In den tiefen Staat –  400 Kilometer Hessen

Ohne den Kredit eines Dreihunderters für die 400er Runde gemeldet. Ermutigung aus den Bergen , gewisse Formgewinne seit den Märzgewittern. Kleiner Unfall im Aprilregen, nur Kratzer, viel wichtiger dagegen die freien Bronchien. Minimalprogramm in der ersten Maiwoche. Die Route ist noch in Erinnerung, aber was digital vor 4 Jahren letztmalig gesichtet wurde, ist längst gelöscht, verloschen. Mühselige Puzzlearbeit mit Streckenbeschreibung, Dorf für Dorf wird die Linie auf den Bildschirm sichtbar. Auf dem Bildschirm habe ich den 400km Brevet rund um Gießen schon bewältigt.

Ah!, – die größte Änderung aber ist die Startzeit. 17 Uhr, dann werde ich vieles noch sehen, was mir die Dunkelheit die beiden letzten male verweigert hat. Jetzt noch die Wetterkarte beobachten.

a001Alles was Du zuhause lässt, muß nirgends mitgeschleppt werden. Kleine Lenkertasche immer, dann die Ersatzklamotten im Heck. Hier die schmale, lehmfarbene Evoc Tasche. Ist zur Not ein kleines Schutzblech, wackelt nicht, soll wasserdicht sein. Ab ans blaue Koga, das auch Eisvogel heißt. Über 4000 Höhenmeter auf 400 Kilometer, da lohnt das kleine Blatt.

a1Die Sonne scheint in Gießen, es ist geradezu schwül und Haufenwolken ballen sich mengenweis bis bedrohlich. Windstöße, Regenfahnen am Horizont. Das Rad ist bereit – bist Du es auch? DreiviertelHose (die vom Sturz), Wolltrikot mit Taschen vorn!, langes Unterhemd.

a01Der 400km Brevet von Gießen ist eine Fahrt durch den tiefen Staat. Östlich einer Linie Gießen Marburg geht es nach Norden. Wie in der Schule bei der Heimatkunde: Lahn, Ohm, Wohra, Efze, Fulda, grobe Richtung Hoher Meißner. Oben hinter Hessisch Lichtenau bei etwas mehr als 120km die erste Kontrolle. Dann dreht die Tour nach Süden Richtung Fulda (Stadt), wobei der Knüllwald überwunden wird. Anschließend immer Kap Süd in Sichtweite der ICE Linie Fulda-Nürnberg, immer weiter bis an die bayrische Staatsgrenze in Burgsinn. Macht schonmal 300 Kilometer. Dort könnte es schon länger wieder hell sein.

a02Sorgen jenseits von Futur 2. Ich habe keine Ahnung, ob ich der Strecke diesmal gewachsen bin, noch weniger, welche Rolle das Wetter spielen wird. Der Wind hat die Hauptrichtung Nordost, also Kombination von frische Luft und kühler Nacht – schwer abzusehen, was der Regen noch hinzugibt. Ein Rad ohne Schutzbleche dient zur Beschwörung des Wetterglücks. Ein Paar Wollsocken ist auch dabei. Bestimmt werde ich kein Regenbrevet fahren.

a2In einer Viertelstunde gilt es; der Vorplatz dieses mittleren Großbäckers ist gut besetzt, dort sitzen Radsportler vor ihrem letzten Kuchen, den uns Der Veranstalter spendiert. An einem Tische der gute alte Roy aus Köln.

a3Sein Traum: mit dem Meral diesen Brevet als Baustein für Paris-Brest-Paris bewältigen. Seine dritte oder vierte Teilnahme dort. Nicht wenige (die meisten?) dürften aus dem gleichen Grund hier sein. Ich verrate Roy bei einer Mohnschecke und einem Glas Tee, daß dieser wohl mein letzter 400er sein wird. Er staunt und versteht nicht. Ich weiß es nur, weil ich es spüre und auch keine Sehnsucht nach der Reise nach Brest habe. Das schöne und gute eine mal soll mir reichen: Risiken und Nebenwirkungen sind bekannt. Was sollte besser werden? Auch das wundert ihn, aber es steckt jeder in seinem Traum.

Heute soll es noch einmal gut werden, was bedeutet, mentale und körperliche Reserven abrufen. Kaum hat das Navigationsinstrument die Strecke aufgespielt, geht es auch schon los. Warm trocken, leichter Wind von vorn, darf so bleiben.

a5Die ersten Kilometer aus Gießen suche ich Anschluß: der Wind kommt von vorn, da ist es besser, eine Gruppe zu haben, die sich um Tempo bemüht. An einer Ampel gelingt die Gruppierung und sie bemühen sich, es wird  Einerreihe gefahren. 30 plus, keine Schnörkel.

a6Man staunt und sieht uns hinterher. Lollarer Hauptstraße, ein zwei Döner, Spielhallen, alte Tankstellen . Kurzeck lesen!

