Kurz nach Neun ist es jetzt und die Fahrt geht in die dritte Stunde. Das kleine Halstuch, das mich in der Frühe gegen die Frische der Bachtäler und den Wind in den Abfahrten geschützt hat ist nun zuviel, ich lasse es am Lenker flattern, während es Kurve um Kurve, Meter um Meter hinauf zur Wasserscheide zwischen Schelde und Lahn rollt. Es lüftet aus aus, bevor es in die Trikottasche hinten links kommt. Mit diesem sanften Anstieg –
werde ich ihn hinter mir lassen, den Westerwald, den Scheldewald und dann, auf dem Weg nach Norden, ein letztes mal die Lahn überqueren.
Heute, das ist mitten im August, einem langen, trockenen und heißen August. Wochen ohne Regen, die nächsten Tage werden es auch sein; angenehm kühl macht es der Nordostwind in der Nacht und am morgen, und hier in den baumgeschützten Stücken der Wälder, habe ich mit dem lästigen Gefährten Gegenwind wenig zu schaffen.
Als die Glocke an diesem Kirchturm 7 schlug, war ich auf dem Weg zum Höhenzug des Westerwald unterwegs, alles grün und würzig und es gab nur ein paar Rinder zu grüßen.
Schlag 8 den alten Kern von Herborn erreicht, eine unversehrte Stadt, gewachsen und nach außen zersiedelt, das Tal fast völlig okkupiert von vierspuriger Straße, Autobahn und Eisenbahn. Drei Damen öffnen einen Juwelierladen – lange vor Publikum.
Auf einem Spielplatz neben den Juno-Werken ein entkernter Traktor, an dem die Lastwagen der großen Straße achtlos vorbeirauschen… Stahlmaschinen, Gußeisen, Feuer und Hitze.
Und jetzt die immer grünere Lunge des Scheldetals. Ein ruhiges kleines Tal, sanft und grün der große Reichtum mitten unter uns, unser Begleiter am Wegrand, das Schutzdach, das mit uns wächst und atmet. Das Hirzenheiner Diabas- Massiv kommt näher, eine noch ältere Gesteinsformation als der Basalt. Die Lahn macht einen großen Bogen darum – Biedenkopf, markburg, Gießen – ich zwischendurch nach Nord.
Mit einer langen sanften Abfahrt erreiche ich das weite Lahntal um kurz nach zehn, Zeit für ein zweites Frühstück. Letzte Weiden werden gemäht – die nächsten Monate werde ich kein frisches Heu mehr riechen.
Ich bin auf der ersten Etappe einer Fahrt, die mich nach Berlin führt. Zwei Tage habe ich mir eingeteilt: am ersten 240km, morgen 330. Der zweite Abschnitt verläuft flacher, es ist eine Sommerexpedition, eine Art Brevet für mich selbst.
Der Navigationsalgorhythmus von komoot hat diese Tour für „rennrad“ geplant, damit es nicht auf allzu holprige Wald und Forststrecken geht – und ich habe nach Kräften auf dem Bildschirm nachgeholfen, die Strecke nochmals und nochmals zu verbessern. Doch Überraschungen wird es – ja muß es geben, wo wäre sonst der Kitzel? Auch wenn es nur Hügel sind, werden über 3500 Höhenmeter überwunden, die meisten am ersten Tag:
Das stabile Sommerwetter erlaubt mir, so gut wie keine Schutzkleidung mitzunehmen. Sollte es regnen, hilft eine zweite Ausrüstung und eine leichte Reflexweste mit Reißverschluß. Heute trage ich das etwas wärmere von beidenTrikots, erst morgen sollen es deutlich über 30 Grad werden. Über Nacht werden die im Becken gewaschenen Sachen ohnehin trocken. Ich fahre ein altes Rad, aber die Wäsche braucht nicht mehr aus Wolle zu bestehen.
Das Gents –Touring von 1983 ist kein leichtes Rad und die Schutzbleche sind sicher überflüssig für diese Unternehmung, trotzdem wähle ich dieses eher unauffällige Eisen von 12kg Leergewicht. Gesattelt und gezäumt macht es an die 15kg, wenn nicht mehr, wenn die Trinkflaschen voll sind. Außer der Lust am Experiment gibt es Vernunftgründe für diese Maschine
Dieses Koga Vom Beginn der 80er Jahre ist ein sehr laufruhiges Gerät, auch unter Beladung stabil bei jeder Geschwindigkeit. in allen Abmessungen ist dieses 63er Rad etwas größer und länger, aber nur etwas. Ich habe keine Hemmungen, in Fahrt den Lenker loszulassen, sauber hält es die Spur : auch in den schnellen Kurven der Abfahrten. 7 Gänge sind genauso viele wie ich brauche und die leichtgängige, gerasterte Schaltung läßt sie auch bei Erschöpfung sicher finden. Kein reines Rennrad mehr, aber doch noch präzise genug zu steuern, kein träger Dampfer, der mit Gepäck herumschlingert.
Nach dem herzhaften zweiten Frühstück habe ich ausreichend Grundlage für die nächsten zwei Stunden. Auf Riegeln allein läßt sich nicht fahren.
Über die Lahn. Die Wälder sind zuende, jetzt beginnt das wogende nordhessische Land unter hoher Sonne. Von der Kappe tropft es hin und wieder. Doch die Steigungen sind gnädig, die Dörfer urig, der Rhythmus passt, komoot hat gute Arbeit gemacht.
