Werkstätten und Weihnachtsbaumplantagen – Wuppertal 200 – November 2021

ab4

 

20 November 2021

Zwei Wochen nach dem Drachenfels Tag wird der November seinem Ruf gerecht. Trüb, neblig, möglicherweise nieselnd. Wieder ein Start im Tal der Webstühle, diesmal zu einem „gewerteten“ Brevet, diesmal auf einem anonymen Parkplatz. Wir starten in Corona Abständen zur Kurzdistanz unter den Brevets – innerhalb einer Stunde gehen um die  20 Starter auf die Strecke.

aa1Die meisten sind schon seit 7h30 unterwegs, als ich den Wagen abstelle und das Krautscheid auspacke. Die Brevetkarten werden aus dem Kofferraum eines Citren Xantia ausgehändigt. Noch nicht ganz halb neun und ich habe immer noch keinen Kaffee. Mit einem schwarzen Fineliner trage ich die Kontrollpunkte, die Andreas mir diktiert auf der Brevekarte ein, samt Kilometerzahl. Nur vier Kontrollen: Dahl im Vollmetal, Menden Esso, Ascheberg am Wendepunkt hoch oben im Münsterland und die Zielflagge ein Grill an der Heckinghauser Straße in Wuppertal. Ziemlich genau dort, wo wir vor zwei Wochen zum Drachenfels fuhren.Gruß und Formalien erledigt – jetzt zur Tankstelle hinter der nächsten Kreuzung.

Kurzer Überblick

Dieser 200km Brevet hat einen ganz eigenen „Charakter“, ich fuhr ihn einst mit dem Genossen Roy auf dessen Colnago Bititanio. Erst nimmt er sich ein paar ländliche Gebiete samt reichlich Hügeln vor, dann stürzt er hinunter zur ersten Kontrolle ins Vollmetal. Von dort geht es mit Bergprüfung hinauf über die A45 zum höchsten Punkt der Strecke. Es folgen von Hohenlimburg aus die Werkstättenlandschaften des Lennetals: Iserlohn, später Menden und Fröndenberg.

ad1Die Täler werden bei Fröndebnberg endgültig verlassen, wo ein letzter Anstieg aus der Ruhrebene die sogenannte Eule hinaufführt. Ab dann wartet das brettebene Münsterland.

Als einer der letzten Starter werde ich die Strecke wohl eher allein bewältigen – wenn sich nicht ein paar versprengte oder gut organisierte Gruppen einstellen. Der Rückweg führt von der Nordspitze des langen Dreiecks nach Südwesten direkt über das Ruhrgebiet. Dortmund wird durchschnitten, Herdecke durchfahren, Hattingen gestreift. Hier warten letzte Anstiege, um endlich ins Tal der Wupper zurückzukehren . Nachsehen, was sich so geändert hat.

aa2Diese Reste der großen Kunstseidenfabrik – sie trug den Namen Glanzstoff –  haben sich erhalten. Hier wurden die reißfestesten Fasern der Welt entwickelt und in Massen produziert. Noch vor drei Jahren seh ich an dieser Stelle überall Gebäude. Nun sind die meisten Werkstätten abgetragen, Millionen Backsteine vermutlich ins Recycling überführt. Ein letzter Schornstein, der symbolisch grüßt und ein kleines Eingangstor. Ausgliedern, Neuordnen, Gesundschrumpfen, schöpferisch zerstören. Das sind die Euphemismen die benutzt werden, wenn „Standortnachteile“ zu groß werden.

aa3Nur die Teppich – Staubsauger und Belagfabrik Vorwerk scheint noch mit der Zeit synchron zu gehen,  die Glanzstoff, später Enka, später Akzo, ging einen anderen Weg. Jedem, der sich einmal fragen wird, warum eine Hochkultur (und sei es nur eine schnöde technische) verschwindet kann gesagt werden, daß es nichts mitr „verlorengegangenen Know-How“ oder am „technologischen Rückstand“ lag. Es lag einfach daran, daß Umweltkosten und Energiekosten, ganz zu schweigen von den „Arbeitskosten“ anderswo auf der Welt geringer waren. Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt.

Derselbe Gedanke wird mir bei km 160 im Norden Dortmunds wieder kommen. Als Radfahrer kann man das ganz gut beschreiben, weil man es genau sieht.

