Hamburg-Berlin 21: ein Zeitfahren! – B  Die unsichtbare Wand

b21

Da sind so kleine Details, die einen fangen. Der kleine Teller aus altem Porzellan, auf dem das selbstgestrichene Schmalzbrot liegt. Die offenbar etwas dickere Bockwurst, die sie hier haben. Perleberg, Berliner Straße . Hundertvierzig Kilometer sind es jetzt, hundertfünfundzwanzig liegen vor mir. Ich kaue langsam und schlucke den Cappuccino und packe noch ein Salamibaguette für später hinzu. Wasser nicht vergessen.  

Draußen parken Laster, die ihre vorgeschriebene Rast an der alten Transitroute von Hamburg nach Berlin halten. Dahinter wartet die alte Landstraße, die B5.

ba2Nach zehn Minuten sitze ich auf dem Rad und beuge mich wieder dem Wind, und als ich die Straße überqueren will, kommt dieses eigenartige Brummen, fast wie von einem Kreisel: es ist ein weißes Velomobil mit einem silbernen Punkt, das auf mich zuschießt; ich habe nicht einmal Zeit, die Kamera zu ziehen, so schnell rauscht es vorbei. Jetzt werden sie also vorbeiziehen, meine einzigen Begleiter auf der B5, hier spielen sie ihren vollen Vorteil aus, keine Richtungswechsel, keine Belagwechsel oder Ortsdurchfahrten. Für mich geht es nur um Radweg oder nicht, um den Weg mit maximaler Deckung.  

b3Dann erwische ich doch noch ein bronzenes Geschoß, noch eines kommt und dann herrscht Ruhe auf der B5. Ich bin bald wieder in meinem Takt, die grobe Richtung der Strecke ist Ost /Südost. Genau gegen den Wind,die Fahnen und Windräder zeigen es deutlich, wenn ich den Kopf hebe.

Es ist ein Fahren an der Schwelle, etwas, bei dem man keine störenden Details möchte, denn es ist hart genug. Sehe ich eine Hecke links der Straße gehe ich also auf den Radweg,  der niedriger als die Chaussee liegt. Die Alleebäume verlieren Früchte,  strichweise Eicheln, dann wieder nur Blätter und plötzlich auch endlos viele Bucheckern, samt ihrer stachligen Hülsen.

Meine Position wechselt von den Bremsgriffen – nennen sich Aero, ihr Vorzug aber ist das Fehlen störender Kabel, man kann sie besser umfassen –  zum Unterlenker und wieder zurück. Eigentlich  sehe ich mehr oder weniger nur auf den Asphalt, die drei Meter vor mir sind mein Aktionsraum, aus dem ich hin und wieder den Blick aufrichte, zur Allee, dem Blau und dem Wind.

Eine stachlige Bucheckernschale verkeilt sich in der Gabel, etwas Grünes blitzt auf,  ich fahre mit dem Handschuhballen über den Vorderreifen. Stop. Scheint  nichts drin zu stecken aber es reicht mir: ich wechsle definitiv auf die Straße – kaumVerkehr und gute Sicht

b5Im Waldstück bei Gumtow dann spüre ich das weiche Vorderrad, als ich in den Wiegetritt gehe. Also doch. Zwei Schläuche habe ich dabei, den einen direkt in der Rahmentasche. Ich habe ihn  in der Hand, bevor das Rad an der Bake lehnt.

b6Ein schwacher Trost wie leicht  der Conti von der Felge geht. Dann die Kraft der langen Pumpe. Sie schnellt nicht zurück, der lange Kolben braucht weniger Hübe als die kleinen Modelle: 8 Minuten hat die Operation gedauert, vorsichtig spüre ich dem Mantel nach, ob noch etwas zu finden ist. Nichts, hoffentlich.

b4Die B5 ist längst nicht so eben wie man denkt, es zieht sich in langen gedehnten Wellen an den alten Meilensteinen vorbei. Schlimm ist es vor allem dort, wo es Windräder gibt, dann schrumpft das Sichtfeld auf die weiße Linie, mal rauher mal glatter und es geht nur noch darum, die Kurbel im Takt zu halten. Alle paar Kilometer einen Schluck, wenn es gerade wieder etwas abwärts geht und in Gang 5, bis es doch wieder zu schwer ist. Wieder und wieder. 

