Deutschstunde im vierten Schuljahr, Diktate über das Ruhrgebiet. Geschichten von geheimnisvollen, nachts rot leuchtenden Landschaften aus Kohle und Stahl schreiben wir in unsere Hefte, von Landschaften, die Kinder vom Dorf nie gesehen hatten. Auch wenn es hier und da einen Schornstein gab eine Weberei und auch eine einzelne Kohlengrube- Randerscheinungen.
Aber Stahlöfen, die den Horizont einnehmen und Schlote in Reihe, aus denen Rauch quoll (quoll: schwieriges Wort) bis sich die Sonne verdunkelte – das konnte sich nur die Phantasie ausmalen. Expressionismus, lange bevor der Begriff im Kunstunterricht fiel.
Unsere Räder fuhren durch Wiesen, der Wind kam frisch vom Atlantik und es roch allenfalls streng nach Dung. Industrie war ein Nebenschauplatz der Arbeit. Ein Schüler bedauert 1973 Menschen, die in einer solchen Welt gefangen waren. Schlimm genug, wenn man von den Staublungen aus den Siedlungen hörte und den Husten beim Bäcker….
Nachrichten aus einer Welt, die noch vor 50 Jahren wie ein gigantischer Koloß wirkte, der die großen Dinge bewegte und aus der Ferne auf düstere Weise großartig und übermächtig schien. Ein Titan, unsterblich wie seine mythischen Vorbilder. Unsere Pyramiden.
Als dann später, lange Jahre nach der Deutschstunde, diese Welt an der Endhaltestelle Essen-Frohnhausen meine tägliche Umgebung wurde und ich sogar wußte, wo „Bulle“ Rahn (Sommermärchen) seinen Gebrauchtwagenhandel betrieben hatte, waren es Reste des großen Bildes, die ich hier fand – großartige Fragmente, aber eben Stückwerk, letzte zuckende Kammern eines Patienten, den man verdammt weiß. Und dessen Musealisierung schon begonnen hat. Mancher Förderturm stand auf der Denkmalliste. Das Ruhrgebiet zehrte vom eigenen Mythos, während Subventionsmillarden schon damals in Beteiligungsgesellschaften flossen.
Gleichzeitig aber entdeckten meine Augen einen Zeugen aus großer Zeit Zeit: Renger Patzsch und die Ruhrgebietslandschaften. Der Photograph Albert Renger Patzsch lebte mitten in Essen, bis die Bomben seine Wohnung zerstörten und er aufs Land zog. Vorher hatte er über 10 Jahre ein immenses photographisches Zeugnis vom Ruhrgebiet und seinen Landschaften abgelegt.
Ein großes Bildwerk Von Kohle, Eisen und Stahl. Es waren die Fragmente seiner Welt , die ich aufsuchte, betrachtete und rekonstruierte. Der Krieg und die Zeit hatten aufgeräumt – die letzten Kohlegruben waren weit an den Nordsaum des Reviers gewandert mit den Kokereien, die nur noch einen Überrest an Hochöfen belieferten. Vor, im und auch nach dem Krieg kochten sie ununterbrochen ihren Stahl. Aber sie wurden weniger, fusionierten und dann, kurz vor dem Millenium, bauten die Chinesen die Westfalenhütte ab.
Es war der lange Tod dessen, was in den Erdkundebüchern die Montanindustrie hieß, das Gold des frühen 20ten Jahrhunderts. Man ist Kruppianer, man gehörte zu Hoesch oder zu Thyssen, die Titanen schufen sich ihre treuen Gefolgsleute, Generationen davon, und versorgten sie mit Siedlungswohnungen samt kleiner Gärten. Wer über Tage kam, der hatte es geschafft und meist bis zur (ordentlichen) Rente ausgesorgt. Es gab den Feierabend sogar als Siedlungsnamen. Auch wenn nichts mit unseren Maßstäben zu messen ist; es gab die Bottropper Protokolle als Berichtsform, Max von der Grün ist einer der literarischen Zeugen und Herbert Berger: der Pütt hat mich ausgespuckt.
Der große Wind der Globalisierung erhob sich und fegte Stück um Stück hinweg. Von dieser Zeche in Mühlheim, der Rosenblumendelle, steht kein Stein mehr. Ich weiß es, ich habe dort gestanden. Renger Patzsch stirbt 1966, seine Werksammlung zum Ruhrgebiet ist schon 1935 vollendet.
Reste des alten Imperiums – ein Treffen
Hie und da ist immer noch einiges übrig von dieser Welt, die sich längst nicht aufs Ruhrrevier beschränkte – sie fand dort nur ihren konsequentesten Ausdruck. Angefangen hat vieles davon um Lahn und Dill, Gegenden mit erzvorkommen. Da und dort schwimmen noch ein paar aktive Inseln im Meer der Konjunktur, Unternehmen, die über 250 jahre gewachsenesWissen in sich tragen anwenden – ich bin unterwegs zu den Resten.
