300 am 1 Mai – eine Reise ins Binger Loch

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Die Segel-Törn durch Mittelhessen ist vorbei, der Alltag kommt zurück, der Frühling macht Fortschritte. Jetzt die Überlegung für die nächste Stufe zum großen 600. Wieder 300 Kilometer,  also wieder die maximale Tagesdistanz fahren, die für die Superrandonnée realistisch scheint. Eine kleine Simulation.

Diese auf der Strecke selbst– bisher war ich nur bis zum großen Feldberg gekommen- , jetzt also mit Fortsetzung zum Rhein und darüber hinaus. Route zusammenstellen, den offiziellen Track zur hand nehmen. 5000 Höhenmeter auf 300 Kilometer verteilen, das bedeutet viele, zahllose Anstiege.

Die  Grundausdauer für die Distanz allein reicht nicht, es muß Standfestigkeit für die immer neuen Anstiege hinzukommen. Eine Technik, ein Rhythmus, der gefunden werden will. Die Kenntnis der Strecke hilft Kräfte einzuteilen. Also nehme ich so viel davon mit, wie geht…  

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Das blaue Rad steht bereit. Nichts mußte verändert werden nach dem letzten Ritt. Sitzposition stimmt, Hände und Muskulatur ohne Folgeerscheinungen, auch der Sattel passt. Keine Rückenschmerzen oder Nackenprobleme, das sind die sensiblen Bereiche, die eine zu große Überhöhung  verraten würden. Mein Gerüst ist also der Aufgabe allmählich angepasst.

Es wird ein mittelwarmer , garantiert trockener erster Mai. Ein Tag, an dem nur Tankstellen und Imbißbuden öffnen,  die in Coronazeiten überleben. Eine Anfahrt in aller Ruhe, es ist frisch, doch sehr erträglich, genau wie die Windverhältnisse. Sehr gut für den Energieverbrauch,  denn jedes Grad weniger muß der Körper im kühlen Wind kompensieren. Heute kann die volle Energie in Bewegung umgesetzt werden….

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Hinter Bad Camberg von der B8 abzweigen und schon beginnen die sanften Steigungsmeter .Ernst wird es hinter Wüstems, da bekommt die Steigung schon Charakter. Eine Stunde sollte es dauern bis zum Gipfelkreuz, oben in den Tannen. Fahrer kommen mir entgegen, man grüßt.  

Ohne besondere Vorkommnisse die bekannte Steigung über Oberreifenberg, seiner TausendjahrHalle mit der „Pause“  nach der letzten Rampe am Ortsausgang,  läßt sich gut dosieren. Dosieren ist die halbe Miete. Das 30er Kettenblatt kommt  zum Einsatz, gleichmäßig rund kurbeln .

An meinem Hausberg habe einmal den Unterschied zum „großen Gang“ überschlagen: vielleicht 1, zwei Minuten auf die Bestzeit von 11 Minuten. Für diesen recht geringen Zeitverlust bleibt der Puls im sanft-orangenen bereich.  Sich nicht schon im ersten Drittel aus Selbstüberschätzung verausgaben.

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Der Feldberg  ist mäßig besucht, gut , in mir werden die Motorradfahrer heute kein Opfer finden . Radfahrer tröpfeln ein. Kein Tag für eine kühle Maibowle. Jacke zu und Kurs West, vom Berg ab runter über Ehlhausen (wo ich unangenehme Gegensteigungen entdecke) und durch Obstblüte bis  Niedernhausen ins Tal. Leider keine Tankstelle in Sicht, kein Imbiß,  der hungernde Magen muß sich bis  Taunusstein gedulden.

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Westwärts. Gleichmäßige Aufwärtsbewegung mit kleinen, mittelscharfen Einschüben, dann ist das kilometerlange Plateau von Taunusstein und seinen Vorortketten erreicht. Es ist eine Schlafstättenurbanität in Nähe der Zubringer, gelegen am kühlen Nordhang. Nach Westen hin liegt Frankfurt, nach Süden Wiesbaden.  Das meiste an dieser Zwischenstadt wirkt ehrlich gesagt langweilig. Dafür ist die Laune an der eingesessenen Total Tankstelle gehoben bis lustig.

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Man erkennt das Alter von Straßentankstellen schnell an der  Vegetation rundum, die schon lange das Kommen und Gehen der Automobile betrachtet. Drinnen dann mit Maske alles, was das ausgehungerte Herz begehrt.  