Gleich schon geht die Strecke unterhalb Staufenberg vorbei, direkt durch die Lahnweiden. ir bleibt keum Zeit, den Apparat aus der Tasche zu ziehen, es geht so gerade mit dem rechten Arm  – da sind sie schon fort.a8

Nun suche Dein eigenes Tempo durch die einsamen Rapsfelder. Bitte nicht glauben, daß Randonneure bummeln oder „keine Rennen fahren“. Radwege und andere schlenker sind nicht vorgesehen, der Blick bleibt auf der weißen Linie, die die Fahrbahn begrenzt. kilometer müsen gefressen werden.

a9Ganz schnell hat sich das Land geleert, es ist Samstagabend, Mittelhessen überläßt seine Hauptachsen den Radfahrern. Rechts und links liegen Höfe, weidet Vieh, blüht Raps. Ein idealer Vorabend. Mit rapsgelbem Rand, dessen wächserner Duft mich noch in der Nacht heimsuchen wird. – irgendwann ist man überempfindlich.

Auch ich halte mein Tempo, die Position auf dem Rad stimmt, die Übersetzung stimmt; so wie auf den ersten hundert Kilometern rollst Du nie wieder.

a11Der Bergkegel trägt das kleine Amöneburg auf seinen Schultern. Das Gebäude an seinem Rand sollte die Schule sein. Wie schön, von dort während des Unterrichts hinauszusehen. Es ist ein sanftes, großes Land,  in ganz langen Kurven zieht die Bundesstraße durch die Felder, hier eine Überführung, da eine elegante Kreuzung, mustergültige Abfahrten und Auffahrten aus erstklassigem Material. Dies ist nicht der kürzeste mögliche Weg,  aber der schnellste, weil er einen durchgängigen Rhythmus erlaubt. Weit und breit niemand in Sicht.

a12Schon vorüber: Kirchhain, weitere alte kleine Stadt mit großenmteils aufgelassenen Einkaufsstraßen. Hier hat jemand seiner Empörung grafisch gelungen Luft gemacht. Keine Läden mehr – habt ihr es nicht alle  gewollt? Gerade ist ein einzelner Fahrer grußlos mit hohem Pedaldruck an mir vorbeigezogen. Kurz-Kurz gewandet kleiner leuchtgelber Rucksack, mehr nicht. An der Ampel sieht er sich noch einmal kurz um, ob ich folge. Ich folge nicht.

a14Und dann geht es allmählich, in Wellen hinauf. Eine kleine, ganz liebliche Straße windet sich durch die Fluren und Waldstücke, macht einen haken hier, einen Haken da.

Der Fahrer mit dem kleinen gelben Rucksack sprintet hinauf. Eine Minute auf 2 Kilometer, sagt mir die Uhr am Handgelenk, deren Leuchtziffern mich auch durch die Nacht führen können. Links und rechts sehe ich hinunter auf frisch gemähte Weiden, das Heu liegt schon in Reihe zum trocknen. Pferde weiter hinten, ein Traktor dreht sich. Ruhige Dörfer, ein Mädchen führt zwei Pferde, der Hund läuft nebenher. Wenige Menschen. Ich gleite, es ist einer dieser Momente auf dem Rad, wo wir schweben. Sie dauern nie lang.

Bald dann der nächste Mitfahrer. Auch er kurze Hose, kurzes Shirt, kleine Tasche am Lenker, sonst nichts. Auch er schnell – hier einmal am Hinterrad bleiben. Das gefällt ihm nicht, er weicht aus und lässt sich zurückfallen.

a13Ich lasse rollen, er überholt wieder und ich frage, ob es ihn wirklich so stört, wenn ich kurz einmal sein Hinterrad nutze. Es stört ihn dann doch nicht, nachdem ich bemerkte, vor kaum 5 Minuten habe mich ein recht flotter Fahrer wortlos überholt – „mit gelbem Rucksack?“ – „ja!“ – „ .  . mein Arbeitskollege, er wird später langsamer werden…“.

b1Direkt vor dem Neubau der A49 Brücke über die Wohra kommen wir an einer Quelle im Abendlicht vorüber. Menschen stehen an ihr und füllen Kanister. Die umstrittene Autobahn kennt der schnelle Mann  spricht von endlosen Lasterkolonnen durch Stadtallendorf nachts aber auch ab morgens um 4. Man könne im Sommer kein Fenster öffnen – es liegt ganz in der Nähe. Die Nutella Fabrik diktiert ihre Bedingungen – und die Pendler, meint er noch. Erleben wir nicht, wie die autobahnbasierte Form des Arbeitens gerade an einen Endpunkt gelangt? Wir wissen es beide nicht. Im nächsten Ort, Treysa, bewirbt der Bürgermeisterkandidat sich auf Plakaten mit dem Erhalt des Bahnhofs.