Es ist ein leuchtender Tag, niemand hupt mich an, niemand lenkt mich ab, ich spüre keinen störenden Schmerz, die Kurbel passt. Es ist nur der ewig wiederkehrende Schmerz der Muskelkontraktion, rechts, links, rechts, links. Mal zähle ich zehn links, zehn rechts, damit die Belastung gleich bleibt und solange ich zählen kann, bin ich noch nicht im roten Bereich. Jedes Waldstück ist ein Ufer, das man erreichen möchte. Dorthin gelangt der Wind nicht. Der Wind ist eine Wand die zurückweicht und nie endet. Bis man sie durchbrochen hat. 

b92Der neue Schlauch hält die Luft,das Mißgeschick bald vergessen. Erinnerungen an altbekannte Orte. Jede Stunde einen Riegel nachschieben und ein paar Schluck nehmen,bisher passt die Methode. Den Tritt alle Minuten leicht verändern, ein Stück nach hinten auf dem Sattel, ein wenig mehr von oben treten, wieder den Unterlenker greifen. Alle Diskussionen der Aerodynamik am Rad sind überflüssig: die Aerodynamik bist Du. Wer es schafft, das Verhältnis von Kraft und Streckung zu verbessern ist der Gewinner. Dafür haben sie die Auflieger konstruiert, die so viele nutzen. Ich fühle mich nicht benachteiligt – zehn Minuten Unterlenker sind hart genug.

Kyritz passiert, überall gepflastert, der Weg durch diese Stadt taugt nichts – zwei Kilometer Pflastersteine,  die Einwohner lieben es laut im Stadtverkehr. .

Dann Agrarflughafen Neustadt passiert, der Asphalt flüstert jetzt, so leise sind sie noch nie gerollt die 5000er,  jede Oberflächenveränderungen teilen sie mir mit. Meine Hände kribbeln noch vom Kyritzer Pflaster.  

b7Dann ein letztes Velomobil, nicht mehr so schnell wie die vorigen.

Dann Segeletz und die kleine Baustelle – 500 Meter Sperrung mit grobem Schotter. Nicht weiter schlimm, am Kirchturm ist es halb drei .

ag3Halb drei bei Kilometer 200, jetzt brauche ich gute Beine, die gelben Schilder nach Berlin verwirren nur, die Meilensteine auch, sie rechnen die Strecke zum roten Rathaus oder meinetwegen zum Brandenburger Tor. Trotzdem wird es nicht leicht, die 65 Kilometer in 140 Minuten zu schaffen. Weitermachen, es geht auf Friesack zu,

b9Im nächsten Waldstück ziehe ich das Superbaguette mit der Tomatenrucolamischung, und es schmeckt! Salzig und würzig, total kauft gute Salami ein.  Leider habe ich nicht mehr genug Wasser, um nachzuspülen – also jetzt den Apfel nehmen: gleich ist Friesack da.

Über die Kreuzung, an der Sielaff  seine Bilder machte und sich die beiden Varianten der Strecke treffen. Friede seiner Seele. Vielleicht kommt jetzt mal ein schneller Zug und zieht mich über die baumlose Pampa die nun kommt. Es kommt nur Wind, immer nur von vorn. Eine Wand und noch eine.

ba1Bis Ribbeck reichen meine Körner, dann wird es zunehmend unbehaglich. Die Kraft der Salami kommt nicht an, das powergel hilft auch nicht und meine Akkus laufen langsam aber sicher leer. Durch die Senke von Ribbeck und dann hilft nur noch das kleine Blatt.  Nur zehn Kilometer sind es bis Nauen und Nauen hat sich gemacht – schnurgerade und geteert geht es durch die Innenstadt, ich muß etwas zu trinken finden, sonst holt mich der Mann mit dem Hammer. Lieber hier 2 oder 3 Minuten lassen als für die letzten zehn Kilometer eine Viertelstunde, so mein Gedanke.

Da kommt sie, gleichhinter der Stadt, die letzte Total. Ich entscheide mich für die hässlichste aller Getränkemischungen im Regal: fritzzkola mit orange. Kontaktlos zahlen – Warum nicht?

ag6Hinaus und rein in die leere Trinkflasche, den ersten Schluck schon auf der Betonpiste, jetzt keinen Tropfen verlieren, jedes Molekül kann Dir Kraft zurückbringen.