Auf den Spuren von Draht und Blech

Jetzt beschreibe ich, wofür Radfahrer sonst gerühmt werden: ihre liebe zur frischen Luft und unverfälschten Natur – der Radfahrer, Dein netter Eskapist von nebenan. Durch eine neblige Suppe kurbelt er sich aus den Umtälern der Wupper hinaus, genießt die dichten Aromen uriger Tannenwälder auf moosigem Grund.Immer wieder findet der brevet schöne Nebenstrecken.

ab1Die Waldwege sind leicht verschlammt, der Belag könnte seifig sein, also Obacht, einsamer Wanderer. Es ist einen Hauch kühl, nicht nennenswert und viel Wind ist auch nicht zu spüren. Die Rotoren der neuen Energie sind heute arbeitslos. Dafür sollte die Talsperre der Ennepe wieder gefüllt sein. Schon bin ich über die Staumauer und in den nächsten Anstieg – hopp!

aa5Von oben der allfällige Kahlschlag der Forstmonokulturen 20 / 21. Dazu eher einsame Wiesenlandschaften ringsum. Auf den Höfen wird mit Holz geheizt und irgendwann riecht es schön nach Hefeteig: eine Ortschaft naht, Hunde gehen Gassi, Väter tragen weiße Tüten nach Hause.

ab11Und dann schon das Tal der Volme, ein größerer Bach, der zur rasenden Furie anwuchs, nachdem es im Sommer zu ungeheuren Wasserstürzen kam.Hier ist es noch einmal gutgegangen. Das zweite Tal der Werkstätten – langgezogen, beidseitig bebaut, dazwischen immer noch Wiesen.

An der Bäckerei=Kontrolle ein alter Randonneur mit neuem Marschall (Dortmund). Mein Krautscheid bietet paroli aus Bochum. Vor Jahren mit MTB 3fach Kurbel ausgerüstet und dafür 6 enge Gänge am hinteren Ritzel. Mir passt es heute.

ab3Wann haben wir den letzten Meisterbrief Europas in kalligraphischer Tinte ausgehändigt? Möge diese Bäckerei noch lange seinen Namen tragen! Das rege Klingeln der Ladentür spricht dafür.

Kaffee Nummer 2 und dann da kleine 32er Blatt aufgelegt. Immer schön flüssig kurbelnd den langen Wald hinauf, gleichmäßig kleine Wölkchen ausstoßen und ein, zwei Salamandern Glück in den ewigen Jagdgründen wünschen.

ab7Das Vollmetal, die zweite Factory Valley (sie führt bis Hagen) liegt hinter mir. Zustrand: stabil. Nach der  Überquerung der A 45 und eines kleineren Containersiedlung für die Subunternehmer der Firma Hochtief entdecke ich noch Menschen mit Traktoren bei der Arbeit.

ab6Sie kümmern sich um ihre Plantagen. Die Weihnachtsbaumsaison steht vor der Tür.

ab5Hier werden schon die Verkaufsstellen eingerichtet. Liebe Nordmanntanne: Ich stürze ich ins nächste Tal der Werkstätten.

Hohenlimburg ist ein sehr alter Stahlort, Hochofen und Walzwerke liegen in der sanften Mulde der Lenne und der Herr des Tals nennt sich Bilstein. Hohnelimburg beginnt mit Bilstein und endet mit Bilstein.

ac2Dazwischen eine Brücke mit dem Denkmal des Eisenbiegers , auf der Gegenseite dann der Ortsteil Letmathe. Es geht weiter mit Bilstein.

ab8Weitere Werksgebäude, die leicht unfrisch wirken, vielleicht  etwas grau geworden in den Jahren.

ac3und nach einer kleinen Kehre, in der ich die verlassene Tankstelle widererkenne,

ai7 die bemerkenswerten Siedlungshäuser der Hoesch Werke (die jetzt einen anderen Namen tragen). Im Vorbeistreifen zähle ich die Verluste: Tankstelle, Sparkasse, Lebensmittel, Apotheke. Unser rust belt?

ai2Der lange Weg aus dem Tal hinaus endet in Iserlohn. Eine richtige Stadt, mehrere Kirchen, Gebäudemischeung alt und neu – dsa kapitel Werkstätten scheint historisch. Über eine schöne Ex Bahntrasse geht es touristisch geschmeidig hindurch. Danach schon bald: Menden.

ac9Mit aufgelesenen Mitfahrern erreiche ich die KontrollTankstelle. Der Tiger im Tank. Ich finde einmal Nougatmandel und ein schlechtes Brötchen. Halte mich nicht weiter aufund empfehle mich den Mitfahrern.

