Nun habe ich zum dritten mal versucht, den Schlauch aufzupumpen. Immer neu ansetzen, den wackligen kleinen Messingkopf auf dem hauchdünnen Gewinde vorsichtig aber fest in die Gummimanschette der Pumpe pressen, die Finger um den schlanken Hals des Prestaventils legen und gegen die Pumpe abstützen. Alles Feingefühl hilft nichts, entweder ist das Ventil defekt, oder der Schlauch. 0 bar –: das Hinterrad bleibt luftleer.
Die nächste Stadt von hier aus liegt im Maastal, 15km entfernt, als Alternative noch Ciney auf der Hochebene. Dort, wo das Bier gebraut wird gibt es auch eine Abtei. In der Abtei ein Studienfreund, Joel de Brouwer. Ich habe keine Telefonnummer, keine mail, bis auf ein zwei Postkarten in 30 Jahren haben wir nichts voneinander gehört. Es wäre eine Möglichkeit. Die Kirche, letztes Refugium der Gestrandeteten, der Obdachlosen, der Randonneure ohne Rad – ein Ort, der kein Eintrittsgeld verlangt und nichts verkauft; ein Ort, den es nicht geben dürfte.
Aber einen Bahnhof, der mich wieder aus Ciney herausbringt gibt es auch nicht, denn auf der alten Strecke – dem Ravel – bin ich ja gerade hergekommen. Der 300km Brevet zwischen Heerlen und Namur hat kaum Aussicht, auf dem Rad zu enden. Die einzige Bahnlinie liegt also im Maastal.
Ein Mann kommt gerade vom Waldrand zurück ins Dorf, an dessen letzten Häusern ich mit dem Krautscheid gestrandet bin. Neben ihm ein alter Schäferhund, beide blicken verständnisvoll – hoffe ich zumindest – zu mir herüber.
Wenige Minuten später stehen wir vor seiner geöffneten Garage und der Luftkompressor brummt. Ein Belgier, der auf sich hält besitzt ein Rennrad und Schläuche dazu. Ich habe alle Mühe ihn zu überreden, meinen kleinen grünen Geldschein für seine Hilfe anzunehmen. Ich vollende das Werk des Kompressors mit der SKS Rahmenpumpe: an ihr lag es nicht, denn wie wir schnell sahen, hatte mein letzter Schlauch hatte einen klaffenden Riss – warum auch immer, wie auch immer, es spielt keine Rolle mehr.
Ich habe über eine Stunde verloren und rolle. Irgendwo im Gefühl, endlich nicht mehr vom Glück verlassen zu sein. Die Sonne scheint im Tal der Maas, als ich an der Reihe halb aufgelassner, halb vor sich hin ächzender Industrien vorbeiziehe, es ist mühseliger als es sein sollte, denn an jedem jedem Anstieg sticht es im Kopf – dabei plagen mich weder Hunger noch Durst.
Oben auf der Zitadelle. 150km, schon halb 5 durch. Gedanken:Um 20h wird die Sonne fort sein. In nur drei Stunden, das wäre also etwa bei Km 210 auf dem Eisenbahnravel über die flandrische Hochebene. Gegen den Nordwind. Auf ein Hoegaarden bei Drieslinter hatte ich mich gefreut, aber der kalte Nordwind, der mir hier oben unmißverständlich ins Gesicht bläst, spricht eine klare Sprache: Heerlen werde ich so kaum vor 2 Uhr erreichen. 6 Stunden Nachtfahrt – das ist mir zuviel. Ich werde jetzt abkürzen und ins Tal zurückkehren.
Namur: Es ist ein Samstag, die Sonne scheint, alle Läden sind geöffnet. Irgendetwas hat sich verändert und plötzlich ist klar: die Zeiten eines Lebens ohne Maske sind zurück. Die Zeit nach dem Covid Krieg hat begonnen. Alles ist auf einmal leichter, wir können wieder frei atmen .Heute, am 2 April 2022 sind wir endlich wieder Menschen.
