Neue Literatur

Beim Übergang von der analogen zur digitalen Musik- und Bildaufaufzeichnung ist das Phänomen massenhaft deutlich geworden: alte Medien wurden obsolet und mit ihnen Lese- und Speichergeräte. Würden sie völlig verschwinden, wären Träger wie Film und Vinyl nur noch eine tote Masse – denn nichts kann mehr ausgelesen werden. Für digitale Sprachen, Betriebssysteme und Codes geht dieser Wechsel noch viel schneller vonstatten.

ab1Dieses Bild zeigt den Ausschnitt eines Codex, einer illustrierten Stundenbuch des späten Mittelalters. Was uns daran fasziniert ist neben der Kunstfertigkeit sein Alter. Wirklich faszinierend aber ist die Tatsache, daß mit ein wenig Konzentration sehr vielen Betrachtern immer noch  ohne Hilfsmittel möglich ist, den Inhalt der Seite zu lesen. Sie ohne jegliche Hilfsmittel nach 600 Jahren zu entziffern.

In der gedruckten Schrift sind die Veränderungen zu vernachlässigen, die lateinische Druckschrift wird in der westlichen Hemisphäre weiterhin zur Übermittlung von Botschaften genutzt– auch Twitter und seine Homologe nutzen ihn, auch die automatische Spracherkennung bedient sich seiner Form. Denn der Entzifferungsschlüssel liegt in unserem Hirn. Das könnte durchaus unser Selbstbewußtsein steigern.

a1Die Telefonzelle – Gerippe eines sterbenden Mediums. Kaum zu glauben, daß sich vor solchen Einrichtungen noch in den 1960ern Schlangen bilden konnten. Interessanter (und vielleicht beängstigender) ist, daß die 2020er voraussetzen, ein jeder habe seine Telefonzelle bei sich in der Tasche. In einem nächsten Schritt dürfte die eigene „Zelle“ als Existenzbeweis dienen, als Ausweis – als habeas corpus Akte. Aber wir schweifen ab

ab6Mich fasziniert an dieser Zelle nicht die wetterfeste Architektur aus englischem Eisen, der messingne Türgriff und der für immer zerbrochene rosa Hörer im Innern (letzter Hinweis auf seine Funktion), sondern der sich wie Ebbe und Flut wechselnde Inhalt alter, abgelegter Bücher.

Diese Zelle ist einer der Fixpunkte meiner Rundreisen durch den Westerwald. Sie steht in Hachenburg. Gerade füllte die letzte Tide sie wieder mit Strandgut: fortgegebenen Bestände aufgelöster Haushalte, verweigerte Erbstücke, abgelegte Prüfungen – einiges an Papiermüll ist immer dabei.

ab2Doch manchmal staunt man, was Bücher einst auch waren: kleine Meisterwerke der Handwerkskunst, die einen starken Durst nach neuem Wissen, neuem Erleben und frischer Luft in  den Häusern des Denkens verkörperten.

Nach 1918 war das ein starker Wunsch von Millionen. Heute ist das Buchregal das erste Möbelstück, daß in den knapp geschnittenen Haushälften dem 55 Zoll Bildschirm geopfert wird.

ab5Umso eher, wenn diese Kunst in einem veralteten Code daherkommt. Die etwa hundert Werke, die vom Volksverband der Bücherfreunde zwischen 1920 und 1940 angespült wurden, sind für immer an dem roten Riff der alten Telefonzelle gestrandet. Der beachcomber kommt.

ab11Sie sind im falschen Code gesetzt: Frakturtypen, die Schrift des codex von 1420,  die als Druckschrift in Büchern sehr verbreitet war und sich nach dem Krieg nur noch in Lateinbüchern wiederfanden  – darum besitze ich noch das Lesegerät  für den alten Code und treffe jetzt meine Wahl…ab9

Dieser Beitrag wurde unter Mehr Lesen abgelegt und mit , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Neue Literatur

  1. randonneurdidier schreibt:

    hallo Christoph, etwas Gedrucktes in der Hand zu halten, zu lesen, anzufassen… das ist für mich nach wie vor die schönste Art, sich zu informieren, zu bilden. Und ein Artikel aus der Zeit vom Juli 2021″Immer weniger Menschen kaufen immer mehr gedruckte Bücher“ bestätigt mich. Das gedruckte Buch ist noch lange nicht tot. Es lebe das Buch!

  2. crispsanders schreibt:

    Und dazu noch ein Hoch auf die literarische Bildung der Arbeiterklasse:

    . . .A 1973 decree prescribed that larger East German factories must have an on-site library with 500 to 1,000 books, staffed by a librarian. Bigger factories needed more books, 18,000-30,000, in any enterprise employing between 5,000 and 10,000 employees. In terms of books printed, the stated aim was a yearly increase in productivity of 4-5%. Between 1950 and 1989, the number of books printed each year and the proportion of those that were fiction more than tripled. . . .
    (Quelle: the Guardian, Philip Oltermann, the Stasi poetry circle)

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s