Das Land beginnt hinter der Tankstelle. Es ist noch nicht sechs Uhr, Prag, seine Vorstädte und die Autobahnzubringer sind überwunden. Eine lose Abfolge von:
Bürostadtprojekten, Krankenhäusern,
sozialistischem Realismus, (auch frühen Ursprungs) und beschaulichen Vorortgegenden, in denen für Indoor-Golf geworben wird. Autobahntrassen, der Berufsverkehr beginnt, rauscht wie ein Bach unter uns durch.
Dann die Tankstelle. Für Kaffee und Mineralwasser gehen die ersten Kronenscheine mit ihren altmodisch gestochenen Motiven über den Tresen. Ein weißer rumänischer Lieferwagen mit folienverklebten Fenstern entlässt seine 6 oder 7 Insassen. Sie vertreten sich die Beine und wir machen uns auf nach Südosten, die kleine, schnurgerade Landstraße nach Benesov ist wenig befahren, das Koffein entfaltet seine zuverlässige, belebende Wirkung:
Schnell finden wir unseren Takt und warten auf den Durchbruch der Sonne durch die zarten Pastelltöne des Himmels. Sehr zufrieden mit der günstigen Strecke und dem Wind. Die endlos gestaffelten Höhenzüge liegen vor uns. Böhmen und seine Ausläufer: eine grüne Folge sanfter Täler, Wiesen, Felder und Alleen. Wir sind bereit, es ist noch besser als in der Erinnerung.
Toni hat sich heute für ein anderes Rad entschieden als das Mannschafts-Merckx vom Team Stuttgart. Diese Fahrt ist Teil seines Trainings für ein 1000km Brevet über die Brauereien und Bäder Böhmens mit Start-und Ziel München. Darum Titan und Moderne.Sein Merckx folgt morgen aus Berlin mit anderen Teilnehmern der IVV nach. Wir haben einen Tag Vorsprung, 310 Kilometer nehmen wir unter die 25mm Slicks, bei km 200 passieren wir die Grenze nach Österreich – bis dahin wollen wir Kronen in Kalorien umsetzen. Was sich als nicht unbedingt leicht erweisen wird.
Leicht ist dagegen der Anfang. Bis auf einen Abschnitt auf der Schnellstraße rund um Benesov meiden wir die großen Achsen. Diese kurze Erfahrung der Schnellstarße zeigt die selben Bilder wie überall: Lasterkolonnen in Termindruck. Der Asphalt der Nebenwege ist durchweg gut, auch in den Ortschaften. Die kleinen Straßen wurden nicht schon etliche ale für Kanalisation, Strom, Internet, oder schnelleres Internet aufgerissen – das kommt noch. Ich meine, Werbung für 25MBit/sec zu sehen…
Die Satellitennavigation hat diesen Sport tiefer verändert als alle übrigen Entwicklungen. Eine solche Strecke wäre für Fremde auch mit langer Vorbereitung unauffindbar gewesen. Satelliten sind ein Segen und Tino sichert uns über seinen Tracker doppelt ab. Die Räder dagegen sind zweitrangig.
Wir bekommen ein wenig Sonne – aber nichts, was den Sonnenbrand fürchten ließe. Im Gegenteil: es ist ein Tag, der sich gerade noch im kurzen Trikot fahren läßt; wir folgen einer größeren Wolkenbank, der letzten eines Tiefdruckgebiets, das Tschechien und Österreich in dieser Woche mit Wasser versorgt hat.
Da sind sie wieder, die endlosen Alleen, Klimaanlagen der Straße. Wir kommen voran, unerwartet schnell ist die 100 km Etappe bei Pacov erreicht.
Erste Garagenzeilen künden das Städtchen an, eine Trophäe sozialistischer Motorisierung ist vorgefahren. Mit dergleichen Skodas wurden Klassensiege bei der Monte Carlo eingefahren. Fürs Geschichtsbuch.