1Knoppers Nußriegel

1 Snickersdoppel

Croissant mit Schinken und Käse

Belegtes Baguette,

1 Espresso zuvor und 1er danach –

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Denn hier, nach der Vorstadt, beginnen die einsamen Kilometer durch die Wildnis des Mittelrheintaunus. Bald nach Riccis Pizzeria (seit 1974) geht es links hoch auf den Kamm. Dort den geschlossene Freizeitpark des „Wunderland“ (welche  Wunder?) gestreift und bald darauf geht es holprig abwärts – in einem größeren Talkessel liegt Bierstadt, Ein Sendeturm krönt das Panorama. Dieses auf –und ab wird sich wiederholen, einige male. Am markantesten ist die Kerbe nach Fischbach und nach dem Dörflein heißt es fleißig wieder einen möglichst kleinen Gang finden. Trotz der Kalorien aus Taunusstadt hat der Anstieg Spuren hinterlassen.

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Aber oben wartet  Erlösung ; ein himbeerrotes Cabrio zieht vorbei, es geht endlich viele lange Kilometer hinunter , noch eine Kreuzung und das Wispertal ist erreicht. Man läßt sich treiben, trinkt und ißt im Fahren und nutzt das Gefälle,  um Meilen zu machen…. Eine Herde Hischkühe zieht über die Straße und verschwidnet im dichten Wald am Gegenhang. Rheintaunus – hier gibt es noch Bären und Auerochsen.

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Die ganze Randonnée le Rheingold 600 dreht sich eigentlich um diesen langen Kamm, der  nordsüdwärts vom breiten Band des Rheins eingekerbt wird in millionen Jahren Kleinarbeit. Diese Seite Taunus, die andere der Hunsrück. Der Rhein ist nahe, aber noch nicht in Sicht – er wird erst über den Presberg  erreicht.

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Dieser Presberg ist ein hübscher, hell asphaltierter Anstieg von etwas mehr als 4 Kilometern. Das Band der Straße ist frisch von weißen Linien gesäumt, Akazien wachsen hier. Viele Autos und jetzt auch Motorräder, die hier Wochenendmeisterschaften austragen. Leistung lohnt sich am Berg doppelt.

Bei mir ging es vorsichtig auf dem 30er Blatt hinein, warten bis sich alles synchronisiert, vom Abfahrts – in den Aufstiegsmodus übergeht. Dann nach der ersten großen Doppelkehre das 42er prüfen und für gut befinden. Schon ist der Waldrand zu sehen . Doch noch ein mehrhundertmetriges Stück Freifläche bis zum Ortsschild. Wind von Nordost. Das letzte große Hindernis vor dem Rheingau

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Presberg, da wärest Du.

Helles Grün, lange Geraden, Wellen durch den Forst. Ausruhen und genießen, gleich kommt der große Strom. Zweihundert stünden jetzt auf dem Zähler, ein Drittel der gesamten Strecke. Jetzt sind es nur 150, Halbzeit für heute.

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Ich kürze ab und bewahre mir die Weinberge für den Brevet auf. Als Belohnung . Kaltes Tal, deutlicher Luftstrom (gleich werde ich gegen ihn ankämpfen). Dorthinten schon die Fähre, die quer zum graublauen Band steht. Kurz vor Drei erst,  alles ist gut….

Das Binger Loch

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Nichts ist gut. Der Wind ist eisig, ein paar Familien irren eistragend durch die Innenstadt. Eine Fußgängerzone. Blühende Weinstadt an der Nahemündung, Parterre in erster Lage, beste Lage, hervorragend sortierte Fachgeschäfte. Es war einmal. Ich will nur eine echte schöne Pommes, salzig und mit Mayonnaise. Die alten Neonleuchtschriften sind tot, abkgeklemmt. Bunte Folien aus dem Plotter zieren die Schaufenster der Zigarrenläden, Miederwaren, Haushaltswaren und Porzellan, Schreibwaren und Geschenkartikel, alles fürs Kind.

Mindestens drei Kirchen zähle ich rund um die Nahemündung. Ein Laden voller Schulranzen direkt neben dem arabischen Imbiß meiner Wahl. Man nimmt, was man kriegen kann.