Flache Kilometer durch Menden nach Fröndenberg, die Ruhr wird dort überquert und dann kommt gleich im Ort die letzte Stufe ins Münsterland;

ad2Dieser Anstieg wird Eule genannt und ein Denkmal für Radfahrer ziert die Kuppe – pilgerwürdig. Auch wenn der Track uns ein paar Meter vorher abgewunken hätte, fahre ich die Bergwertung der Ruhr ganz zuende: oben geht ein Parallelweg am Golfplatz entlang, der mich bald wieder auf den rechten track bringt.

ad3Und dann kommt die Ebene und mit ihr kilometerlange Geraden, auf denen man manchmal Schweinefarmen –ich hätte beinahe gesagt : bewundern kann- meine aber : den einen oder anderen Mitfahrer erblicken könnte. Entdeckungen ,die auf Brevets mitunter am stärksten motivieren, wenn Du weit vor Dir jemand mit dem Wind ringen siehst.

ad4Und genauso kommt es. Kurz nach dieser mustergültigen Putenmastanlage (ein passionierter Geflügelhändler hats mir verraten) stoße ich auf einen bestens ausgestatteten Mitfahrer. Graues Titan modernster Machart, eine schöne, ebenfalls graue Ausrüstung daran, die auch einen 600km Brevet ermöglicht hätte. Aber das muß jeder selbst mit sich abmachen – auf einem 200er braucht man sich nicht zum Packesel machen. Nur einen Schlauch und die Pumpe sollte man immer mitnehmen . . .

ad6ad6Schon bald die nächste Gruppe: es sind Bekannte vom Drachenfelsritt. Nur ein Defekt kann sie bremsen. Ein gutes Stück sind wir gemeinsam unterwegs, strammes Tempo bei Seitenwind – mir kommt es gerade gut zupaß auf dem langen Marsch nach Ascheberg – unserm Wendepunkt zur Halbzeit.

Doch Ascheberg erreiche ich allein;  irgendetwas hat am tubeless nicht gestimmt und wieder hieß es auf nacktem Feld anhalten– sie haben noch genug Material und Reserven, also kann ich weiter ziehen durch diesen grauen Novembertag ohne Tageszeit: es schein immer gleichdunkel oder gleichhell zu sein. Auch vom Wind gibt es immer gleich viel, mal von rechts, mal von links, mal von hinten. Eine bespannte Kutsche überhole ich  noch und dann kündigt ein Häuserriegel die Stadt an.

ae1Ascheberg, eine Art großes Rundlingsdorf mit massivem Kirchturmspfeil in der Mitte wird mich satt machen. Bald ist die Landmarke zu sehen  -Mitagszeit und Halbzeit treffen zusammen. Der lange Mittelteil dieses brevets ist wie ein großes Adagio zwischen zwei lebahften symphonischen Sätzen, oder eine Ballade zwischen zwei Hard-Bop Nummern. oder vielleicht trip-hop zwischen zwei Punkschnipseln  -was weiß ich.  .  . . .

ae3

Bald bin ich wieder auf dem Weg nach Süden. Ein heißer Kakao und Pommes liegen hinter mir. Meine Riegel halten gut vor. Seit dem Zeitfahren Hamburg – Berlin bin ich überzeugter „Diätfahrer“. Alle halbe Stunde ein wenig naschen und trinken dazu, manchmal an Koffein denken. Der Wind von seitlich vorn – aber erträglich dank Unterlenker. 40 Kilometer Münserland stehen an.

ad9Mehr werde ich nicht brauchen. Das ist ein ganz ruhiger nachmittag auf der Landstraße. Nordhausen, Cappenberg, Lünen, manchmal die entfernten Schüsse einer Jagd – das Landleben..

ai6

Danach wird es formlos, das Land wird zur Vorstadt und dann zur Stadt. Das Licht läßt nach, aber es ist noch nicht dunkel und so kann ich auch den kleinen Durchschlupf der Route im Dortmunder Norden ausfindig machen, dierekt neben der Hochschule. Eine weitere Hochschule für Wirtschaft  – 99 Cent sind weniger als ein Euro. Ein Brevet ist eigentlich eine Bildungsreise.

ai5Der Hafen Dortmunds -hier sehe ich  die vielen haushohen Container, die umgekehrte Pyramide der Dinge: was damals von hier verschifft wurde, kommt nun von dort kleinteilig zurück. Die große Lieferkette, das kleinen Einmaleins.  Fällt mir noch ein, wenn ich an diese kurzen, öden Kilometer zurückdenke : die in der Ferne wie ein Raumschiff leuchtende Arena, der größte Wirtschaftsfaktor der Stadt, bis sie eines Tages in sich zusammengefallen ist. Die Chinesen werden nicht kommen, um alte Stadien zu demontieren.