Es geht über kleine Dörfer und abgeerntete Felder in Richtung Frankenberg und Ederstausee. Der deep state hat begonnen –ein Agrarland, durch das unbeteiligt kreuz und quer die Lastwagen donnern.
Die Felder mattgelb, darauf die Rollen des Strohs, alles vom Nordost gebürstet, der mir das Leben schwer machen will. Die nächsten Windräder sehen mir zu und rotieren, während ich kurbele.
Viele Kilometer Bundesstraße sind es nach Korbach Ederstausee – manchmal ist auch der Radweg eine passable Lösung – aber meistens ziehe ich ihm das schmale Aspahltband rechts neben dem weißen Streifen vor, das die gnädige Teermaschine übriggelassen hat. Nicht nur weil es besser rollt, sondern auch, weil ich den Sog passierender laster gern mitnehme. Nur so machst Du Meilen.
Den Ederstausee gleicht eher einer Furt und wird nach 130 km überquert dann kommen die Waldecker Gefilde und andere Teile des endlosen Mitteldeutschen Landrückens, auf den die Mittagssonne immer intensiver niederscheint. Gleich Korbach
In Korbach mit den rettungssanitätern an der Salattheke des REWE. Außer uns tragen so gut wie alle in diesem Laden eine Maske. Ich vermute einen Seuchenherd im ansässigen Continentalwerk? Vielleicht ticken die Uhren auch anders hier. However: mögen sie noch lange Fahrradreifen produzieren, ich kann sie gebrauchen. Den Korbach kurz gesegnet und weider mit Vorräten hinaus.
Rundherum nur Wald und Feld, eine unendliche Folge abgeernteter Getreidefelder, überall hängt der milde Staub in der Luft, die eindeutig gegen mich strömt. Die Kirchen sind (wieder?) in katholische Hand gewechselt. Wo Boden gut ist, wird leider an Bäumen gespart. Der Blick geht weit über die Bördelandschaft, die satt und gleichgültig den durstigen Radfahrer empfängt. Kämpfe mich durch die fruchtbare Öde und das Diemeltal bis
Peckesheim, km 190 ein Dorf in den Feldern. Da es sicher niemand in den letzten hundert Jahren erwähnt hat, mach ich es hier. Absolute Auguststille. Tankstelle am Ortsausgang, sehnsüchtig erkenne ich die roten Buchstaben der Preisanzeige von weitem.
Jetzt hier: Cola, toppifrutti, Mineralwasser, die drei Nothelfer wirken schnell, während ich mich im klimatisierten Raum der „star“ auf die Landkarte konzentriere: Grob Richtung Beverungen, dann Höxter. Gefühlt nicht mehr allzuweit – die Straße neigt sich sanft hinab, es rollt weider wie zur ersten Stunde.
Ich entdecke eine weitere Variante Deutscher Landschaft – sehr sanfte Hügel, zunehmend Alleebäume und üppige Laubwälder ringsum. Ein tiefer Frieden geht von allem aus und irgendwo unten fließt ein ruhiger Strom: die Weser. Ein großer Park. die Kalorien der Tankstelle haben ein kleines Hochgefühl erzeugt, das eine Stunde anhält. Alleen, Alleen – sie versüßen die Anstrengung.
Am Ende der langen, geraden Landstraße entlang der Weser Höxter – eine Kirche mit Zwillingsturm aus dunkelrosanem Stein, herb und schlank. Rundum Fachwerk, Weserpromenade und Innenstadt werden neu und aufwendig gepflastert. Ich schiebe also durch Höxter. Es kostet mich Zeit , aber nun komme ich ja an. Diese Stadt wirkt eigentümlich intakt und nicht verwahrlost wie so viele, die ich sehe. Gibt es vielleicht ein Förderprogramm „die Westdeutsche Innenstadt um 1980“? Eintritt Frei in Höxter.
Die Weser begleitet träge und zufrieden meine letzten Kilometer nach Holzminden,. Ich feiere mit wilden Brombeeren in der Weseraue meine Ankunft in niedersächsische Gefilde. Nicht alle sind durchweg reif, aber der unvergleichliche Geschmack und Duft der Hecke macht die paar Fehlfarben wett.
In Bevern, nur wenige Kilometer weiter, wartet mein Herbergsvater für die Nacht – aus der Bruderschaft der Radfreunde. Einmal frug er, wie ich es stundenlang allein aushielte. Man muß die Dinge immer vom Ziel aus denken, den Faden aufspulen.
Gleich nach dem großzügigen Schloß, (in seinen Stallungen ein ReweMarkt ), werde ich auf das alte Bauernhaus treffen, das unter Liebhabern von Stahlrädern einen ausgezeichneten Ruf besitzt. Leicht zurückgesetzt von der Hauptstraße wartet es seit Jahrhunderten auf die nächste Ernte.
Andreas Berthoud, der Tischler vom Landschulheim am solling erwartet mich hinter diesem Tor mit einem Einbecker Pils
Herrlich. Christoph, danke fürs Mitnehmen 🙋♂️
In Höxter war ich vor 3 Wochen, die Stadt richtet nächstes Jahr die Landesgartenschau aus, da wird jetzt geputzt.
Und du warst nicht in Schloss Corvey? Schade, da hast du was verpasst.
Da schau her – alles hat seinen tieferen Sinn. Corvey habe ich gestreift, es ist ja kaum zu übersehen, Park und Allee nehme ich mir ein andermal vor. Danke für den Hinweis
Park und Allee? Die Kirche ist Welterbe! Gebaut 822, Jubiläumsjahr!