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Man bekommt keine Pommes mehr, kein schönes Schnitzel, keine ordentliche Bratwurst. Drei Sorten Fettfleisch vom Spieß, (sehr)stark gewürzt mit Beilagen. Wenigstens Minzblätter im Tee.

Immer noch lecken sie im kalten Wind an riesigen Eisbechern, feiern den ersten Mai. Die Lastschiffe bullern in der Kurve des Binger Lochs, Züge rauschen vorbei – Vibration und Dissonanz. Ich höre sie noch durch den Wald, während ich auf der Suche nach dem kleinen Weg bin, der nach oben führt. Da ist endlich der Track. Infraschall läßt das schöne Rheintal erbeben, Rüdesheim gegenüber ist nur ein schäbiger Rest bundesrepublikanischer Ausflugsseligkeit. Als die Väter noch Asbach Uralt tranken.  

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Steiler Anstieg mit vollem Magen. Dann eine Pause und flacher – ist hier schon oben? Nein. Eine Waldwirtschaft, ein Parkplatz, wieder das kleinste Blatt. Wanderer steigen ein  – und aus. Zum bike point und zurück. Noch immer nicht oben. Jetzt wird Lehrgeld gezahlt, während sich ein fettig-würziger Geschmack im Mund breitmacht.

Eine endlose Gerade aufwärts, es knackt hinter mir: das war die Schaltung eines Sportfreundes im Vereinstrikot. Seine Carbonräder mahlen über den Asphalt. Kurzer Gruß, anerkennender Blick zurück.

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Unser Rhythmus ist gleich, er braucht zwei Zähne weniger und entschwindet als Punkt ganz langsam in der Kulisse. Es nimmt kein Ende.

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Es nimmt doch ein Ende – es heißt Lauscherhütte, ein Forsthaus mit Parkplatz. Hier eine Maibowle mit echtem Waldmeister. Derzeit leider geschlossen. 500 Höhenmeter die ich unterschätzt habe, der Einstieg in den Hunsrück.

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Vom Hunsrück werde ich nur einen Rand sehen, gleich, in zehn Kilometern drehe ich nordwärts hinter Daxweiler, um über Rheinböllen und Sankt Goar ins Tal zu finden. In Rheinböllen ignoriere ich angewidert die Camperschlange am Burger King zwischen Erotic Shops und LKW -parkplätzen. Stattdessen toppifrutti aus der Tasche

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Adios Rheinböllen.

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Vielleicht kommt noch etwas im Rheintal. Aber das Tal ist noch einige Ansteige entfernt. In der kalten Sonne bei kaltem Nordwest. Kinder zwischen Rohbauten kleiner Dörfer. Schräge kalte Sonne und Hochwasserbehälter

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Im Tal aber kommt nichts mehr ausser Gegenwind: 30 Kilometer bis Koblenz . Sogenannte Charakterschmiede. Zum Glück finde ich noch die kleinen Cocktailtomaten und das Schinken-Cäse Croissant aus Taunusstein.  So geht es durch den einsamen maienabend, nur hier und da vereinzelte Jugend oder ein vereinzeltes gartenfeuer im vertrauten Kreis. Hinter dem Rhein noch liebliche (weil bekannte) 50 bis ins Ziel, der erste Mai als Tag des Spiels und der Erholung. Und der Grundlagenausdauer. Der Nassauer Tankstellengehilfe hat die maschinen schon abgeschlatet, die Auslagen weggepackt. 1x exklusive Fruchtgummis. In der nächsten Woche mache ich was Kürzeres, ich schwöre.

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Gegenüber wird der bergrutsch gesichert, der die bahnlinie lahmlegte. Kleine bunte Punkte im Hang: Alpinisten bei der Arbeit. Bilanz: Eine Pommes, eine echte Kartoffelpommes  wird sich nicht finden, weder für Geld noch gute Worte. ich merke mir die Lektion. Immer genug Energie nachführen, weiter Anstiege üben, um dort kraft zu sparen, reserven schonen. Ich werde gleich völlig erschöpft sein, leer – aber auch das ist Training.

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2 Antworten zu 300 am 1 Mai – eine Reise ins Binger Loch

  1. Luisa schreibt:

    Es ist mir eine Freude, deine Texte zu lesen.
    Ausdauersport, Strategie, dazwische Nostalgie und ein bisschen Dystopie.
    Abenteuer vor der Haustuer, ohne Inszenierung. Einfach echt.
    Dankeschoen!

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