Dann trennen sich unsere Wege und ich habe die Felder und die langsam untergehende Sonne wieder für mich allein. Einmal sehe ich ihn noch auf die große Bundesstraße biegen, die nach Homberg führt.

b2Hier sind wir schon. Zwei auffällig ähnlich ausgerüstete Fahrer haben mich eingeholt. Sind aber nicht Vater und Sohn. Der jüngerer lacht. Kurz gebe ich Windschatten, wir lösen uns in hohem Tempo ab, bis eine Baustelle naht:

b3Die Bundesstraße wird auf meiner Seite renoviert. Fahre ich eben durch die Baustelle, so schlimm wird’s nicht werden. Die beiden anderen – es sind nicht Vater und Sohn –  schwirren auf eine Seitenstraße ab. Die Baustelle wird tatsächlich mein Refugium, bis auf 2 oder drei geschotterte Querfugen alles wie gehabt, in langen Schwüngen geht’s voran, aber ich mache vorsichtig – sonst gehen mir bald die Lichter aus. Vorsicht jetzt, weiter –  ma non troppo .  Riegel aus der Brusttasche ziehen, atmen. Wie sinnvoll diese Brusttaschen sind.

b4Und es war gut. Kurz vor Homberg (Efze), der Stadt auf dem Berg,  kommt der Mann mit dem kleinen gelben Rucksack wieder und stampft an 2 weiteren Mitfahrern vorbei die Altstadt hinauf.

b5Am  Marktplatz unter dem Kirchturm liegt alles in mildem Licht, die Stühle sind aufgestellt. Auf Homberg folgt ein kräftiger Anstieg, der ein breites Panorama nach Norden öffnet

b6Die riesige Albendwolke über Fritzlar – vorletzte Höhenmeter über dem Fuldatal. Vorbei am nächsten Steinbruch und seinem Trafohaus.

Und dann zieht auch schon Arbeitskollege vorüber, jetzt bereits mit Neonweste. Von oben sehe ich, wie er mit maximaler Geschwindigkeit zwei weiteren, neonfarbenen Punkten nachsetzt, die sich flatternd dem großen Autohof über der A7nähern.

b8Oben war das Märchen, das hier ist die Wirklichkeit. Ich versuche, die besondere Schönheit der geometrischen Arrangements von Lastwagen und Lagerhallen einzufangen, vor dem Hintergrundgeräusch der A7. Noch bin ich mitten in der Zivilisation, gleich nach dem Fuldatal noch Melsungen und dann in den Wald, in ein grünes, tiefes Land

b9Viel verpasst habe ich nicht, die Carl Braun Werke, die eine Millarde Gewerbesteuer einbringen werden, sind bei Nacht eindrucksvoller.Wild und schön der folgende, lange Anstieg nach Hessisch Lichtenau durch ein frischgrünes Tal,in dem ich, immer eine Minute vor mir, wieder zwei Neonwesten ausmache. Wie riesenhafte Blüten. Der Anstieg erst sanft und harmonisch, nur eine eindeutige Wolke verheißt dem Ende dieser Partie unangenehmes. Melsungen –  Tor zum Dschungel.

Drei Minuten später  ziehe die Regenjacke heraus, während  (nicht) Vater und Sohn grüßend passieren. Noch 6 km bis Lichtenau. Und diese 6km sind nicht nur feucht, sondern an einer oder zwei Stellen auch kernig steil. Vor mir hüpfen winzige Frösche über den blanken, nassen Asphalt, unter den Reifen knistern die Ahornsamen, die der Regen von den Bäumen geschüttelt hat. Als ich oben bin, ist es endgültig Nacht und der Regen nimmt ab und dann leider wieder zu. Alles ist plötzlich schwarz, bis auf den kleinen Lichtkegel der auf das Schild zeigt : 11% Gefälle.

Nur wenige Minuten später es ist noch nicht einmal Zehn,erreiche ich den Autohof: ich kann also noch eintreten Wasserkaufen und stempeln lassen. Aral, ich bin bereit für die erste Kontrolle.

c1Im bunten Verkaufsraum herrscht  Füssescharren: Männer ziehen sich für Nacht und Kälte warme Sachen über. Gleich wird die Tankstelle geschlossen. Ungewohnte Hektik für diesen Teil Hessens. Rasch, die Tankstelle schließt gleich.  – 22h.

c2Ich wechsle draußen die nassen Socken: Wolle wärmt immer, mehr braucht es nicht. Mit den anderen vor 5 Stunden gestartet dann hier weider zusammengefunden, jetzt geht es verstreut in die Nacht. Es regnet nicht mehr. Ein Schild sagt Kassel 25 km: eine Stunde, und ich könnte nach einem warmen Bett suchen. Aber die Schauer ziehen von West nach Ost, haben sich abgeregnet (hoffentlich).  Ein anderes Schild zeigt nach Süden; also beginne ich das Abenteuer der Nacht – der Brevet führt hinunter ins Tal

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2 Antworten zu In den tiefen Staat –  400 Kilometer Hessen

  1. M. schreibt:

    Freue mich über jeden neuen Eintrag in diesem Blog! Radfahren lesen, herrlich!

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