Die Bäckerei ist gleichzeitig ein kleiner Supermarkt fürs Notwendigste. Wir lassen uns das Zuckerwerk erklären und wählen. Ein paar Leute besuchen den Laden, kein großer Andrang, hin und wieder parkt ein Auto auf dem Platz. Nach dem Cappuccino und kleinem Gebäck weiter.
Beim Abschied aus Pacov streifen wir noch den Supermarkt, der auch das Logo einer Textilfabrik trägt.
Mit einigen Gravelkilometern, die sicher einmal geteert waren, bestehen die Reifen ihren Härtetest. Ein Auto macht angesichts der verfallenden Wegstrecke kehrt. Dabei können 25mm reichen, solange es trocken ist und beide Augen wachsam. So geht es zügig Von LPG zu LPG – deren Duftmarken begleiten uns.
Die nächsten 100 Kilometer :der stete Wechsel von Hügel und Tal, Landwirtschaft und Waldwirtschaft. Dörfer in den Senken, ab und zu sehr sichtbares Schloß mit hohem Mauerwerk, oft bildet ein kleiner See oder gestauter Bach die Ortsmitte. Vereinzelt nur moderne Gebäude, keine Suburbanisierung. Hockney, der englische Maler sagte: either suburbia or bohemia – und hier ist definitiv Bohemia.
Wir immer schräg daran entlang, irgendwo zwischen 400 und 600 Metern über Null. Auf und ab, man gewöhnt sich an die Umwerferarbeit. Der Rhythmus stimmt, unsere Gespräche fließen dahin, die Beine tun unauffällig ihre Arbeit. Die Anstiege läppern sich, sind aber nie zu lang, sie werden sich auf einen berg von über 4000 Metern türmen.
Behausungen ja, Menschen eher weniger. Die Kinder sind in der Schule (wir haben sie gesehen), ab und zu kommen uns Traktoristen entgegen, man kann sie schon von weitem hören. Es gibt Autos, aber sie machen sich selten. So könnte unser Land vor 60 Jahren gewesen sein, die Zeit vor Deiner Geburt.
Während einer längeren Fahrt schärfen sich die Sinne von allein. Man atmet tiefer, riecht die Wiesen und Kräuter und bei Gelegenheit auch 2Taktiges Benzin. Ein Bachtal entwickelt andere Aromen als ein Sonnenhang. Was ganz besonders intensiv duftet sind aber vom Menschen gemachte Speisen, wie man sie in den Dörfern vermuten könnte.
Und diesen Duft einer Bäckerei, eines Bratens aus der Wirtschaft vermissen wir, je weiter wir vorankommen, je mehr Dörfer wir hinter uns lassen, je mehr Geisterschlösser den leeren Magen grüßen..
Uns bleibt nur, auf einem Hügelkamm kurz nach Mittag die kleinen Pizzastücke aus Pacov zu verzehren und in der Musette nachzusehen, was man noch teilen könnte: Tomaten aus Berlin beispielsweise. Ein wenig Naschwerk dazu und weiter in Hoffnung auf eine kleine Stadt, während die Gegend immer weitläufiger und agrarischer wird. Ich erinnere mich an die Menschen die mit ihrem Campinggeschirr an der Straße standen und auf den Essenswagen der Caritas warteten, 2019. Irgendwo an einer Kreuzung im tiefen Böhmen.
Es dauert noch eine geschlagene Stunde bis in das hübsche Slavonice, dessen stattlicher langgezogener Markt leider mehr Nippesläden als Gastronomie bietet. Wir sind ohne es zu ahnen in Südmähren gelandet.
Eine Gruppe englischer Motorradfahrer rastet, sie sind mit ihren Nortons über Belgien bis hier gekommen. Das einzige Restaurant am Platze bietet ganz übliche Portionen der ganz üblichen Schnellküche, wie es scheint: ich sah das Schnitzel sowie Pommes. Und fast hätten wir uns aus den Augen verloren.
