Da liegt er vor Dir, der ganze Tag. Ein offenes Buch, von dem die erste Seite zu sehen ist. Du kennst die Geschichte schon, denn zweimal hast Du sie geschrieben, dein kleines Navigationsinstrument ruft Dir aus dem Graben die Passagen vor, falls Du unterwegs den Text vergißt. Text, Bühne, Stück.
Der Applaus: das ist das Rauschen des Windes in den Ohren auf den Abfahrten. Jeder Anstieg ein neuer kleiner Akt. Es sind viele kleine Anstiege auf dieser Strecke. Sie folgt dem 300km Brevet aus Gießen, mit heimischer Modifikation, ein wenig am Rechner umgeschrieben, auf das Gartentor zugeschnitten, das sich quietschend hinter mir schließt.
Das Stück beginnt mitten im Juli, noch vor der angekündigten zweiten Hitzewelle. Sie soll von Südwesten hinaufkommen – mein Weg führt nach Nordwesten, bis ans Sauerland. Die Wolkendecke schließt sich oder öffnet sich – ja nach Richtung: der Blick auf den Feldberg zeigt deutlich die Luftmassengrenze. Windjacke für mich, es bläst frisch aus Northwest.
Mittelgebirge sind unübersichtlich – nicht nur, weil es immer wieder auf und ab geht. Sie sind schwer abzuschätzen, nie ist richtig klar, in welcher Richtung man unterwegs ist oder welche Orientierung das nächste Tal nimmt. Danke kleines Etrex.Es gibt keine Gebirkskämme im Westerwald, der als erstes vor mir liegt, nur eine ansteigend Folge von Tälern die dann eine Art flacher Hochwald krönt – da, wo die Basaltschicht am höchsten war.
Bad Marienberg wird so ein Punkt sein, hier geht es zähmorgendlich von der Nister aufwärts. Ganz geduldig nehme ich die frühen Steigungen, mit dem leichtesten Gang bis zur Höhe. Auf der heutigen Gazelle sind es 26 Zähne die ich jetzt alle gebrauche.
Auf dem Basaltdeckel: neugepflanzte Setzlinge auf alten Fichtenschonungen. Was wie eine zufällige Leerstelle wirkt, wird sich über die gesamte Fahrt hinweg zeigen: die lautlose Katastrophe des toten Waldes. Als Kind der 1980er erinnere ich mich genau, wie der Angstbegirff Waldsterben über uns kam.
Man sah so gar nichts davon, dabei war es in aller Munde. Der saure Regen als Heimsuchung von oben, Bilder dazu stammten aus dem Harz oder dem Fichtelgebirge. Das Sauerland dagegen strotzte nur vor dunklen Tannenwäldern. Jahre später erklärte mir ein Journalist der Zeit, was agenda setting sei, daß Themen sich als Wellen aufbauen und selbst verstärkten: als Medienprofi mußtest Du folgen, auf dem Kamm surfen. Es ginge weniger um Erkenntnis, Aufklärung oder gar Wahrheit. Es gehe um das Besetzen von Themen – Aufmerksamkeit also. In jender Zeit kam Der Spiegel auf fast 300 Seiten, die Wochenausgabe der Zeit, dicht bedruckt, war armdick, wir waren jung und unbekümmert.
Nach rund 2 Stunden beginnt der Abschied aus dem Westerwald, links erkenne ich kurz das Siebengebirge, die Luft ist rein und klar, der Wind angenehm frisch für die lange Abfahrt zur Sieg darf die Jacke bleiben.
Manche Kirchen sind nicht immer als solche zu erkennen.
Hinter Wissen, die erwartete Agip, das erste Koffein für diesen langen Tag.
Ein Flachbildschirm zeigt alte amerikanische Serien, deren Kunstlicht Gefängnisatmosphäre verströmt – die Werbung ist unbeschreiblich stumpfsinnig. Frauen waschen, Männer fahren Auto. Wir brauchen Deos, weil wir alle wie irrsinnig Sport treiben.
Noch eine Frikadelle eingesteckt, wie vor zwei Jahren. Sie kommt vom Fleischer, wird mit Senf gut verdaut und hält lange – also die nächsten 100 km – vor. ich bin jetzt in Nordrhein-Westfalen. Auf das lange Tal vom Wisser Bach folgen die ersten Hügel des Bergischen Landes –
Sie fahren sich wunderbar angenehm. Gleichmäßige Steigungen, wenige Automobile, nette Kühe.
Kurz eine Höhenstraße, einen weiterer Anstieg (schon etwas schärfer) und dann geht es nach Gummersbach hinunter. Die Stadt wird nur gestreift, gerade der verzerrte Kirchturm durch eine Schallschutzwand erspäht. Die Fahrt kostet keine größere Mühe, Täler schützen immer wieder vor dem bremsenden Nordwest. Bergisches Land.
