HH – Berlin, das lange Zeitfahren – ein Rückblick in Trainingswissenschaft

Extrem langer, populärwissenschaftlicher Text.

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Erst später, einige Tage nachdem ich vom Zeitfahren Hamburg –Berlin zurück war, habe ich mich an die Analyse gemacht. Die Analyse der einzelnen Momente dieses langen, leuchtenden Einzelzeitfahrens gegen den Wind.

Endlich einmal vorbereitet sein

Ich habe jetzt nicht intensiv gesucht, keine Bibliotheken durchforstet oder sportwissenschaftlich geforscht. Aber ich habe ein paar Anhaltspunkte gefunden, und vielleicht ist es etwas wert, wenn ich sie hier einmal aufschreibe. Es gibt nicht viele Ratgeber für solche Veranstaltungen, es gibt nicht viele Pläne, wie man ein Einzelzeitfahren von 250 Kilometern vorbereitet.  Und da ich nicht in den MetafaceBuch Erfahrungsgruppen vom unsupported ultracycling bin, muß ich Druckwerke suchen.

Manchmal findet man Artikel in Zeitschriften, beispielsweise für den ersten Bergmarathon, oder den ersten Marathon überhaupt, aber das ist vermutlich nicht vergleichbar. Hier ging es um ein einzelzeitfahren über zehn Stunden im Flachland, eine Dauerleistung gegen den Wind, zudem im gesetzten Alter von 56 Jahren.

Dazu findet sich konkret noch weniger Geschriebenes, das über die Erfahrung einiger Brevets und etlicher 200 Kilometer –Fahrten hinausgeht. Die schaffen schon Grundlagen und Erfahrungen, die etwas wert sind, nur eine halbwegs exakte Analyse sind  nicht. Wobei: eine Wissenschaft wollen wir hier auch nicht.  Die zwei, drei Anregungen, die ich fand kamen aus der mir kaum bekannten Ecke des Triathlon Sports – das wundert nicht, baut der Triathlon ja völlig (und besonders im Zeitfahren) auf der Einzelleistungen auf- Stichwort „no drafting“.

Neue Methoden

Ich erinnerte mich da schwach an eine kurze Lektüre in Joe Friels Werk zum Leistungssport im Alter.Überflogen und hastig abfotografierte seiten. Aber doch erinnert.  Mir ging es darum, zu wissen, neben extensivem Radfahrten noch wichtig wäre. Brevets fahren, Ausdauer im Sattel, Kräfte einteilen: ok, auch 2021 war ein Jahr von vielen tausenden Kilometern, wenn ich das richtig rechne.

Eine unangenehme Sache war mir aus Friels Buch (schnell u fit ab 50) noch in Erinnerung, unangenehm, weil er im Kern sagte: nicht mehr (im Sinne von: länger und weiter) fahren, sondern härter. Nicht extensiver, sondern intensiver: wer nur immer weiter fährt, wird immer langsamer. Das hört man nicht gern, aber man muß die Gesetze der Natur akzeptieren – wir werden nicht jünger und der Körper trainiert sich lieber nach unten. Die Gegenformel dazu lautet: Intervalle trainieren, den Puls immer wieder in die trainingswirksame Region bringen. Im Flachen, am Berg, egal wie egal wo. Nicht zu oft,  aber wiederholt. Sonst bilden sich die Muskeln und die die Sauerstoffaufnahmekapazitäten zurück, ganz von allein. Qualität muß zur Quantität kommen. Ich habe mir einfach die Formel 30 sek /30 sek eingeprägt und 5 Wiederholungen, wenn nicht 8. Der Grundgedanke für diese Foltermethode ist einfach – erst bei einem Puls über 130/140 (je nach Alter)  gibt es für den Körper einen Trainingsreiz. Man ist danach ganz schön platt. Wenn aber erledigt, fühlt man sich durchaus besser.DSCF1430

Eine andere Methode ist, längere Belastungen an der Schwelle zu fahren, also nicht einfach den Berg rauf, sondern 8 bis 10 Minuten hinauf, so daß es weh tut und schon fast keine Luft mehr kommt. Aber doch noch genug . Das geht ganz leicht: man wählt ein Ritzel größer als gewohnt und versucht, die ganze Zeit 90 Umdrehungen zu machen; oder man wählt ein Ritzel kleiner und versucht, den härteren Gang mit der gewohnten Umdrehungszahl bergauf zu fahren. Flach oder bergauf spielt eigentlich keine Rolle – den Effekt spürt man schnell.