Das Ruhrgebiet ist zum eigenen Symbol einer Zeit von Kohle und Stahl geworden, einer großen Zeit zahlloser, rauchender Schlote, die wir für ein gesünderes Leben hinter uns gelassen haben.
Das Tal der Maas ist gleichzeitig dessen Ahne und kleiner Bruder – denn hier finden wir auf 50 Kilometern konzentriert alles das, was die Industrie der letzten 150 Jahre ausmachte:
Kraftwerke, Kohlegruben, Stahlhütten, Düngemittel- und Zementfabriken. Die Atommeiler von Huy dampfen ihre Kühlwasserwolken in den Himmel aus 30 Kilometern sieht man sie noch. Mühlen, Hütten, Gießereien und dazwischen die kleinen, aneinandergedrängten, dunklen Würfel der Backsteinhäuser. Reihe um Reihe, genau wie am Beginn von Eleanor Rigby in Yellow Submarine. Es wären tausend Geschichten – ich erinnere nur an die von Georges Simenon in „Pedigree“.
Aus dem Zug sieht man die Rückseite der alten Industrie – die hier noch weiterkocht, ihre letzten Divisionen verheizt, einst standen Armeen am Abstich. Jetzt ist es eine langsame Prozession der letzten Saurier, die Stahlwerke an Sambre und Maas werden von einem Inder geführt, sie haben ihre Brüder an der Ruhr überlebt. Neben dem Stadion von Standard Lüttich stehen hunderte Waggons mit rostigen Stahlbändern, die gerade niemand abholt. Saurier im Endkampf. Tote Hüllen säumen die Bahnlinie.
Lüttichs Bahnhof zeigt mit seinem organischen Design schwerelos in die Zukunft . Als ich bei Herstal dann wieder aussteige, weiß ich, das 21te jahrhundert ist ein ungewisser Traum, der am rostroten Koloß der alten Hütte endet, die jetzt ausgeweidet wird. Der Saurier, der noch in den 1990ern noch orangerote Rauchfahnen Richtung Visé spie, wird jetzt demontiert, sein Skelett wird noch einige Monate sichtbar sein, doch niemand wird in 200 Millionen Jahren herausfinden, das hier, im Tal der Maas einst Zehntausende von flüssigem Stahl lebten.
Ich sitze längst wieder auf meinem Krautscheid und suche den Weg nach Norden. Nach Herstal geht die Industriebrache in eine liebliche Hügellandachft über. Dörfer und Pferde. Ein Ort mit römischer Geschichte. Wieder muß ich halten: die belgischen Betonstraßen haben eine Strebe am Schutzblech erbarmunslos abgerüttelt – Schraube weg, Ersatz am zweiten Flaschenhalter. Mit dem kleinen Werkzeug gut anschrauben. Die verlorene Zeit ist bedeutungslos: ich habe Zeit, mehr Zeit als zuvor; der Schlauch hält, er wird halten und ich mache mich auf, in der Abdendsonne neue Gebiete des Maastals zu entdecken. Kalkhügel gibt es hier, weiß schimmern Steine unter dem Grashang hindurch.
Vor 200 Millionen Jahren hinterließen Haie und andere Meeresreptilien ihre sterblichen Reste in als Zähne und Skelettstücke – sie bilden den Rohstoff unserer Gebäude: Kalk..
Aus der rußigen Welt von Kohle und Eisen bin ich plötzlich in das helle, staubige Imperium des Gesteins geraten. Sedimente, die nun in Straßen, Brücken und Hochhäuser verwandelt werden.
Um mich ragen hier Silos und Türme von Zementwerken empor. Ich fädele mich durch eine bizarre, leblose Landschaft, an die ich mich erinnere, weil sie das Ende des einstigen Maastricht 400km Brevets bildete. Aus dem Gedächtnis versuche ich mich an der richtigen Stelle unter die große Eisenbahnbrücke zu fädeln.
Graue Betonplatten, letzte Häuser. Die Richtung stimmt immerhin. Ich halte auf die Türme zu, umrunde die ersten, stoße durch ein Wäldchen an ihnen vorbei. Auf ein altes Zementwerk folgt ein nächstes, aktives. Im Zwielicht ziehe ich durch eine Zwischenwelt, unter zementgrauem Himmel wirken auch die wilden Waldstücke eigenartig gedimmt, stumm und verlassen.