Noch eine Stunde bis zur Grenze und einige Dörfer noch, auf die wir unsere Hoffnung nach einem warmen Essen setzen. Es hat gerade leicht genieselt, mal ist die Straße naß, mal nur angefeuchtet: der Wind hat kurz gedreht. Das ist für sich kein Problem, nur die Entscheidung, dafür anzuhalten und Regensachen anzuziehen ist es. Psychologisch sind solche 5 Minuten, in denen man nicht weiterkommt Ewigkeiten. Also weiterfahren und auf trockene Schuhe hoffen, auf essen und ein wenig Sonne – später. Die letzten Ortschaften (wir sind in Südmähren) enttäuschen.
Leider werden aus alten Brauereien mittlerweile Residenzen,schwindet mit jeder Ortschaft die Chance, Kronen in Kalorien zu tauschen. Es ist der drohende Hungerast, der uns Sorgen macht. Gut und gerne 20 Kilometer bis zur Grenze. Selbst wenns gut läuft, die Energie wird verbraucht und gegen Kaloriedefizite ist wenig zu machen, auch Energiegels helfen nur über 15 Minuten, danach ist die Unterzuvckerung um so heftiger.
Wieder eine geschlossene Kneipe, ausgerechnet jene von 2020 mit dem schaumigen Hosta Bier. Wir sind vielleicht zu früh für den Nebenerwerbsgastwirt. Ein Tankstellezeichen lassen wir noch rechts liegen, dann kommt das nächste Dorf, auf dem Hang gegenüber grüßt ein stattliches Gebäude –
Unser Weg ist plötzlich Baustelle. Gleich hinter den Baufahrzeugen eine schöne große Wirtschaft, aus der kein Lebenszeichen dringt. Toni sagt: wo Schilder draußen stehen, ist geöffnet. Ich sage: wo die Scheiben so blind sind, ist geschlossen. Die Schilder preisen die Pizza Gladiator. Wir wollen wissen, ob es wahr ist.
Es ist wahr. Wir befinden uns in einem besterhaltenen KuK Wirtshaus mit hohen Decken und voller Jagdtrophäen. Am Tisch neben der Theke sitzen eingeräuchert eine Handvoll Leute, alle mit Gläsern vor sich. Einer ist bereit, den Dolmetscher zu geben und alle lachen.
Bier zuerst, dann die Suppe. Diese Suppe hat uns der Dolmetscher warm empfohlen, er selbst hat seine zu Mitnehmen verpackt vor sich stehen. Ein anderer steht auf und geht wankend hinaus. Als ich seinen Schatten zwischen der linken und rechten Hälfte der Flügeltür zurückkommen sehe, haben wir schon unser erstes Bier genossen und gleich wird die Suppe kommen. Und hier muß man Wolfram Siebeck recht geben.
In der „verpönten Küche“ erwähnt er die Delikatesse des in Streifen geschnittenen Pansen, den man in einer dunklen Brühe mit ein wenig Gemüse als Kuttelsuppe serviert. Die Pansenstücke schwimmen als proteinhaltige, nudelähnliche Streifen in der würzigen Brühe. Mit dem ersten Löffel wird uns wohler, sehr viel wohler. Der Nachbartisch lacht und möchte uns einen Schnaps ausgeben.
Wir verweisen auf den weiteren Weg: noch 110! Heiterkeit.
Draußen hat die Sonne schon die Straße getrocknet, als wir satt und beflügelt Richtung Österreich aufbrechen Uhercice (Ungarschitz) hieß unser Glücksort. Das sind die wundersamen Dinge, die auf den langen Fahrten geschehen. Keiner ahnt oder erwartet solche Momente – am Ende sind es die Besten.
Der Rest der verlief sonnig und ungetrübt. Retz, Hollabrunn, Wolkersdorf: Sobald das Tal der Thaya verlassen wird, liegt das große Land vor uns. Im Geleit von zwei schnellen Schweizer Radfreunden treffen wir gegen 19h30 im Hotel Klaus, Wolkersdorf ein.
Vielen Dank fürs Mitnehmen!
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Hey, coole Story! War für gefühlte 8‘ Lesezeit voll dabei…Grüße Ritzelconnection