Neue Erfahrungen

Ich vergaß aber nicht den Streckencharakter und dafür achte ich im flachen lieber auf eine konstant hohe Umdrehungszahl. Wenn man solche Selbstfoltern zwei- bis dreimal bei einer idyllischen Ausfahrt wiederholt, weiß man zuhause, was man getan hat.

Ich verschweige nicht: es war eine Quälerei, jedesmal wieder. Aber auch diese hat ihre Gewöhnungseffekte. Man spürt das es geht, man überlebt es und man beginnt von neuem.

Und dann kam mir noch der Veteran Jens Vogt in den Sinn: In der Woche vor dem Wettbewerb, sollst Du die die Wettbewerbsdistanz zweimal fahren. Brutal, aber er meinte hoffentlich nicht meine Altersgruppe und Distanzen von 300 Kilometer. Ich habe es bei einer Ausfahrt belassen, zweimal 250 unter der Woche bringt möglichwerweise nicht jeder unter. Aber Unrecht hat der junge Herr Vogt nicht, es hilft – denn unser Körper schafft so den Rahmen seiner Leistungsfähigkeit – er steckt die innere Grenze ab. Natürlich nur bei völliger Erholung anschließend.

Der entscheidende Monat

Alles, was ich skizziere, spielt sich einen Monat lang vor dem Zeitfahren ab, mit entsprechenden Ruhetagen, so, wie es das Wetter erlaubt und wie man sich fühlt – und völlig gesund sollte man auch sein. Sonst geht es nach hinten los. Es gibt  keine Wunder oder schlagartigen Fortschritte, am nächsten tag sitzt nicht plötzlich ein anderer Mensch auf dem Rad –   nur ein Gefühl gewisser Leichtigkeit stellt sich allmählich ein.

Und ein neues Fahren muß gelernt werden, wenn die üblichen Routen touristisch attraktive Berg- und Talbahnen sind: im Flachen wird kaum am Lenker gezogen, fast alle Kraft kommt aus den Oberschenkeln. Es ist eine konstantere Belastung   Das ist eine klare Umgewöhnung.

Ich hatte also mein Rad, meine Position und meine Frequenz gefunden. Zumindest hypothetisch. Auch die Strecke hatte ich mir im Geiste eingeteilt, sogar die ungefähren Pausenorte, also in meinem Fall Versorgungspunkte.  Die großen Unbekannten  bleiben dann noch Temperatur und Wetter dazu, ganz gleich wie vertraut man mit dem Track ist.

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Entscheidend ist aufm Platz – die Gesetze des Stoffwechsels

Eine Sache habe ich auf der Fahrt dann völlig anders gemacht, als auf anderen Touren, also beinahe: das Essen. Sonst immer mit reichlich Frühstück, wollte ich diesmal  „leichter“ starten. Ein gefülltes Croissant und ein Cappuccino sollten es 1h vor dem Start tun – weder Fettes noch Dickes noch Schweres, die Masse der Kalorien kam am Vorabend hinein. Die kleine Fronttasche war voller Riegel: entweder Frucht oder Nußmandel oder ein Proteinmix,  aber alles handliche 40 Gramm Portionen. Aus vergangenen Brevets war mir klar geworden, daß üppige Mahlzeiten zwar schöne Belohnungsrituale sind, aber bei Dauerlast manchmal nach hinten losgehen. Fette spalten sich nur langsam, komplexe Lebensmittel brauchen Verdauungszeit und kosten Kraft: der Magen arbeitet mit dem Blut, was sonst durch die Beine laufen soll. Das ist bei jedem verschieden ausgeprägt, dennoch ein Gesetz des Stoffwechsels.