Reste alter Straßen, die ins Nichts führen – mir bleibt nur, mich über die Werksstraße zu retten – direkt an den Zementbunkern entlang.
Rund um ein Hafenbecken und unter einem Silo durch: was, wenn plötzlich oben der Schacht aufgeht, lautlos würde der unbekannte Radfahrer für immer verschwinden und mit dem nächsten Transport in ein namenloses Fundament gegossen. Schnell fort, es wird dunkel, noch zwielichtiger wirkt in der Rücksicht das große Gestell der Zementfabrik, die das Grün überall mit seinem Staub überzieht.
Dann über einen Treidelpfad: eine endlose, knüpplige Allee – aber alles hält: Reifen , Schutzbleche etc.. Durchgeschüttelt erreiche ich endlich die Gabelung der beiden großen Kanäle, die durch das Kalkmassiv gesprengt wurden: rechts nach Belgien – also Antwerpen – links nach Holland – also Rotterdam. So einfach ist das.
Der Wind weht eisig und wellt die von Mauern gerahmte Wasserfläche. Ein Deutsches Wohnmobil aus dem Kreis SLE steht am Wasser und schaut auf einen dümpelnden Frachter. Die Betonplatten enden, die Niederlande beginnen mit einem allerletzen Kalkwerk: Evencim.
Jetzt am altbekannten Maastrichter Stayokay vorbei, dem einstigen Startort des 400km – allein, um das Fehlen der großen Platane zu bedauern. Kleine Sträucher stehen dort, wo der große Stamm war.
Der französische Historiker Nicolas Offenstadt hat der Exploration verlassener urbaner und industrieller Orte in der DDR vor drei Jahren ein Buch gewidmet. Es seine Methode, Geschichte zu rekonstruieren und somit schreiben zu können. URBEX nennt sich die Spurensuche. Als einsamer Randonneur habe ich mich seiner Suche nach den industriellen Utopien unserer jüngsten Vergangenheit angeschlossen. Neben der pathetischen Romantik verlassener Anlagen, deren Reiz sich schwer beschreiben lässt, markieren solche Gelände gleichzeitig gescheiterte Ziele, aufgegebene Utopie. Was bei solchen Größenordnungen zu Denken geben kann. Diese Monumente zivilisatorischer Verantwortungslosigkeit vernichteten Kapital aus dem Versprechen von Wachstum und Wohlstand . Als Altlasten vernichten sie immer noch Kapital, ohne, daß jemand zur rechenschaft gezogen würde außer die kommende Gesellschaft. Jeder verlassene Ort ist eine kostspielige Hypothek, Urbex : eine Liste moderner Mahnmale. Kirchen und Brauereien überleben.
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/316561/eine-suche-nach-den-verschollenen-spuren-der-ddr/
Als der Track dieses Brevet im Norden Maastrichts endlich wieder auf dem Display meines kleinen etrex auftaucht, bin ich noch nicht erlöst: im letzten Licht gelingt es mir, mich völlig in einer sauberen, makellosen, aber eigenartig düsteren und in sich geschlossenen Backsteinsiedlung zu verirren. Hinter der Maas leuchtet mir schon die Kirchturmuhr von Meerssen entgegen. Mühsam finde ich den Weg über die Brücke.
Dann sehe ich langsam ein kleines rotes Licht in einer Nebenstraße verschwinden. Innerer Jubel –Pilotfisch gefunden – einen Teilnehmer, der jetzt die letzen 40 Kilometer des Brevets unter die Räder nimmt.