Die Aggertalsperre unter grauem Himmel – wir sind mitten in den Schulferien hier – dennoch kaum größerer Andrang; ein standup-paddler versucht sich auf der kräuselnden Oberfläche, hier und da der bunte Punkt eines Campers. Ein alter deutscher Sommertag im Juli. Kommt mir sehr entgegen, es ist der kommende Anstieg, den ich eher fürchte, ein gewundener Weg im Wald –
den es schon nicht mehr gibt. Der Abzweig, für den ich den 26er auflege. Ohne Eile hinauf.
Oben im Dorf: dieses (restaurierte) französische Automobil verkörperte in Deutschland die Ideologie einer ganzen Generation, diente als Sehnsuchtskörper des leichten, schönen und freien Lebens nach der Natur. Ein historischer Irrtum. Denn dieser Wagen wurde entwickelt, um die arme und darbende Landbevölkerung von den Strapazen ihrer harten körperlichen Existenz zu befreien, ihre Produkte nicht mehr zu Markte zu tragen sondern zu fahren Es war einfach die günstige und praktische Form einfachster individueller Mobilität, bevor es dann zum ersten lifestyle Vehikel des europäischen Kontinents aufstieg. Das Konzept aber könnte heute eine Rückkehr zur neuen, notwendigen Einfachheit verkörpern: leicht, robust, sparsam, langlebig.
Ein anderes Denkmal der Mobilität wird auf dem Weg nach Piene (genau:wie Otto Piene) unterquert. Eine Brücke der A45, die noch nicht der Überlastung durch den Verkehrsstrom zum Opfer gefallen ist. Ein ganz allmählicher, zäher Anstieg. Hier wechsle ich die Seiten der A45: denn diese große Runde mich parallel an der A45 entlang – einmal an der Westseite hinauf, dann an der Ostseite hinunter. Dafür fast ohne Brücken.
Die nächste Talsperre entlang, graues, kräuselndes Gewässer. Gut gefüllt. campingsiedlungen nehmen stückweise den hang ein. Die Kilometer werden geschluckt, solche Einsamkeit läßt sich aushalten, Menschen hie und da vereinzelt. Automobile spärlich und umsichtig.
Unter eine Förderanlage hindurch: besonders holpriger Straßenbelag. Hier produziert die BAG Schotter für den Straßenbau. Der Schuster läuft in den löchrigsten Schuhen; herumsthende, abrißreife Gebäude zeugen von der infrastrukturellen Bedeutungslosigkeit der Gegend
Noch den Biggesee seitlich mitnehmen und ein dann nach der letzten Welle hinunter zur Ruhr nach Attendorn. Die bekannte Schieferzwiebel des Kirchturms grüßt zentral – wir bleiben auf der Außenseite der Ruhr.
Zwischenbilanz: Cappuccino kostet hier 3 Euro und 10 cent. Kaum mehr als das Chicken Tiryaki – sandwich. Denken sie mal darüber nach. Gleich neben der Tankstelle fließt gemächlich die Ruhr entlang und gemächlich tauchen hier und da Radwanderer auf. Einer von 10 fährt nur dank Muskelkraft .
So erklärt sich diese selten aufwendige Luftstation für Radler, die alle Ventiltypen der Erde bedienen kann. Kurz geprüft: nein, die 25mm slicks sind prall, rollen geschmeidig. Es kann so weitergehen.
Ein paar Vorräte einstecken, jetzt beginnt der lange, entbehrungsreiche Weg durchs Siegerland. Die Mischwälder werden vom Nadelholz abgelöst. Ungefähr 80 Kilometer werde ich mich nach Südosten von einem Tal zum nächsten hangeln, bis der Höhepunkt der Fahrt, die Hainicher Höhe, dem Übergang aus dem Rothaargebirge.
Links und rechts : immer wieder das gleiche Bild, sobald ich aus den Tälern hinaufsteige. Bodenraspel und Holzstapel.
Und die Anstiege, die sich als anspruchsvoll eingeprägt haben, kommen schneller als gedacht. Dieser schöne Name : Apollmicke. Nackt steht der Hang jetzt in der Sonne. Die härtesten Meter (gerade hinauf, steil und steiler) liegen gnädigerweise im Schatten. Schweiß fließt jetzt spürbar
Kaum ist die holprige Abfahrt verdaut, geht es bald Richtung Littfeld, auf die in Prozenten schärfsten Steigung der Fahrt. Ich esse, trinke und nähere mich mit Respekt. Alles wirkt zunächst harmlos. Ein Elektrobiker zieht mit klingendem Spiel vorüber, wo ich vorsichtig mit 26er im Wiegetritt hinaufziehe. Kerzengerader Weg, die Steigunsprozente nehmen mit jedem Meter zu. Klug ist es nicht, 28 Z oder mehr sparen auf Dauer spürbar Kraft.
