In den schmiedeeisernen Zaun ist das neue Logo eingelassen, die Buchstaben LSH in einem Kreis.
Das Landschulheim am Solling ist ein Komplex mehrerer Gebäude, den wir durch eine Allee betreten, mein Guide Andreas Bèrthoud und ich. Es liegt oberhalb von Holzminden, ein paar hundert Meter, hangaufwärts hinter der letzten Siedlung gepflegter Einfamilienhäuser.
Wäre es keine Schule, könnte man diesen Campus auch für eine Tagungsstätte oder ein Sanatorium halten. Nur die Hinweisschilder und ein Sportplatz mit authentischer Aschebahn lassen keinen Zweifel aufkommen.
Ich folge Andreas Berthoud, dem Tischler des Internats. Es wurde einst von Herrnhutern in Anlehnung an die Reformpädagogik gegründet, also im Unterschied zur ganz überwiegend autoritären, wenig toleranten „Pädagogik“ der preußischen Lehranstalt. Diese Unterschiede haben sich nach dem Kriege zwar verschleift, ein Hinweis aber lohnt dennoch: ganzheitliche Pädagogik und religiöse Toleranz sind formell zwar Verfassungsgrundsatz, die Wirklichkeit deutscher Schulen dürfte bedeutend nüchterner aussehen. Hier ist immerhin ein idealer Platz dafür.
Michael Holzach – einstiger Schüler des LSH – war ganz und gar kein nüchterner Mensch. Der Autor von Deutschland Umsonst, hatte als Journalist zuvor ein Jahr unter Hutterern (Das vergessene Volk, dtv) in den Vereinigten Staaten gelebt und mit seinem Bericht Aufsehen erregt. Diese Form des egalitären Kommunitarismus, man könnte von christlichen Fundamentalisten sprechen, war für die Generation der sogenannten 68er, also auch für Holzach, die Möglichkeit einer idealen Lebensform, deren Grenzen er aber klar erkannte. Wie so viele Kinder des Nachkriegs blieb er ein Suchender, dem das gesellschaftliche Ziel alternativer, nachhaltiger und egalitärer Lebensformen ein ganz persönlicher Wunsch war: eine Folge der vielen Brüche in der Deutschen Erfolgsgeschichte nach dem Kriege.
Diese Schule formte ihn nicht nur als als Person, sie sollte am Ende zum Lebensziel werden, nachdem sein Bericht über die Wanderung durch Deutschland ihn schlagartig bekannt gemacht hatte. Doch kurz bevor er seine Stelle als Gärtner antreten konnte, ertrank er, weil er seinem Hund in die Emscher nachsprang.
Hier liegt er jetzt begraben, auf dem kleinen Friedhof der Schule, dessen in Efeu gefasste Gräber eine schmucklose Sandsteinplatten ziert. Beinahe ein Soldatenfriedhof.
Der Tischler, mein Radgenosse, erzählt, die Gärtnerei sei zwar neulich von einem sehr guten Kollegen besetzt worden, das schulische Interesse aber verschwindend gering. Die Beete stünden verwahrlost, es gäbe kaum Interesse – genauso wie für Kurse in Tischlerei. In 8 Monaten geht er in Rente .
„Es ging immer nur um Anmeldungen und Zahlen . . .“ Armes reiches Land, denn ein Landschulheim kann sich nicht jeder leisten. Inzwischen müssen auch die Kinder der Wohlhabenden sich armortisieren.
Der Gedanke der Nachhaltigkeit, der Ganzheitlichkeit etc. hat zwar die Parlamente erobert und die öffentliche Rede -in der Realität zielstrebiger Internatsschüler aber spielt er vermutlich eine geringe Rolle. Die Holzachschen Selbstversuche, ebenso wie Pilgerreisen in den Ashram sind Geschichte. Im Zeichen der Krise, wenn das Boot leck schlägt, gilt es die wenigen trockenen Plätze zu sichern. Weiter unten hinter den Gebäuden schimmert der Sand eines Reitplatzes – der ist neu. Lange schon verteilt der Lehrer keine Schokolade mehr für den (oder die Ersten), die im Frühjahr kurze Hosen tragen.
So verlassen wir beiden Holzach-Pilger diesen ferienruhigen Ort (sahen nur 1e einzelne –Schülerin?) und fahren durch die Siedlung, Panoptikum deutscher Eigenheime aus dem 20.Jhdt . – zurück nach Bevern. Es ist ein milder, schöner Augustabend mit gutem Gespräch…
Michael Holzach der verlorene Sohn und Andreas Berthoud – sie wären jetzt vielleicht noch Kollegen .
Während ein beinah voller Mond über dem Solling aufsteigt, schlafe ich ein. Morgen geht es weiter durch Deutschland. Mitten hindurch.
Weiter geht es. Ich bleibe neugierig
Gestern schrieb ich zu Corvey, und weil es heute um Gräber geht: in Corvey liegt Hoffmann von Fallersleben. „Die blanke Noth zwang mir die Feder in die Faust!“
Information aus sicherer Quelle: wichtiger denn je.