die Strecke auf und ab durch die üppigen Felder des Beckens.
Hier in Kirberg erster Tankpunkt mit Versorgungsmöglichkeit. Aber noch ist es nicht soweit, mein Motor braucht nur alle 2 Stunden Brennstoff.
Anders die motorisierten Konkurrenten. Für die Verkehrswende 1904 wurden entlang der Strecke um die 30 Tanklager aufgestellt. Die gewaltigen Vierzylinder von 10 Liter Hubraum verbrauchten über 30 Liter auf einer Runde. Und da war es ein wenig wie mit der Elektromobilität 2020: Tankstellen waren mangels Automobilen nicht vorhanden. Jede nation brachte ihr Benzin mit . . .
Um die von Gordon Bennett vorgeschriebene Distanz zu bewältigen ging das Rennen über vier Runden. Gestartet wurde seit 7 Uhr morgens in Abständen von 7 Minuten. Der Kaiser war gegen 6h15 vom Pferd gesprungen und unter Hochrufen zur Ehrenloge geschritten. Die Sonne wärmt bereits und Ihro bestgelaunte Majestät nimmt einen Handwerker beim Arm, um die Loge für seine Frau mit Gaze bespannen zu lassen.
Mir bleibt dagegen nur der wachsame Blick zum Himmel, dessen Wolken bedrohlich tief liegen. Auch der letzte der 18 Konkurrenten hätte mich hier bei Km 84 der Strecke schon in seiner zweiten Runde hupend überholt. –Wenn er nicht schon ausgefallen war.
Wie Fritz Opel, erfolgreicher Radsportler aus gutem Hause, dessen Firma seit 2 Jahren auf die Verkehrswende setzte . Man war ein führender Fahrradfabrikant, möglicherweise der größte der Welt. Die Zukunft aber hieß Automobil und dessen social media war mit Kaisers Gunst der Gordon Bennett Cup. Der von Fritz Opel für das Rennen in Paris eingekaufte 100PS Darracq durfte sich Opel nennen, da die Firma seit 1902 Darracq in Lizenz nachbaute. Doch die Kardanwelle hielt nur 8 Kilometer.
Das Marschall dagegen setzt voll auf Kettenantrieb, wie übrigens der ganz überwiegende Teil der Mercedes, Mors, Wolseley, FIAT, Brasier und Napier im internationalen Feld. Um die langgezogenen Anstiege des Hintertaunus zu packen, nutzen die Piloten im Ledermantel drei Fahrgänge, deren Schaltung im Vergleich zu meiner geschmeidigen Shimano eine Kunst für sich gewesen ist.
Ein leichtes Schneetreiben hat eingesetzt, aber es beunruhigt nicht weiter. Die Salzlauge auf den Straßen hält sie frei. Ich wähle eine parallele Route mit (noch weniger Verkehr) und wenn möglich, Deckung. An der Hühnerkirche – (Streckenkilometer 89) beschließe ich einen reizvollen Abstecher in die kleinen Täler, während Schneetreiben mich allmählich einhüllt. Die Straße aber bleibt frei und Schutzbleche schützen perfekt vor Spritzwasser.
Aus den Dörfern sind sie morgens in Scharen aufgebrochen. In Sonntagskleidung stehen sie an der Strecke und viele sehen ihr erstes Automobil – das neue Spielzeug der Superreichen.
Strikt folge ich meiner Navigationsvorgabe durch Täler, an deren Hängen Kinder rodeln. Es geht aufwärts, immer weiter hinaus. Dieser Weg wird bald ein Forstweg sein, gleich müssen sich meine 25er Reifen bewähren.
Nur in der Loipe einer Autoreifenspur werde ich die nächste Steigung im Forstmatsch bewältigen können. Der Trumpf des kleinen Kettenblatts muß jetzt stechen, damit ich nicht absteige. Es gelingt, Die Reifen drehen nicht durch und ich kann vorsichtig über den Anstieg balancieren.
Es dampft in der Tannenluft, Schnee, weiß wie das Crêpe-Kleid der Kaiserin umgibt mich, die Panaracer kommen durch.
Reifen waren schon 1904 ausschlaggebend: oft zerfetzten die nur 50mm breiten Mäntel und kosteten den Sieg, Wie Radfahrer jener zeit, führten Piloten manchmal Schläuche mit. Bekannte Namen rühren die Werbetrommel: Michelin für Frankreich und Continental für Deutschland, Dunlop für England – alle dank Erfahrungen mit dem Fahrrad Technologieführer. Auch hier gilt es, die nationale Überlegenheit des Herstellers durch einen Sieg unter Beweis zu stellen. Jenatzy auf Mercedes und Théry auf Brasier liegen nach der ersten Runde gleichauf und wissen das: an den Kontrollstellen werden die Zeiten genommen und über Telegraphen der Rennleitung mitgeteilt.

Homburg, Germany. 17 June 1904. Leon Thery (Richard-Brasier), 1st position. Ref-Autocar S65/2479. World Copyright – LAT Photographic
Ich sehe auf die Uhr – es geht auf Mittag zu, als ich bei Taunusstein/Neuhof (Km 95) den Rheintaunus verlasse. Noch tanzen die Flocken und mein Tempo ist gut. Aber Hunger macht sich langsam bemerkbar – ich weiche vom Rundkurs ab, erweitere ihn in südlicher Richtung nach Neuhausen.
Zuerst den weißen Hang hinunter, auf dem sich die bunten Punkte der Rodelpartien tummeln. Der bemängelte Pandemietourismus ist das hier nicht. Ich empfehle allen, die ihr Immunsystem stärken wollen Frischluft.
Dann noch eine Verneigung vor dem schönsten Tannenbaum des Taunus – bevor der Weihnachtsschmuck wieder verschwindet.
Kurzer Stop in der Senke – Kontrolle von Kette und Ritzel; nachdem der Cappuccino umgerührt ist, nehme ich den Stab für die verschlammten Ritzel. Bie den Konkurrenten des Cups werden Kühlwasser, Öl und Benzin nachgefüllt. An den 8 neutralisierten Passagen durch Städte wir Weilburg und Limburg begleiten Radfahrer die Konkurrenten, die nicht überholt werden dürfen. So ist eine ungefährliche Durchfahrt gesichert. Thèry reicht dem Begleiter sogar die Hand: der Automobilismus vereint mit dem Rad.
Mehr als ein Laugencroissant habe ich in den Auslagen des „Mühlenbäckers“ nicht finden können. Die übrigen Kalorien kommen aus 30 Gramm Riegeln, die ich mitführe. Bis Bad Homburg muss es reichen. Über Eppstein und Königsstein komme ich dem Rundkurs wieder näher, in langgezogenen Steigungen arbeite ich mich die Landstraße empor durch immer üppiger werdende Siedlungen,
Der Kaiser und sein Gefolge sind inzwischen zum Festessen aufgebrochen, die Loge ist unbesetzt, das Bier fließt in Strömen.
Théry hat einen winzigen Rückstand nach der zweiten Runde – es bleibt spannend. Noch 20km bis Start und Ziel an der Saalburg.