Dunkel ist es dann in Witten oder Herdecke, so genau kann ich das nicht sehen, es ist ein fließender Übergang.

ae7Letzte kurze Pause an einem richtigen Fußballstadion, durch dessen Zaun man die Jugend spielen sieht vor einem dutzend Zuschauern –  nicht weit von der wichtigsten Kreuzung der Stadt, die man daran erkennt, daß es links einen Burger King und gegenüber einen Mc Donalds gibt. Ich weiß , daß es nur noch eine Stunde ist bis Wuppertal und gleich die Bahntrasse kommt – leere meine Gerolsteiner Pulle aus Menden, während vom Platz die bekannten Rufe und Geräusche herüberkommen. Sport frei!

Dann hat mein kleiner Scheinwerfer sie auch schon gefunden, die Bahntrasse, samt ihrer etwas verzwickten Führung, über die ich mich vor drei Jahren geärgert habe. Manchmal ist ein Elefantengedächtnis eben doch gut – fehlerfrei schwinge ich mich im Volldunkel auf die Teerbahn zwischen Herdecke und Hattingen, eine gute Viertelstunde beste Tempoarbeit, bevor es die (letzten) Hügel vom Ruhrtal zur Wupper hinaufgeht. Die Ex-Bahntrasse endet: 20 Minuten ohne einen Laut – außer meinen summenden Reifen.

Alles  in völliger Dunkelheit, zwischen verstreuten Siedlungen mit Peitschenlampen an Holzmasten, die von freischwingenden, dicken Kabeln versorgt werden, bis mich irgendwo am Fuße des (letzten?) Bergs ein Bus überholt – er zeigt mir exakt, welche Steigung nun folgt. Und fast oben dann, an der Ecke der nächsten Siedlung sehe ich eine Gestalt in kurzen Hosen, die von der Haltestelle kommt. Ich höre die Stollenschuhe und rufe: „Gewonnen?“ : Jau!! – beim Fußball gewinnst Du, einen brevet fährst Du nur zuende.

Und dieses kleine nur erledige ich jetzt – es sind die letzten, die allerletzten Kilometer, die große Verkehrsader ist erreicht, das Licht der Autoscheinwerferumflutet mich. Kurz vorher in ein allerletztes Nuts gebissen, das so dringend nötig war. Weiter auf dem großen Blatt.  Nun noch über die Kuppe, den Kreisverkehr und hinunter ins Tal.  Noch ein Verfahrer – ein Mitfahrer kommt mir entgegen  – aber egal, viele Wege führen nach Barmen.

Ein schöner Tag war es nicht, aber ein gelungener  –

Und irgendwnn habe ich ihn gefunden, den richtigen Grill an der Heckinghauser Straße. Ganz schwach leuchtet die Neonlampe ungesund von der Decke. Die Betreiber, ein älteres Paar, haben das Rentenalter erreicht, und das griechische Fresko wirkt unter diesem Licht auch nicht heiterer als die leicht ranzig schimmernden Oliven. Was solls:ag1

sie haben einen Stempel und nehmen mir die Karte ab.

Werbung
Dieser Beitrag wurde unter Übers Land abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten zu Werkstätten und Weihnachtsbaumplantagen – Wuppertal 200 – November 2021

  1. randonneurdidier schreibt:

    hallo Christoph, Du entführst mich mit Deinen Berichten immer wieder in meine alte Heimat. Die Strecken, die Wege, die Orte kenne ich alle, aber Du zeigst mir, wie sie sich geändert haben, wie sie heute aussehen. Manchmal trist und traurig, Besonders das Lennetal. Trotzdem macht mich das auch wehmütig. Im Frühjahr muss ich unbedingt wieder hierher. >>> und jetzt spiele ich noch einmal den „Schulmeister“ : Der kleine Fluss heißt Volme – mit einem l. Die kleine Ortschaft bei Kierspe, am Zusammenfluss von Jubach und Volme heißt hingegen witzigerweise „Vollme“ .

    hab Dank für die Bilder und den gefühligen Text

  2. crispsanders schreibt:

    Wenn ich nächstes Wochenende wieder in Wuppertal bin, werde ich vor Ort die Orthographie prüfen, versprochen. Dann geht es hinüber nach Attendorn . . . .

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s