Das war gar nicht so falsch,  also schon gefühlsmäßig nicht. Ich fühlte mich von Beginn an „leicht“, auch als es noch so kühl war und der Tee in der Flasche eher ein Eisgetränk. Jede Stunde ein Riegel und nachspülen. Nach drei Stunden und ein paar Minute an der Kontrolle die Flasche komplett nachfüllen, Bananen und Äpfel mitnehmen, sonst nichts. In der fünften Stunde an die Tankstelle. Wieder Flasche randvoll, warme Bockwurst mit Senf und ein dünnes Schmalzbrot. Und einmal Mr Tom als Schnellzucker.

Weil es wirklich zu schön aussah, das SalamiRucolaTomatenBaguette für die Trikottasche. Ein Fehler? Hier hätte ich lieber die kleine Colaflasche ins Trikot stecken sollen,  für  „letzte“ 120 Kilometer sind ein 750ml Bidon  (und ein Apfel) einfach zu wenig Flüssigkeit.

Aber das spürt man zunächst gar nicht. Man arbeitet weiter, findet sein Tempo, kämpft gegen Wellen und Wind und gepflasterte Ortsdurchfahrten. Ist froh, das alles hält,  daß auch die Position keine Beschwerden macht,  Sattel, Lenker, Nacken: alles ok. Nur die gewohnten Qualen der Anstrengung.  Nach acht Stunden bei Kilometer 210 (links geht es nach Barsikow)  gebe ich der Versuchung nach und beginne mit dem Baguette – es schmeckt so gut und schön würzig. Ich hätte bei der Hälfte aufhören sollen, auch wenn ich dem Magen mit dem Apfel die Arbeit erleichtere war es doch üppig. Friesack durchfahren, an Rohrlack vorbei.

Über die Grenze

Auf einer Pappe habe ich die 25 Kilometer Abschnitte markiert: jeweils eine gute Stunde Fahrt. Bei Ribbeck komme ich an Kilometer 225 vorbei – nur lächerliche zehn bis Nauen, aber die werden zur Qual, Ist es der Wind? Die Steigung kann es nicht sein. Es wird immer schwerer, den Tritt zu halten, dann geht es nicht mehr.  Das Baguette war gut, aber ein Fehler – ich spüre jetzt Durst , sehe, daß ich nichts mehr  zu trinken habe, was dringend nötig wäre. Man ist im Oktober nicht ausgedorrt, es läuft kein Schweiß die Stirn hinab,  aber Flüssigkeit verliert man doch ; 25 Kilometer vor dem Ziel treffe ich die richtige Entscheidung: schnelle fritzzkola plus orange um die vielen Kalorien ins Blut zu tragen. 3 Minuten stop statt eine Stunde Hungerast.ac7

Feinkost für Fernfahrer

Später, nachdem alles geschafft ist : Im Netz fische ich eine Studie. Habe sie schon wieder verlegt, kann aber das Gröbste noich aufsagen: eine Universität misst mit einer gruppe Probanden verschiedene Ernährungsstrategien für Zeitfahren. Eine Gruppenstudie. Sie vergleichen optimierte Nahrung mit „Lieblingsnahrung“, also dem., was üblicherweise unterwegs auf dem Rad genommen wird.  Also in meinem Fall Wurst/Baguette vs Riegel und trinken. Sie finden recht deutlich einen Zusammenhang zwischen optimierter Ernährung und Dauerbelastung. Ich kann mir die Zahlen gut merken: 90 Gramm Kohlehydrate kann ein trainierter Körper in einer Stunde verstoffwechseln und einen Liter Flüssigkeit muß er dabei zuführen. Dann arbeitet er im Optimum, greift seine Speicher nicht an und gewinnt über die gesamte Vergleichsgruppe an Dauertempo gegenüber den „Gewohnheitsessern“. Es kommt darauf an, aus Kohlehydraten Energie zu machen.