Von der ersten dieser absurden Überführungen habe ich sie kommen sehen: ein Zehnerpulk von hinten. Freudig erwarte ich ihren Windschatten, und er kommt bald.

ag5Gemeinsam ziehen wir parallel  als Gefährte zweiter Klasse zur B5 dahin, die seit Friesack beträchtlich an Verkehr gewonnen hat. An diesem sonnigen Tag sind Cabrios unterwegs: eine letzte Spazierfahrt für das Sonntagsauto, Spritpreise hin Spritpreise her. Nauen ist die unsichtbare Grenze von Stadt und Land. Gut für Nauen, schlecht für den Radfahrer. Der Autoverkehr rollt ungestört, Radfahrer schlängeln sich Brücke um Brücke näher ans Ziel.

Für mich ist es wie ein Rehazentrum – nur auf die Linie muß ich achten, die Beine drehen wie von selbst mit. 200 Kilometer solo und dann das. Man muß es erlebt haben.

Je näher Spandau kommt, desto unterirdischer wird die unsere Verkehrsführung. Ampeln dauern Minuten, Autos nehmen uns die Vorfahrt, einer kommt beim Stopp nicht mehr aus den Pedalen und kippt um.

b88Der Tiefpunkt lauert in Dallgow Döberitz: nach einem Zickzack durch das Gewerbegebiet bahnen wir uns einen Weg durch die Menge fröhlicher Endverbraucher, die ihr Tagwerk im B5 outlet erledigt hat und nun Papiertütenschwenkend den Heimweg in die tristesse der Vorstädte antritt. Denn ein Paar Schuhe kann Dein Leben verändern.

Der nun durchwurzelte Fahrradweg ist nur noch einen Meter breit, in Zweierreihe fahren wird ein Kunststück, als uns von hinten ein Aerorad bittet.

b94Wir lassen den Fahrer durch und an der orangen Windjacke erkenne ich im Davonfahren niemand geringeren als Björn Lenhard, Größe des Ultradistanzracings. Ich schaue auf die Uhr und überschlage:  Er wird an die 9 Stunden  brauchen.Meine Hoffnungen auf die 10 sind seit Ribbeck zerschlagen und jetzt erst recht.  Wir quälen uns weiter durch die radfeindliche Welt am Rande Berlins. Straßen sind nicht zur Freude geschaffen, sondern zur Verbringung des Pendlers an seine Wirkungsstätte: merke Dir das, elender Zweiradler, während die Induktionsschleife wieder und wieder nicht auf die schmalen Reifen reagiert.  

An einer letzten, weiteren, endlosen Ampel kurz vor dem Ungetüm namens Havelpark (noch heute abreißen lassen) trennen sich unsere Wege, ihr geradeaus, ich rechts herum, am Havelpark außen lang und dann zurück zur Heerstraße.

Mein Kopf grollt, aber die Beine jubeln, das Wunder ist geschehen. Der Saft ist zurück, die Fritzzkola hat die Kohlehydrate an die richtige Stelle gebracht. ich fliege – Ihr werdet mich nicht wiedersehen, die Wand ist durchbrochen.

ag7Stur drehe und drehe ich in Gang 5 die verdammte,  überbreite Heerstraße hinunter wie Moreno Argentin die Zielgerade am Boulevard de Liège, finde einen Weg zur parallelen Weinmeistrerstraße, den kleinen Hügel nach Gatow bügle ich auf dem großen Blatt weg und komme mit vollem Tempo ins Ziel.

ag8Ein Bier wartet auf mich.

 

Dieser Beitrag wurde unter Spleen & Ideal abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Hamburg-Berlin 21: ein Zeitfahren! – B  Die unsichtbare Wand

  1. Takeshi schreibt:

    Ich liebe die Pappe mit den Kilometerangaben. Danke!

  2. crispsanders schreibt:

    Bitte gern! Die Meilensteine und die gelben Schilder machen einen völlig kirre. 25km Schritte auf der Pappe sind da viel besser. Auch die Franzosen haben an ihren Straßen alle realistischen Entfernungsangaben entfernt (und vermutlich geschreddert) . .

  3. Ivan schreibt:

    Immer wieder schön hier zu lesen. Vielen Dank für Deinen Blog.

Hinterlasse eine Antwort zu Takeshi Antwort abbrechen