Auch heute, an diesem kalten Februartag 2021 führt mich mein Weg vom Land in die Stadt, von den beinahe wilden Hügeln des Waldes zu den Halden der rückgebauten Industrie. In Zeiten des Lockdowns ist es eine einsames, fast meditatives trainieren mit dem Edelstahlrad von Marschall. Fast wie ein rätselhafter fremdling wird begrüt, wer eine Bäckerei betritt, der mitten im Gewerbegebiet die Besuchher fernbleiben. Herborn an der Dill. Dann südwärts, dann östlich in die Hügel zurück.
Nach guten zwei Stunden habe ich die kleinen Hügel hinter mir, das Hinterland von Lahn und Dill bietet reichlich Möglichkeiten, sich im Februar auszubelasten. Nach den Kuppen und Steigungen rund um den Hohensolms geht es wieder hinab ins Tal, wo Dill und Lahn zusammenfließen: Wetzlar.
Die Straßen sind feucht und ich bin mit dem Marschall aus den Wäldern in die Neuzeit unterwegs. Ich folge der Spur der tausend Feuer, die für das Erz brannten. Zu Orten, die mich anziehen, weil an ihnen eine Geschichte begann und immer noch sichtbar ist.
Der Lahn und ihrer Umgebung ist das Schicksal des Ruhrgebiets erspart geblieben, das noch Fürst Pückler um 1830 als eine der lieblichsten Gegenden beschreibt, durch die er je gekommen sei. Die Hütten waren schonda, es lag nur keine Kohle unter der Rasenkante. Industrie gab es immer noch genug. Es war nur keine so absolute Mobilmachung, die Dimensionen blieben moderat.
Denn noch bevor es Krupp gab, gab es Buderus, eine Familie aus Wetzlar. Sie hatte sich seit dem 18ten Jahrhundert Schürfrechte an Dill und Lahn gesichert und damit den Zugang zum einzigen Reichtum dieser Gegend : Erz, das aus winzigen Stollen gewonnen wurden. Mit den Öfen und „Hämmern“ die unter der Regie der Familie Buderus Gußeisen und später Stahl erzeugten, erweiterte sich die Produktion – das ganze Tal der Lahn war eine Buderus-Industrie. An die hundert Hütten kochten zwichen Dill und Lahn.
Buderus wuchs und gedieh fast 250 Jahre lang, aus Hütten wurden Stahlwerke und es kamen Werkssiedlungen nach preußischem Muster hinzu, genau solche, wie Renger-Patzsch sie immer wieder im Vordergrund seiner Bilder zeigt.
Hier Exemplare der Aßlarer Hütte, sorgfältig aufgereiht, mit Gartenschuppen. Als ich ein letztes Bild mache geht ein Fenster auf. Ich verschwinde.
Etwas weiter, glich um die Ecke an einem alten Fahrradschuppen. Drei alte vergessene Räder hängen müde an ihren überflüssigen Schlössern. Der Hinterhof des Gebäudes verwahrlost langsam. Nur eine Fotokopie am Eingang belegt die Obsoleszenz des Ortes, der einmal die Verwaltung des Betriebs war.
Gegenüber liegt die Hütte – das letzte Stahlwerk der Region. Aus Metallschrott wird Edelstahl. Daneben eine große Feuerwehrhalle und die Beruflichen sehen mir über die Bahngleise zu. Es ist ein langweiliger Samstagnachmittag – ich weiß – und eigentlich treibt sich niemand hier herum, denn diese Sackgasse führt nur noch zur Anlieferung des Ikea Geländes.
Geleise, Gestrüpp, dahinter die Hütte, ein langes, blasses Gebäude mit ein paar Schornsteinen. Eher niedrig, kaum größer als das Ikea Lager nebenan , das die Stelle ehemaliger Werkteile eingenommen hat. Wetzlar nach dem Regen- wie frisch geschleift liegen Areale brach oder dienen als Zwischenlager. Wer glaubt, Wetzlar sei eine Stadt der Optik, irrt. Der Boden ist eine riesige Platte aus Guß. Der Guß hat einen Sprung.
Wie ein Puppenkabinett erhebt sich die Altstadt. Sie erschafft eine Gemütlichhkeit, der man seit einem Jahr nicht mehr recht trauen kann, eine Geborgenheit die attraktiv, aber mehr Fassade als Leben ist – mehr bürgerlicher Schein als bürgerliches Leben. Strickwaren, Bilderrahmen und dritte Welt Artikel sind keine langfristige Antwort. Nicht zu denken, wäre alles irgendwann ein Buyout, für dessen Besuch Eintritt zu zahlen ist. Wozu ein Disneyland bauen, wenn man eines ready to use findet?
Ich ziehe wieder zum Städele hinaus, in der Hoffnung, meine Ahnung bleibt nur ein huschender Alb. Jetzt lasst uns Tankstellen niederreißen, in einer Welt aus Fahrrädern brauchen wir sie nicht mehr. Mit der Hupe weist mich der Hintermann zurecht. Noch 50km.
Schreib endlich ein Buch, einen Roman. Du kannst es besser als so manche, die meinen, es zu können. Ich werde ein gespannter Leser sein!
Ach Dietmar,
das Lebenm ist ein Roman, der Rest ist oft verlorene Liebesmüh. Aber Danke für den Lorbeer – wenn mich jemand auffordert werde ich liefern.