Da war ich weit von entfernt. Aber ehrlich gesagt, kann ich mir auch zehn Liter in zehn Stunden nicht so recht vorstellen – denn so gesehen, hätte ich ja mit meinen 4 Flaschen und 2 Cappuccino fast verdursten müssen – da komme ich gerade mal auf 5. Sagen wir also 750ml pro Stunde als Kompromiß, dann heißt das: immer 2 Flaschen am Rad. Die Riegel waren dagegen ganz richtig. Eine Mischung aus langen und kurzen Kohlehydraten empfohlen – Fructose und Maltodextrin und vielleicht ein paar Mineralstoffe; schmeckt wahrscheinlich eintönig, soll aber optimal sein – es gibt ja so viele Riegel, das man auch etwas Eigenes zusammenstellen kann. „Meine“ Rossmann Riegel haben mich jedenfalls 5 Stunden getragen. Ich verstehe den Gedanken.

Die gute Kraft

Der Sinn der Exerzitien: immer die schnell verfügbaren Kohlehydratreserven nachschieben, nie in die (tiefe) Kohlehydratschuld kommen, also möglichst keine Speicher angreifen. Die Idee der Fettverbrennung, oft in Brevetkreisen erwähnt,  ist vermutlich ein Irrweg. Wenn der Körper auf Fettverbrennung umschaltet, umschalten muß! (auch wenn er das nie ganz tut),  läuft der Motor zwar weiter, liefert aber nicht mehr die gewünschte Kraft, das Tempo sinkt unweigerlich immer mehr. So erkläre ich mir meinen Ast von Stunde 9 an – es dauerte eine halbe Stunde –  und dann lief es auf einmal wieder rund.

Man wird zwar alt, kann aber (doch noch) etwas lernen. Und es dann besser machen.  Recht geben muß ich am Schluß dem alten Hasen Vogt – die Distanz – mindestens zwei Drittel davon –  müssen in der Woche vor dem Ereignis gefahren werden,  dann weiß unser Körper, was noch vor ihm liegt…

Hebe ich mir für das nächste lange Zeitfahren auf.

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5 Antworten zu HH – Berlin, das lange Zeitfahren – ein Rückblick in Trainingswissenschaft

  1. Luisa schreibt:

    Sehr interessant.
    Beim Berglaufen habe ich eher gehört, dass die längsten Wochendistanzen zwei oder besser drei Wochen vor dem Wettkampf liegen sollten. So gibt man dem Körper noch genügend Zeit, erholt anzutreten. Ob das in der anderen Art der Belastung begründet liegt?
    Für 2022 habe ich mir einen 50 Meilenlauf über drei Gebirgsketten vorgenommen – bis dahin gilt es noch eine Menge Trainingshypothesen auszuprobieren.
    Viele Grüße aus Kanada!

  2. crispsanders schreibt:

    Viel Glück beim Erproben.
    Sicher sind viele Dinge individuell und das Laufen belastet Gelenke und Körper ja in noch anderem Maße – ein Grund, weshalb ich keinen Laufsport mache. Der erwähnte Friel führt überigens ein gutes Blog mit vielen Ideen für Läufer (er kommt „von der Mittelstrecke – Langstrecke“) .; jenseits der Fünfzig wird nur alle drei Tage hartes Training empfohlen und dazwischen Erholungstraining . . . . .
    Letztlich kennen aber nur wir selbst undsere Möglichkeiten.

  3. randonneurdidier schreibt:

    Hi Christoph, die Erkenntnisse sind nicht ganz neu. Nur mit mit laaaang und langsam wird man nicht schneller. Man hält nur besser durch. Beim Zeitfahren will man aber eben auch schneller werden. Also sind Intensiveinheiten im Training wichtig. Für die Power. Und zum Thema Ernährung gibt es wohl reichlich Mythen. Eins ist sicher: Die typische Brevet-Pausen-Futterei – Würstchen, Baguette etc. mag der Psyche helfen, ist aber ernährungsphysiologisch „kontraproduktiv“. Ein vernünftiger Mix von langen und kurzen Kohlenhydraten plus Eiweiß. So machen das die Ultrasportler. Und trinken, trinken, und das Salz, die Mineralien nicht vergessen.

    Genieße die Zeit. Viel schneller wirst Du nicht mehr auf langen Distanzen werden. Der altersbedingte Leistungsschwund läßt sich nur verzögern, nicht aber verhindern.

  4. crispsanders schreibt:

    Gebe dem Alterspräsidenten völlig recht. Aber der Versuch hat sich gelohnt, ich unterfordere mich täglich.

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