Doch man kommt an und ganz kurz stelle ich das Rad am Gipfelgerüst ab. Hier ist Halbzeit. In meiner Erinnerung war die Mehrzahl der bösen Anstiege bewältigt. (Was leider nicht stimmt)
Erst nach Netphen wird es beschaulicher – dort folge ich der Sieg und dann dem Flüßchen Werthe, stetig und langsam aufwärts, Sonne strahlend von oben rechts. Immer wieder kleine Unternehmen die ich als Bekannte passiere. Muß daran denken, gut zu trinken, viel ist nicht mehr drin. Links verliert sich die Straße ins Rothaargebirge, ich werde es streifen und mit Abstand grüßen.
Die Hainicher Höhe, der finale große Anstieg des Tages, von dem der Blick sehr weit nach Norden auf die zurückgelegte Strecke geht. Bläuliche Landschaft, die gerade gemähten Weiden, die süßlich nach Lakritz riechen, immer wärmer duftet der Sommer.
Oben dann: geschorene Kuppen, die gerodete Hänge, die Forstglatze
Immer wieder an immer neuen Stellen und immer noch stehen tote Bäume herum.
In der Fahrt über die Hainicher Höhe kommt mir noch ein Traktor entgegen, der Holz geladen hat. Ist nicht der Erste heute. Sie holen alles heraus, um nicht auf das teure Öl oder das knappe Gas diesen Winter angewiesen zu sein. So bin ich Zeuge einer doppelten, lautlosen Katastrophe, und irgendjemand wird einmal die kahlgerodeten Oberflächen zusammenzählen, die erst in 20 jahren wieder Wälder werden wachsen. Wobei zu klären wäre: welche Wälder? Was wächst hier noch, wo es immer trockener und wärmer wird? Unweigerlich kommen mir die gerodetetn Wälder Oregons in den Sinn, denen der Photograph Robert Adams ein Denkmal gesetzt hat. So schnell kann es gehen.
Die große Abfahrt nach Ewersbach hat begonnen, fast 10 Minuten schnelles Rollen. Genug Zeit zur Erholung , genug Zeit, um über den nächsten Stop nachzudenken. Vor den zwei Hindernissen, die noch zwischen hier und Gießen liegen, muß dringend nachgetankt werden. Da!!, beim sanften Rollen geschieht es, es ist ein kurzer, trockener Schlag. Das typische geräusch einer gerissenen Speiche.
Km 200. Hier stehe ich am räudigsten Edeka. Das Hinterrad eiert gewaltig, da sich aber Eingelenker weit öffnen lassen, steht die bremse nicht im Weg. Während ich eine komplette Orangina schlucke, Trockenobst und salzige Nüsse kaue, muß ich mir meine Gedanken machen. Es ist schon so, daß 35 Speichen halten können, solange die anderen nicht anfangen nachzugeben.
Jetzt keine unnötigen Belastungen. Also gerade Strecken wählen, keine scharf gefahrenen Kurven, kein Wiegetritt. Vielleicht auch nicht mehr das größte Ritzel auflegen, das der Nabe am nächsten kommt und beim Tritt die höchste Belastung ausübt. Das Ziel 300 Kilometer muß ich aufgeben, dann werden es nur 250. Gießen bleibt links liegen. Die große Straße an der ich stehe, führt direkt nach Dillenburg, ins Tal der Dill. Eine breite Straße, die auf der Höhe der Nirosta-Walzwerke sechsspurig wird. . .
Einen offenen Radladen sehe ich an diesem Samstagnachmittag nicht „wir sind heute auf der Interbike“, unterdessen rollt die Maschine ganz erträglich. Nach dem ersten Schreck wächst die Zuversicht. Das Rad eiert, aber es wird nicht schlimmer. Dennoch ein seltsames Gefühl, darauf angewiesen zu sein. Denn mit den zwei kleinen Lokalbahnen (Dill und Lahn) wird es – wenn überhaupt – nicht unter 4Stunden gehen und dann bleiben immer noch viele Kilometer Wanderung bis ans Ziel. Aber solange es rollt, rollt es.
Nicht auf einen Zug warten, sondern über den Westerwald auf kürzestem Wege heim. In Herborn den Beilsteiner Anstieg beginnen. Schonend, gleichmäßig, langsam tretend, auf keinen Fall reißen. Die Nachmittagssonne ist angenehm, die Kalorien im Blut. Der Weg ist noch weit, Es muß gelingen, die Pedale müssen gestreichelt werden. Auch ein Training
Und irgendwie geht’s, Welle um Welle, mit jedem Meter wächst das Vertrauen, während die Sonne immer milder scheint. Volle Talsperren waren dem kleinen Radfahrer ein Trost
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