Gute Gelegenheit, jemanden zu beobachten, der 70 Kilometer länger gegen den Wind gefahren ist, einen der schnellen Fahrer dazu: hier, um 20h30, muß er zu den frühen Vögeln gehören, die nach Heerlen zurückkehren. Ich darf nur sein Rücklicht nicht aus den Augen verlieren, dann ist die Sache geritzt. Es ist schon seltsam, wie munter ich plötzlich bin. Unter den Straßenlaternen Valkenburgs erkenne ich ein Rad moderner Prägung: Abfallende Rohre und Scheibenbremsen. Fronttasche und Hecktasche, ein schmaler Körper. Manchmal wechselt er in eine leichtere Trittfrequenz, aber meistens bewegen wir uns im gleichen Rhythmus. Im Gleichtakt ziehen wir die letzten Hügel empor, in den Vororten leuchten die Flachbildschirme hinter blankgeputzten Scheiben. Ehepaare auf Fernsehseseln im Partnerlook schauen sich auf riesigen Flachbildschirmen Sendungen zum Artensterben im Ruwenzori Nationalpark an.
Mein tanzendes Frontlicht hat er sicher irgendwann hinter sich entdeckt – eine Schulterbewegeung hat es verraten. Doch sein Tempo wird nicht schneller und er schüttelt zwischendurch die Hände aus – ich muß mich kaum anstrengen, in Sichtweite zu folgen. manchmal wird er schneller, dann läßt er es wieder rollen. Was wie eine komplette Banalität klingt, beruhigt mich: nach 270km ist auch ein starker Fahrer müde. An einer Ampel treffen wir zusammen. Kurzes Nicken
So gelingt es, fehlerfrei durch die unentwirrbare Gleichförmigkeit der Heerlener Siedlungen zu kommen. Ich hätte geschworen, am Ende seien wir im Kreis gefahren -aber die blasse, neonweiße Kuppel des ewigen Schnees über dieser Stadt aus Vorstädten, über dieser Kohlehalde, lehrt mich eines Besseren. Der Kreis ist geschlossen, endlich angekommen in der Freizeitgesellschaft, dem einzig legitimen Nachfolger unserer Kohlegruben.
Ein Hoch auf den belgischen Schaeferhundfuehrer und auf den gesunden Menschenverstand! Zu beweisen gibt es nichts im Leben, dann lieber auf den Koerper hoeren.
Fuer die morbide Anziehungskraft verlassener und/ oder antiker Schwerindustrie hatten wir damals in den ehemaligen Reichswerken Hermann Goering ein Wort:
Huettenromantik.
Viele Gruesse aus dem Yukon,
Luisa
Vielen Dank, die verbliebenen Arcelor Mittal Hütten verströmen überweigend Beklemmung. Am nächsten Tag gab es Halsschmerzen, die sich bald legten : die typische Reaktion auf eine erneute Begegnung mit dem Sars Cov 2 erreger…
Und ich hatte angenommen, Beton-Plattenwege gäbe es nur in der Ex-DDR😅 schön und intensiv hast Du die Stimmung eingefangen- Deine und die von Land und Leuten 👍 —— und jetzt noch ein Nachklapp vom Technik- Besserwisser: Schrader- Ventile sind die dicken, die man auch beim Autoreifen findet, sehr selten beim Rennrad. Hier ist der Standard das Französische oder Presta-Ventil 🤪 all the best Dietmar
ich hätte es wissen müssen. Schon verbessert!
Seher schöner Bericht! Was war nur mit dem Hinterrad los? Pech? Falscher Reifen? Zu alt? Beklemmend auch die Aussicht, in diesen Indistrielandschaften bei kaltem Wetter ohne Schlauch zu stranden. Bin kein Freund von Tubeless am Rennrad, aber für schlechtes Winterwetter könnte es ggf die bessere Lösung sein, vielleicht nur am Hinterrad, denn da habe ich die allermeisten Platten..Hoffe auf mehr Glück bei meinem 300er im Breisgau nächste Woche
nachdem die letzten 150km ja auch auf bösen Rüttel- und Naturpisten völlig problemlos liefen, scheidet der Mantel erstmal aus. es gibt auch bei Schläuchen Fabrikationsschwankungen. Der Conti hatte eine eigenartige Druckstelle, beim Cube Schlauch weiß ich es nicht (wütend weggeworfen). Es gibt Produktionsschwankungen auch bei Schläuchen. man kann endlos nachsinnen, es ist immer ein Für und Wider. Gute Fahrt!